XI. Enzyklopädische Introduktion der Kritik der Urteilskraft in das System der Kritik der reinen Vernunft
[Vermögen des Gemüts]


Die Geschmackskritik aber, welche sonst nur zur Verbesserung oder Befestigung des Geschmacks selbst gebraucht wird, eröffnet, wenn man sie in transzendentaler Absicht behandelt, dadurch, daß sie eine Lücke im System unserer Erkenntnisvermögen ausfüllt, eine auffallende und wie mich dünkt viel verheißende Aussicht in ein vollständiges System aller Gemütskräfte, so fern sie in ihrer Bestimmung nicht allein aufs Sinnliche, sondern auch aufs Übersinnliche bezogen sind, ohne doch die Grenzsteine zu verrücken, welche eine unnachsichtliche Kritik dem letzteren Gebrauche derselben gelegt hat. Es kann vielleicht dem Leser dazu dienen, um den Zusammenhang der nachfolgenden Untersuchungen desto leichter übersehen zu können, daß ich einen Abriß dieser systematischen Verbindung, der freilich nur, wie die gegenwärtige ganze Nummer, seine Stelle eigentlich beim Schlusse der Abhandlung haben sollte, schon hier entwerfe. Die Vermögen des Gemüts lassen sich nämlich insgesamt auf folgende drei zurückführen:

 

Erkenntnisvermögen

Gefühl der Lust und Unlust

Begehrungsvermögen

 

Der Ausübung aller liegt aber doch immer das Erkenntnisvermögen, ob zwar nicht immer Erkenntnis (denn eine zum Erkenntnisvermögen gehörige Vorstellung kann auch Anschauung, reine oder empirische, ohne Begriffe sein), zum Grunde. Also kommen, so fern vom Erkenntnisvermögen nach Prinzipien die Rede ist, folgende obere neben den Gemütskräften überhaupt zu stehen:

 

Erkenntnisvermögen ------ Verstand

Gefühl der Lust und Unlust ---- Urteilskraft

Begehrungsvermögen ----- Vernunft

 

Es findet sich, daß Verstand eigentümliche Prinzipien a priori für das Erkenntnisvermögen, Urteilskraft nur für das Gefühl der Lust und Unlust, Vernunft aber bloß fürs Begehrungsvermögen enthalte. Diese formale Prinzipien begründen eine Notwendigkeit, die teils objektiv, teils subjektiv, teils aber auch dadurch, daß sie subjektiv ist, zugleich von objektiver Gültigkeit ist, nach dem sie, durch die neben ihnen stehende obern Vermögen, die diesen korrespondierende Gemütskräfte bestimmen:

 

Erkenntnis-
vermögen
----
Verstand ---Gesetzmäßigkeit
Gefühl der Lust
und Unlust
---
Urteilskraft ---Zweckmäßigkeit
Begehrungs-
vermögen
---
Vernunft ---Zweckmäßigkeit, die
zugleich Gesetz ist
(Verbindlichkeit)

 

Endlich gesellen sich zu den angeführten Gründen a priori der Möglichkeit der Formen auch diese, als Produkte derselben:

 

Vermögen des GemütsObere Erkenntnis-
vermögen
Prinzipien a prioriProdukte
Erkenntnisvermögen -Verstand -Gesetzmäßigkeit -Natur
Gefühl der Lust und Unlust -Urteilskraft -Zweckmäßigkeit -Kunst
Begehrungsvermögen -Vernunft -Zweckmäßigkeit, die zugleich Gesetzt ist (Verbindlichkeit) -Sitten

 

Die Natur also gründet ihre Gesetzmäßigkeit auf Prinzipien a priori des Verstandes als eines Erkenntnisvermögens; die Kunst richtet sich in ihrer Zweckmäßigkeit a priori nach der Urteilskraft in Beziehung aufs Gefühl der Lust und Unlust; endlich die Sitten (als Produkt der Freiheit) stehen unter der Idee einer solchen Form der Zweckmäßigkeit, die sich zum allgemeinen Gesetze qualifiziert, als einem Bestimmungsgrunde der Vernunft in Ansehung des Begehrungsvermögens. Die Urteile, die auf diese Art aus Prinzipien a priori entspringen, welche jedem Grundvermögen des Gemüts eigentümlich sind, sind theoretische, ästhetische und praktische Urteile.

So entdeckt sich ein System der Gemütskräfte, in ihrem Verhältnisse zur Natur und der Freiheit, deren jede ihre eigentümliche, bestimmende Prinzipien a priori haben und um deswillen die zwei Teile der Philosophie (die theoretische und praktische) als eines doktrinalen Systems ausmachen, und zugleich ein Übergang vermittelst der Urteilskraft, die durch ein eigentümliches Prinzip beide Teile verknüpft, nämlich von dem sinnlichen Substrat der erstern zum intelligiblen der zweiten Philosophie, durch die Kritik eines Vermögens (der Urteilskraft), welches nur zum Verknüpfen dient und daher für sich zwar kein Erkenntnis verschaffen oder zur Doktrin irgend einen Beitrag liefern kann, dessen Urteile aber unter dem Namen der ästhetischen (deren Prinzipien bloß subjektiv sind), indem sie sich von allen, deren Grundsätze objektiv sein müssen (sie mögen nun theoretisch oder praktisch sein), unter dem Namen der logischen unterscheiden, von so besonderer Art sind, daß sie sinnliche Anschauungen auf eine Idee der Natur beziehen, deren Gesetzmäßigkeit ohne ein Verhältnis derselben zu einem übersinnlichen Substrat nicht verstanden werden kann; wovon, in der Abhandlung selbst, der Beweis geführt werden wird.

Wir werden die Kritik dieses Vermögens in Ansehung der ersteren Art Urteile nicht Ästhetik (gleichsam Sinnenlehre), sondern Kritik der ästhetischen Urteilskraft nennen, weil der erstere Ausdruck von zu weitläuftiger Bedeutung ist, indem er auch die Sinnlichkeit der Anschauung, die zum theoretischen Erkenntnis gehört und zu logischen (objektiven) Urteilen den Stoff hergibt, bedeuten könnte, daher wir auch schon den Ausdruck der Ästhetik ausschließungsweise für das Prädikat, was in Erkenntnisurteilen zur Anschauung gehört, bestimmt haben. Eine Urteilskraft aber ästhetisch zu nennen, darum, weil sie die Vorstellung eines Objekts nicht auf Begriffe und das Urteil also nicht aufs Erkenntnis bezieht (gar nicht bestimmend, sondern nur reflektierend ist), das läßt keine Mißdeutung besorgen; denn für die logische Urteilskraft müssen Anschauungen, ob sie gleich sinnlich (ästhetisch) sind, dennoch zuvor zu Begriffen erhoben werden, um zum Erkenntnisse des Objekts zu dienen, welches bei der ästhetischen Urteilskraft nicht der Fall ist.


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