Raum und Zeit
〈Theorie〉
Die Ansichten der Philosophen über das Wesen von Raum und Zeit haben sehr geschwankt. Die reale Existenz des leeren Raumes nahmen im Altertum die Pythagoreer, die Atomisten und Epikureer an, während die Eleaten sie leugneten. Platon (427-347) setzte Materie und Raum einander gleich. Beide sind ihm ein Nichtreales. Aristoteles (384-322) erklärte den Raum für die erste unbewegte Grenze des umschließenden Körpers gegen den umschlossenen und leugnete den leeren Raum (to tou periechontos peras akinêton prôton tout estin ho topos. Phys. IV, 4, p. 212 A 20). Die Stoiker lehrten die Existenz eines außerhalb der stofflichen Welt befindlichen unendlichen leeren Raumes. – Von den Neueren nahm Descartes (1596-1650) Raum und Materie für identisch, indem er als das Wesen des Körperlichen die Ausdehnung ansah. Für Leibniz (1646-1716) dagegen ist der Raum nur eine verworrene Vorstellung. In der sinnlichen Auffassung erscheint uns die Ordnung der Monaden als Ordnung koexistierender Phänomene. Kant (1724-1804) erfaßte den Raum richtig als sinnliche Form und lehrte seine transzendentale Idealität und empirische Realität. Seine Lehre von der Reinheit, Unendlichkeit und Apriorität der Raumanschauung und Apodiktizität der Mathematik entspricht zwar dem rationalistischen Gesichtspunkte seiner Philosophie, ist aber nicht haltbar. Gegen sie sind von mathematischer Seite triftige Einwendungen namentlich von Lobatschewsky, Gauß, Riemann, v. Helmholtz u. a. gemacht worden; die Raumtheorie Kants lebt also nur modifiziert in der Gegenwart fort. Den physiologisch-psychischen Prozeß, durch den die Raum- und Zeitvorstellung erworben wird, hat in neuerer Zeit im Anschluß an Lotze und v. Helmholtz vor allem Wundt (geb. 1832) festgestellt, der die Theorie des komplexen Lokalzeichens geschaffen hat. An Wundt sich anlehnend, gibt Hellpach (Die Grenzwissenschaften der Psychologie S. 142 ff.) eine ausführliche Theorie der Raumauschauung, die aber Mißverständnisse der Kantischen Lehren in sich einschließt.
Die Zeit ist nach Platon mit dem Himmel entstanden. Nach Aristoteles ist sie das Maß der Bewegung in bezug auf das Früher und Später (hoti men toinyn ho chronos arithmos kinêseôs kata to proteron kai hysteron – phaneron Arist. Phys. IV, 11 p. 220 A 24). Für den Stoiker war die Zeit ein unkörperliches Gedankenhaftes. Auch Cartesius (1596-1650) sah in ihr nur einen Modus des Denkens (modus cogitandi) und definierte sie nach Aristoteles als ›numerus motus‹. Ihm folgte Spinoza. Für Leibniz (1646-1716) war die Zeit ›l’ordre des possibilités inconsistentes‹. Kant (1724-1804) verbindet die Raum- und Zeittheorie miteinander. Ebenso wie der Raum, ist ihm die Zeit sinnliche Form, und zwar Form des inneren Sinnes und von transzendentaler Idealität. Ebenso wie vom Räume, lehrt er die Reinheit, Unendlichkeit und Apriorität der Zeitvorstellung, ebenso wie in der Raumtheorie, will er die Apodiktizität der Mathematik mit auf die Apriorität der Zeitvorstellung aufbauen. Aber von dem Erscheinen der Prolegomena ab begeht er in seiner Zeittheorie den Irrtum, daß er den Zeitbegriff als Grundlage des Zahlbegriffs ansieht und nun die Arithmetik ebenso in Verbindung mit seiner Lehre von der Zeit setzt, wie die Geometrie mit seiner Raumlehre. Die erste Auflage der Kritik der reinen Vernunft ist von diesem Irrtum noch frei. Daß der Begriff der Zeit seine mathematische Verwendung erst in der Kombinations- und Reihenlehre findet, die Grundbegriffe der Arithmetik aber nichts damit zu tun haben, muß Kant gegenüber betont werden (s. Zahl); aber ebensowenig ist seine Parallelisierung von Zeit und Raum als richtig anzuerkennen. Nach Kant ist die erkenntnistheoretische Frage bezüglich der Zeit wenig behandelt und nur die psychologische Theorie von der Zeit gefördert worden. Eine Theorie andersartiger Zeiten, als unsere Erfahrungszeit ist, ist bisher nicht aufgestellt worden und dürfte ihre besondere Schwierigkeit haben, da mit Dimensionen bei der Zeit nichts auszurichten ist. Neuerdings hat M. Palágyi (Neue Theorie des Raumes und der Zeit. Leipzig 1901) die Zweiheit der Raum- und Zeitanschauung geleugnet und beide durch den Begriff des „fließenden Raumes“ ersetzen wollen. Aber seine Grunddefinition: „Der Zeitpunkt ist der Weltraum“ und „Der Raumpunkt ist der Zeitstrom“ begründen nicht die Idee der untrennbaren Zusammengehörigkeit von Raum und Zeit; denn der Zeitpunkt ist keine Zeit, und der Raumpunkt kein Raum. – Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 191 ff. Th. Isenkrahe, Idealismus oder Realismus. 1883. C. Stumpf, Psychol. Urspr. der Raumvorstell. 1873. Baumann, die Lehren von Raum, Zeit und Mathematik. 1869. B. Erdmann, die Axiome der Geometrie. 1877. Schlesinger, Substantielle Wesenheit des Raumes und der Kraft. Wien 1885. Wundt, Grundzüge der phys. Psychologie II. Max Simon, Didaktik und Methodik des Rechen-, Mathematik- und Physik-Unterrichts. München 1895.