IV. Von der Erfahrung als einem System
für die Urteilskraft
Wir haben in der Kritik der reinen Vernunft gesehen, daß die gesamte Natur, als der Inbegriff aller Gegenstände der Erfahrung, ein System nach transzendentalen Gesetzen, nämlich solchen, die der Verstand selbst a priori gibt (für Erscheinungen nämlich, so fern sie, in einem Bewußtsein verbunden, Erfahrung ausmachen sollen), ausmache. Eben darum muß auch die Erfahrung, nach allgemeinen so wohl als besonderen Gesetzen, so wie sie überhaupt, objektiv betrachtet, möglich ist, (in der Idee) ein System möglicher empirischen Erkenntnisse ausmachen. Denn das fordert die Natureinheit, nach einem Prinzip der durchgängigen Verbindung alles dessen, was in diesem Inbegriffe aller Erscheinungen enthalten ist. So weit ist nun Erfahrung überhaupt nach transzendentalen Gesetzen des Verstandes als System und nicht als bloßes Aggregat anzusehen.
Daraus folgt aber nicht, daß die Natur, auch nach empirischen Gesetzen, ein für das menschliche Erkenntnisvermögen faßliches System sei, und der durchgängige systematische Zusammenhang ihrer Erscheinungen in einer Erfahrung, mithin diese selber als System, den Menschen möglich sei. Denn es könnte die Mannigfaltigkeit und Ungleichartigkeit der empirischen Gesetze so groß sein, daß es uns zwar teilweise möglich wäre, Wahrnehmungen nach gelegentlich entdeckten besondern Gesetzen zu einer Erfahrung zu verknüpfen, niemals aber, diese empirische Gesetze selbst zur Einheit der Verwandtschaft unter einem gemeinschaftlichen Prinzip zu bringen, wenn nämlich, wie es doch an sich möglich ist (wenigstens so viel der Verstand a priori ausmachen kann), die Mannigfaltigkeit und Ungleichartigkeit dieser Gesetze, imgleichen der ihnen gemäßen Naturformen, unendlich groß, uns an diesen ein rohes chaotisches Aggregat und nicht die mindeste Spur eines Systems darlegte, ob wir gleich ein solches nach transzendentalen Gesetzen voraussetzten müssen.
Denn Einheit der Natur in Zeit und Raume und Einheit der uns möglichen Erfahrung ist einerlei, weil jene ein Inbegriff bloßer Erscheinungen (Vorstellungsarten) ist, welcher seine objektive Realität lediglich in der Erfahrung haben kann, die, als System, selbst nach empirischen Gesetzen, möglich sein muß, wenn man sich jene (wie es denn geschehen muß) wie ein System denkt. Also ist es eine subjektiv- notwendige transzendentale Voraussetzung, daß jene besorgliche grenzenlose Ungleichartigkeit empirischer Gesetze und Heterogeneität der Naturformen der Natur nicht zukomme, vielmehr sie sich, durch die Affinität der besonderen Gesetze unter allgemeinere, zu einer Erfahrung, als einem empirischen System, qualifiziere.
Diese Voraussetzung ist nun das transzendentale Prinzip der Urteilskraft. Denn diese ist nicht bloß ein Vermögen, das Besondere unter dem Allgemeinen (dessen Begriff gegeben ist) zu subsumieren, sondern auch umgekehrt, zu dem Besonderen das Allgemeine zu finden. Der Verstand aber abstrahiert in seiner transzendentalen Gesetzgebung der Natur von aller Mannigfaltigkeit möglicher empirischer Gesetze; er zieht in jener nur die Bedingungen der Möglichkeit einer Erfahrung überhaupt ihrer Form nach in Betrachtung. In ihm ist also jenes Prinzip der Affinität der besonderen Naturgesetze nicht anzutreffen. Allein die Urteilskraft, welcher es obliegt, die besonderen Gesetze, auch nach dem, was sie unter denselben allgemeinen Naturgesetzen Verschiedenes haben, dennoch unter höhere, obgleich immer noch empirische Gesetze zu bringen, muß ein solches Prinzip ihrem Verfahren zum Grunde legen. Denn durch Herumtappen unter Naturformen, deren Übereinstimmung unter einander, zu gemeinschaftlichen empirischen aber höheren Gesetzen, die Urteilskraft gleichwohl als ganz zufällig ansähe, würde es noch zufälliger sein, wenn sich besondere Wahrnehmungen einmal glücklicher Weise zu einem empirischen Gesetze qualifizierten; viel mehr aber, daß mannigfaltige empirische Gesetze sich zur systematischen Einheit der Naturerkenntnis in einer möglichen Erfahrung in ihrem ganzen Zusammenhange schickten, ohne durch ein Prinzip a priori eine solche Form in der Natur vorauszusetzen.
Alle jene in Schwang gebrachte Formeln: die Natur nimmt den kürzesten Weg - sie tut nichts umsonst - sie begeht keinen Sprung in der Mannigfaltigkeit der Formen (continuum formarum) - sie ist reich in Arten, aber dabei doch sparsam in Gattungen, u. d. g. sind nichts anders als eben dieselbe transzendentale Äußerung der Urteilskraft, sich für die Erfahrung als System und daher zu ihrem eigenen Bedarf ein Prinzip fest zu setzen. Weder Verstand noch Vernunft können a priori ein solches Naturgesetz begründen. Denn, daß die Natur in ihren bloß formalen Gesetzen (wodurch sie Gegenstand der Erfahrung überhaupt ist) nach unserm Verstande richte, läßt sich wohl einsehen, aber in Ansehung der besondern Gesetze, ihrer Mannigfaltigkeit und Ungleichartigkeit ist sie von allen Einschränkungen unseres gesetzgebenden Erkenntnisvermögens frei und es ist eine bloße Voraussetzung der Urteilskraft, zum Behuf ihres eigenen Gebrauchs, von dem Empirisch-besondern jederzeit zum Allgemeinem gleichfalls Empirischen, um der Vereinigung empirischer Gesetze willen, hinaufzusteigen, welche jenes Prinzip gründet. Auf Rechnung der Erfahrung kann man ein solches Prinzip auch keinesweges schreiben, weil nur unter Voraussetzung desselben es möglich ist, Erfahrungen auf systematische Art anzustellen.