Raum und Zeit
Raum und Zeit. Alles, was wir wahrnehmen und uns vorstellen, versetzen wir in Raum und Zeit. Bei jedem Ereignisse fragen wir, wo und wann es geschehen ist. Der naive Mensch findet dabei nichts Auffallendes, während der Philosoph damit auf eines der schwierigsten erkenntnistheoretischen und psychologischen Probleme stößt. – Zunächst ist klar, daß wir uns die Dinge, wenn wir sie in Raum oder Zeit versetzen, als Glieder einer Mannigfaltigkeit nebeneinander oder nacheinander vorstellen. Jenes geschieht bei den sogenannten Außendingen, dieses bei allen Veränderungen der Außen – und Innenwelt. Überlegen wir nun, was wir uns eigentlich unter Raum und Zeit vorstellen, so ergibt sich, wenn wir von allem abstrahieren, was in Raum und Zeit gedacht wird, daß wir uns den Raum als eine Form der Gegenstände und die Zeit als eine Form des Geschehens vorstellen. Für das naive Denken existieren diese Formen als etwas Selbständiges, vor dem Inhalte Fertiges und auf diesen Wartendes, der Raum als ein ungeheures Gefäß, welches alles umschließt (etwa eine Kugel), (vgl. Aristot. Phys. IV, 4 p. 212 A 15 ho topos angeion ametakinêton), die Zeit als der stetige Übergang von dem, was war, zu dem, was sein wird, als ein sich selbst bewegender Fluß. Jenen denkt man sich durch drei rechtwinklige Abmessungen von einem Punkte aus bestimmt, diese als eine immer entstehende, aber nie daseiende Linie von einer Dimension.
Nun lehrt aber die Erkenntnistheorie, daß die ganze Außen – und Innenwelt uns zunächst in unserem Bewußtsein gegeben ist; Raum und Zeit sind trotz aller Beziehung zum Wirklichen also nicht etwas, was den Dingen unabhängig von unserem Bewußtsein angehört, sondern wie jede Verbindungsform der Vorstellungen aus der Tätigkeit des Subjekts entspringt, so sind auch sie nur unter Voraussetzung eines Subjekts, das zur Wirklichkeit in Beziehung tritt, vorhanden. Diese Lehre von der transzendentalen Idealität von Raum und Zeit, die Kant (1724-1804) in seiner Kritik der reinen Vernunft (1781) und schon vorher (1770) aufgestellt hat, muß jetzt zu den gesicherten Resultaten der Erkenntnistheorie gerechnet werden. – Raum und Zeit scheiden sich nun bestimmt und klar von den Qualitäten der Empfindung; sie sind die extensiven Formen, in denen sich die Elemente der Empfindungen unmittelbar und in fester Ordnung zueinander, sowie auch in Beziehung zum Subjekte verbinden. Solche Formen sind aber nicht selbst Empfindungen. Und weil sie nur Verbindungsformen von Empfindungen, Wahrnehmungen und Vorstellungen sind, können sie auch nicht unmittelbar als Wahrnehmungen oder Vorstellungen gegeben sein. Man kann sich den Raum zwar von allem Inhalt getrennt als absoluten oder reinen unendlichen Raum und die Zeit als leere unendliche Zeit denken, und die Mathematik stellt die ideale Forderung, sie sich so zu denken; aber jede wirkliche räumliche und zeitliche Vorstellung und Anschauung eines einzelnen Subjekts schließt trotzdem einen, wenn auch noch so verblaßten Empfindungsinhalt in sich ein. Der reine Raum und die reine Zeit wird niemals wahrgenommen oder vorgestellt, sondern nur gedacht. Andrerseits besteht gerade das Wesen der Verbindungsformen, die uns in Raum und Zeit vorliegen, auch darin, daß die Empfindungen sich unmittelbar und assoziativ ohne unseren Willen und unsere Aktivität mit einem gewissen Zwang, den wir erleiden, in sie hineinfügen, und daß diese Formen dann von den Wahrnehmungen aus durch Reproduktion in die Vorstellungen übergehen. Raum und Zeit haben darum empirische Realität und sind als sinnliche Formen der Anschauungen zu bezeichnen. Sie sind keine begrifflichen Formen und sind etwas stets Einzelnes, nie schlechthin Allgemeines. Sie wollen also wahrgenommen und vorgestellt, aber nicht nur gedacht sein. Nur gedachte Räume oder Zeiten sind keine Räume und Zeiten mehr. Absolute unendliche Räume und Zeiten sind also nichts weiter als Abstraktionen, die in Wahrheit nie vom Subjekte erreicht werden und nur als letzte ideale Forderungen der Philosophie und der Mathematik vorhanden sind. Mit Recht hat also Kant Raum und Zeit von den Kategorien (allgemeinen Begriffsformen) geschieden und als sinnliche Formen der Anschauung bezeichnet und ihnen empirische Realität zugeschrieben. – Die Frage ist nun weiter, ob sie als fertige Formen in der Seele liegen oder sich von Fall zu Fall aus den Empfindungen und Vorstellungen des Subjektes entwickeln. Jene Ansicht, die nativistische, wird Kant oft fälschlich zugeschrieben. Das beruht aber nur auf einem hartnäckigen Mißverständnis der Lehre Kants. Kant bezeichnet 1770 Raum und Zeit ausdrücklich als „ursprünglich erworben“, nicht als angeboren, und in der Kritik der reinen Vernunft (1781) findet sich nichts, was dieser Annahme widerspricht oder eine Änderung der Ansicht Kants andeutet. Das Apriori hat bei Kant nicht die Bedeutung: „angeboren“, oder „fertig im Bewußtsein gegeben“, oder „vor aller Erfahrung gegeben“, sondern es hat nur die Bedeutung: „aus der Quelle der Vernunft, nicht von außen her entstehend“. Das Apriori kann sich somit in der Erfahrung und durch die Tätigkeit des Bewußtseins selbst erst entwickeln und bilden. Kant ist also bezüglich der Lehre von Raum und Zeit kein Nativist, wofür er häufig gehalten wird. Er hat zwar keine genetische Raumtheorie aufgestellt, aber sie läßt sich der Kantschen Lehre ohne Widerspruch hinzufügen. -