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Raum und Zeit

〈Raumvorstellungen〉

Es kann nun mit Raum und Zeit nicht anders stehn als mit unserem gesamten Bewußtseinsinhalt. Er entwickelt sich erst im Leben innerhalb der Erfahrung und wird schrittweise erworben ; und nur die Anlage zur räumlichen und zeitlichen Einordnung der Empfindung ist ein Besitz, den wir durch Vererbung auf der Stufe des höheren tierischen und des menschlichen Lebens bereits überliefert erhalten. – Wenn nun aber alle räumlichen und zeitlichen Vorstellungen sich erst innerhalb unserer sinnlichen Tätigkeit auf Grund der vorhandenen Anlagen entwickeln, so kann allerdings die Erkenntnistheorie die Idee einer strengen Allgemeinheit und Notwendigkeit der uns bekannten Zeitund Raumgesetze, wie sie Kant aufgestellt hat, nicht aufrechterhalten. Raum und Zeit entstehen mit unseren Vorstellungen von in der Wirklichkeit gegebenen Objekten und haben nur den Wert und die Bedeutung des Tatsächlichen. Die Mathematik, soweit sie aus diesen Vorstellungen hervorgeht, insbesondere die Geometrie, beruht auf Tatsachen und ist in ihren Fundamenten ebenso empirisch wie jede Wissenschaft. Aus dem Begriffe der Sinnlichkeit, Empfänglichkeit, Rezeptivität oder Verbindung läßt sich nie Raum und Zeit in der uns gegebenen Form ableiten, nie zeigen, daß Raum und Zeit so beschaffen sein müssen, wie sie sind; und der Gedanke der Möglichkeit anderer Räume und Zeiten wie die unsrigen läßt sich sehr wohl fassen, und wenn auch nie in Anschauung übersetzen, so doch mathematisch bestimmen und durchführen (s. Metamathematik). Alle geometrischen Lehrsätze haben also nur eine beschränkte Apodiktizität. Die spiritistische Phantasterei, einen mehr als dreidimensionalen Raum als wirklich gegeben anzunehmen, ist natürlich andrerseits durch nichts gerechtfertigt, und alle experimentellen Versuche ihn nachzuweisen sind Gaukelspiel und Betrug. Es gilt aber noch heute der Satz, den Gauß am 9. April 1830 an Bessel schrieb: „Nach meiner innigsten Überzeugung hat die Raumlehre zu unserem Wissen der selbstverständlichen Wahrheiten eine ganz andere Stellung als die reine Größenlehre; es geht unserer Kenntnis von jener durchaus diejenige vollständige Überzeugung von ihrer Notwendigkeit (also auch von ihrer absoluten Wahrheit) ab, welche der letzteren eigen ist, wir müssen in Demut zugeben, daß, wenn die Zahl bloß unseres Geistes Produkt ist, der Raum auch außer unserem Geiste eine Realität hat, der wir a priori ihre Gesetze nicht vollständig vorschreiben können.“ Die Lehre von der transzendentalen Idealität des Raumes findet also erst ihre Ergänzung in der recht verstandenen und richtig gewendeten Lehre von dem empirischen Ursprunge von Zeit und Raum, mit der allerdings das Apriori im Sinne Kants als das Notwendige, Allgemeine, aus reiner Vernunft Stammende fällt und nur im Sinne der Entwicklungslehre bleiben kann. Aus den Bedingungen unserer geistigen und physischen Organisation hervorgehend, entstehen Zeit und Raum mit der Entwicklung des Empfindungslebens. Als Bewußtseinsformen sind sie nicht unmittelbar etwas Wirkliches, aber sie gehören zu dem Objektiven in unseren Vorstellungen, eben weil sie unmittelbar mit den Empfindungen verknüpft sind und die Einordnung in sie ohne Willkür und unter einem gewissen Zwange erfolgt. Im besonderen vollzieht sich die Entstehung der Raum- und Zeitvorstellung im Subjekte nach Wundts genetischer Verschmelzungstheorie, die an Lotze und v. Helmholtz anknüpft und der nativistischen Herings (geb. 1834) entgegengesetzt ist, in folgender Weise: Die Raumvorstellung ist nicht eine ursprüngliche Eigenschaft der einzelnen Empfindungselemente, wie es die Intensität und Qualität der Empfindungen sind, sondern sie setzt ein Zusammensein der Empfindungen als Bedingung voraus und ist die Form fester Ordnung der Sinnesqualitäten. Sie entsteht aus den Funktionen zweier Sinne, des Tastsinns und des Gesichtssinns, ist also die Form der Ordnung der Tastempfindungen und Lichtempfindungen. Der Blindgeborene erwirbt sie nur durch den Tastsinn, der normalsehende Mensch in ihrer feineren Ausbildung mehr durch den Gesichtssinn als durch den Tastsinn. Die Vorgänge, die beim Zustandekommen der Raumvorstellung durch den Tastsinn stattfinden, sind folgende: Ein Gegenstand kommt in Berührung mit dem Tastorgan und ruft eine Tastempfindung hervor. Hierbei bildet sich eine bestimmte Vorstellung von dem Orte der Berührung, die darauf beruht, daß jedem Punkte des Tastorgans eine eigentümliche qualitative Färbung der Tastempfindung zukommt, die von der Qualität des äußeren Eindrucks unabhängig ist. Die lokale Färbung der Empfindung wird das Lokalzeichen (s. d.) der Empfindung genannt. Diese Lokalzeichen oder Ortsempfindungen schließen, jedes für sich, noch keine Raumvorstellung in sich ein. Mit diesen Ortsempfindungen verbinden sich nun aber die Bewegungen des Tastorgans, die von inneren Tastempfindungen begleitet sind. Die einzelne dieser inneren Tastempfindung schließt ebensowenig wie das Lokalzeichen die Raumvorstellung in sich ein. Aber durch die empirisch gegebenen Verbindungen der Empfindungen entsteht die räumliche Vorstellung. Mit je zwei Empfindungen a und b von bestimmter Lokalzeichendifferenz ist stets eine bestimmte, die Bewegung begleitende innere Tastempfindung ß, mit einer größeren Lokalzeichendifferenz a und c eine intensivere Bewegungsempfindung . assoziiert. So ist die aus der Funktion des Tastsinns hervorgehende Raumvorstellung das Produkt einer Verschmelzung äußerer Tastempfindungen und ihrer qualitativ abgestuften Lokalzeichen mit inneren intensiv abgestuften Tastempfindungen, und zwar bilden bei dieser Verschmelzung die äußeren Tastempfindungen die herrschenden Elemente, während die inneren Tastempfindungen hinter ihnen zurücktreten, wie etwa die Obertöne eines Klanges. Die Verschmelzung selbst ist eine doppelte, wenn auch gleichzeitige. Durch eine erste Verschmelzung ordnen sich die Qualitätsstufen des nach zwei Dimensionen geordneten Lokalzeichensystems in ihrem Verhältnis zueinander nach den Intensitätsstufen der inneren Tastempfindung ; durch eine zweite verbinden sich die durch die Reize bestimmten äußeren Tastempfindungen mit jenen ersten Verschmelzungsprodukten. Die äußere Tastempfindung wechselt mit der Beschaffenheit des objektiven Reizes; aber die Lokalzeichen bilden zusammen mit den inneren Tastempfindungen subjektive Elemente, deren wechselseitige Zuordnung bei den verschiedenen äußeren Eindrücken immer dieselbe bleibt, so daß die psychologische Bedingung für die dem Räume zugeschriebene Konstanz der Eigenschaften gegeben ist, die sich in der Lehre von der Verschiebbarkeit und Drehbarkeit der räumlichen Gebilde ausspricht. Die so erworbene Raumvorstellung ist natürlich reproduzierbar und kehrt in Erinnerungsbildern wieder.

Die Eigenschaften des Tastsinns wiederholen sich beim Gesichtssinn, freilich in viel feinerer Ausbildung. Die Netzhautfläche verhält sich analog einem Tastgebiet, übertrifft es aber an Stärke. Auch bei dem Eintritt einer Gesichtsempfindung durch Einwirkung eines Lichtreizes auf die Netzhaut entsteht die Vorstellung eines ihm zukommenden Ortes, mit der aber die räumliche Vorstellung noch nicht verbunden ist; doch erfolgt hierbei die Lokalisation nicht wie beim Tastsinn durch die unmittelbare Beziehung auf den entsprechenden Punkt des Sinnesorganes selbst, sondern wir verlegen, ohne daß wir erklären können, warum dies geschieht, den Eindruck an das außerhalb des vorstellenden Subjektes und in irgend einer Entfernung von ihm gelegene Sehfeld. Mit diesen qualitativen Lokalzeichen des Gesichtssinnes, die mit den einzelnen Zuständen der Netzhaut zusammenhängen, verbinden sich die die Bewegungen des Auges begleitenden, ein intensiv abgestuftes System bildenden Empfindungen. Die Bewegungen des Auges spielen bei der Ausmessung von Strecken des Sehfelds eine ähnliche Rolle wie die Tastbewegungen bei Ausmessung der Tasteindrücke, jedoch so, daß die Bewegungen des einen Auges noch durch die des andern unterstützt werden. Mit der einzelnen Empfindung ist auch hier die räumliche Vorstellung nicht verbunden. Sie entsteht auf Grund der Verbindung der Empfindungen. Die räumliche Ordnung der Lichteindrücke ist also eine Einordnung des nach zwei Dimensionen geordneten Lokalzeichensystems der Netzhaut in ein intensiv abgestuftes System der die Bewegungen des Auges begleitenden inneren Tastempfindung. Für je zwei Lokalzeichen, a und b, ist die bei der Durchmessung der Strecke a b entstehende Spannungsempfindung a ein Maß der linearen Raumgröße, während einer großem Strecke a c eine intensivere Spannungsempfindung je entspricht. So vollzieht sich also auch bei der Entstehung der Raumvorstellung durch die Vorgänge im Gesichtssinne eine Verschmelzung. Verschmolzen werden die in der Beschaffenheit der äußeren Reize begründeten Empfindungsqualitäten, die von den Arten der Reizeinwirkung abhängigen qualitativen Lokalzeichen und die durch die Beziehung der gereizten Punkte zum Netzhautzentrum bestimmten intensiv abgestuften Spannungsempfindungen. Auch hier ist die Entstehung der Raumvorstellung an die Vorgänge selbst gebunden, aber die Raumvorstellung ist ebenso reproduzierbar wie beim Tastsinn. Während aber beim Tastsinn sich die qualitativen Lokalzeichen mit den inneren, durch die Bewegung des Tastorgans verbundenen Bewegungen verschmelzen, verbinden sich beim Sehen die qualitativen Lichteindrücke mit den die Bewegungen der Augen begleitenden inneren Tastempfindungen, so daß hier von einem System komplexer Lokalzeichen geredet werden kann. Die räumliche Lokalisation irgend eines Lichteindrucks erscheint demnach als das Produkt einer vollständigen Verschmelzung der durch den äußeren Reiz bestimmten Lichtempfindung mit je zwei zusammengehörigen Elementen jenes komplexen Lokalzeichensystems, und die räumliche Ordnung einer Mehrheit einfacher Eindrücke besteht in der Verbindung einer großen Anzahl solcher Verschmelzungen, die qualitativ und intensiv nach Maßgabe der Elemente des Lokalzeichensystems gegeneinander abgestuft sind. Hierbei sind die von den äußeren Reizwirkungen bestimmten Empfindungen die herrschenden Elemente, gegenüber denen die Elemente des Lokalzeichensystems selbst zurücktreten.

Die durch den Tastsinn und die durch den Gesichtssinn erworbenen Raumvorstellungen und ihre Erinnerungsbilder ordnen sich ineinander ein und ergänzen sich, und zwar so, daß beim Sehenden die letzteren vorherrschen und uns das Bild der Außenwelt liefern. Sie werden schließlich auf alle anderen Sinnesempfindungen übertragen. (Wundt, Grundriß der Psychologie § 10.)