Bekanntschaft mit Rahel Levin


Beinah unmittelbar nach seiner Rückkehr vom Schillschen Zuge machte Marwitz die Bekanntschaft der Rahel Levin. Er war dem Prinzen Louis Ferdinand an ritterlichem Sinn, an Schönheit der Erscheinung, an künstlerischem Bedürfnis und vor allem auch in jenem Selbstgefühl verwandt, das neben anderen Vorurteilen auch das des Standes überwunden hatte, und so ergab sich diese Bekanntschaft mit einer Art von Folgerichtigkeit. Wie diese Bekanntschaft ihm selber zu hoher Befriedigung gereichte und ihm in schweren Tagen eine Stütze, in dunkeln Tagen ein Sonnenstrahl war, so haben auch wir uns dieses Freundschaftsverhältnisses zu freuen, weil wir dem Briefwechsel, der sich zwischen beiden entspann, das beste Teil alles dessen verdanken, was wir über den Charakter und selbst über die äußeren Lebensschicksale Alexanders von der Marwitz wissen.

Ihre Bekanntschaft begann im Mai 1809, und noch vor Ablauf desselben Monats trennten sich die schnell Befreundeten wieder, um erst nach länger als Jahresfrist die alten Beziehungen abermals anzuknüpfen. Ein gegenseitiges Verständnis scheint sich fast augenblicklich zwischen ihnen gebildet zu haben. Schon am 13. Juli 1809 konnte Rahel schreiben: »Ich ging in den Park hinunter, schön waren Wiesen und Feld. Tausenderlei sah ich um mich her, und alles hätte ich Marwitz gern gezeigt; er war der Letzte, den ich sah, der so etwas verstand.« Und um dieselbe Zeit schrieb sie an Fouqué: »Ich habe Marwitz nur vierzehn Tage gekannt und mein ganzes Herz liebt ihn; sein Existenz ist ein Trost für mich. Sie wissen, er ist mit Varnhagen hin nach dem Krieg.«

Marwitz war »nach dem Krieg«. Er war Ende Mai nach Österreich gegangen, um an dem Kampfe gegen Napoleon teilzunehmen. Was ihn fort trieb, war ein Mannigfaches; zunächst die Nachricht, daß sein jüngerer Bruder Eberhard,42) der seit 1808 in österreichischen Diensten stand, in der Schlacht bei Aspern schwer verwundet worden sei, dann aber sein Haß gegen Napoleon und mit ihm die Überzeugung, »daß – um die Worte seines Bruders zu wiederholen – die Freiheit das allein Wertvolle sei, und alles Wissen in einem Sklavenlande nicht gedeihen, nicht echte Frucht treiben könne«. Zudem war die Teilnahme am Kampf halb Ehrensache für ihn geworden. Er hatte Schill verlassen, weil er das Kopf- und Planlose des Zuges sofort erkannt hatte, aber eben dadurch gleichzeitig die stillschweigende Pflicht auf sich genommen, jedem Unternehmen seine Kräfte zu leihen, das, mit ausreichenderen Mitteln begonnen, irgendwelche Aussicht auf Erfolg bieten konnte. Ein solches Unternehmen war der österreichische Krieg. Marwitz trat in das berühmte Chevauxlegersregiment Graf Klenau ein, dasselbe Regiment, in dem sein Bruder gedient hatte, und machte die letzten Kämpfe des Krieges, die Schlachten bei Wagram und Znaim mit. Auch nach dem Friedensschlusse blieb er bis zum Herbst 1810 in österreichischen Diensten. Gleich die ersten Wochen nach dem Frieden wurden ihm schwer vergällt. Krank war er nach Olmütz gekommen, wo er Quartier in einem Gasthofe nahm. Der Wirt, ein roher und heftiger Gesell, erging sich – aus Motiven, die nicht klar geworden sind, vermutlich aber ohne alle und jede Veranlassung – in heftigen Insulten gegen Marwitz und drang endlich auf diesen ein. Marwitz zog den Degen zu seiner Verteidigung und stieß den Angreifer endlich nieder. Dieser Vorgang machte großes Aufsehen und auf Marwitzens Gemüt einen tiefen und nachhaltigen Eindruck. Denn wiewohl er nur Notwehr gebraucht und den Ausspruch der Gerichte sowohl wie die öffentliche Meinung für sich hatte, so suchte er doch seitdem die Reizbarkeit und den Jähzorn seines Charakters strenger zu bewachen.

Das Kriegsleben war etwas, wie es zu Marwitzens innerstem Wesen stimmte, aber das Garnisonsleben war wenig nach seinem Sinn. Alsbald fehlten die Anregungen, ohne die er, wenn der Krieg nicht seine Würfel warf, nicht leben konnte. Wie viele Leute gab es in Olmütz und Prag, die ihm ein Gespräch mit Johann von Müller, mit Niebuhr oder mit Rahel Levin hätten ersetzen können! Während des Waffenstillstandes, solange die Wiederaufnahme des Krieges noch eine Möglichkeit war, beschäftigten ihn militärische Gedanken, an deren Ausarbeitung er mit einer Raschheit und einem Scharfsinn ging, als habe irgendein Hauptquartier ihn groß gezogen und nicht der Hörsaal oder der Salon. Er entwarf unter anderem ein Exposé, wie, bei Wiedereröffnung des Kampfes, die österreichische Armee zu operieren habe. Eine umfangreiche Arbeit. Über den strategischen Wert derselben schweige ich, sie entzieht sich der Kritik eines Laien, aber die Klarheit der Darstellung ist bewundernswert und fast mehr noch die kühne Selbständigkeit, die ihm die Idee eingab, durch eine weit ausholende Flankenbewegung der Napoleonischen Armee den Rücken abzugewinnen. Er drückte dies in folgenden Worten aus: »Eine veränderte Frontstellung muß unser strategisches Prinzip sein; Front gegen Osten oder Nordosten – so müssen wir den Angriff erwarten.«

Aber der Waffenstillstand führte zum Frieden und mit dem Frieden schwand ihm, ganz abgesehen von jener Aufregung, die ihm Bedürfnis war, auch jene aufs Ganze und Große gerichtete Tätigkeit, deren er bedurfte. Das Einerlei des Dienstes fing an, ihn zu drücken. Eine Korrespondenz, darunter auch der Austausch einiger Briefe mit Rahel, war kein Ersatz für so vieles andere was fehlte, und so nahm er denn den Abschied. Im Herbst 1810 war er wieder in Berlin.

Das alte Leben, das ihm so teuer war, nahm hier aufs neue seinen Anfang. Die Bücher, die Studien, der gesellige Verkehr, die Plauderei, die Friktion der Geister, das Blitzen der Gedanken – er hing an dieser Art der Existenz, und doch, wenn er sie hatte, genügte sie ihm nicht. Er kam zu keinem Glück, wenigstens damals nicht. Das Gegenwärtige immer klein findend, von der Zukunft und sich selbst das Höchste wollend, rang er einer Traumwelt nach und verlor die wirkliche Welt unter den Füßen. Er gehörte so recht zu denen, die den Genuß nicht genießen, weil sie selbst im Besitz des Höchsten und Liebsten die Vorstellung nicht aufgeben mögen, daß es noch ein Höheres und Lieberes gibt.

In diesem Sinne schreibt Rahel zu Anfang des Jahres 1811. »Und wie treibens unsere Besten? Ruhm wollen sie, wollen zehren ohne beizutragen, und – nichts kriegen sie. Besseres noch, so denken sie, werden sie finden, und – nichts finden sie. Statt ihren wahren Freunden selbst Freund zu sein, statt ihnen etwas zu leisten und sich des Glückes zu freuen, das sie durch Opfer und Guttat geschaffen, vergeuden sie ihre beste Kraft in der Beschäftigung mit ihren Plänen, im Kampf mit Phantomen. Marwitz hab' ich dies noch nie gesagt, weil ich ihn zu sehr liebe und es zu persönlich würde.«

So klagte Rahel über ihren »liebsten Freund« in einer Zeit, wo täglicher Verkehr und rückhaltloses Vertrauen ihr die beste Gelegenheit gab, einen Einblick in die Vorgänge seines Herzens zu gewinnen.

»Er war des Lebens früh überdrüssig und durchaus ermüdet vom täglichen Einerlei, wenn das Gewaltigste sich nicht von Tage zu Tage jagte.« So beschreibt ihn sein älterer Bruder. Er war ruhelos, unbefriedigt, unglücklich. Aber wir würden ihm unrecht tun, wenn wir dieses Unbefriedigtsein, diesen Lebensüberdruß, Erscheinungen, die mitunter an die krankhaften Stimmungen Heinrich von Kleists erinnern, ausschließlich auf Rechnung eines überreizten Gemütes setzen wollten. Er war allerdings unstet und ruhelos, weil er einem »Phantom« nachjagte, das sich nicht erreichen und erringen ließ, aber er litt auch in aller Wahrheit und Wirklichkeit unter der Wucht schwerer Schläge. Wenn sich eigene Schuld mit einmischte, um so schlimmer. Er hatte ein Recht, ernster drein zu schauen, als mancher andere. Die Schmach des Vaterlandes, die Eisenhand des Unterdrückers, das alles waren sehr wirkliche Dinge, die damals manches Herz mit Schwermut oder Fanatismus erfüllten. Vor Marwitz aber stand noch ein anderes: sein Traum brachte ihm die Gestalt des polternden, zornroten und dann so still und blaß gewordenen Wirts, und wenn die Gestalt verschwand, so zog an ihrer Statt das Bild einer schönen Frau herauf, zu der er sich mit glühender, immer wachsender Leidenschaft hingezogen fühlte. Der Tag ist noch nicht da, über dieses Verhältnis ausführlicher zu sprechen; vielleicht wird die Pietät gegen einen unserer gefeiertsten Namen es für immer verbieten. Zorn und Liebe, Gewissensangst und Leidenschaft rangen auf und ab in Marwitzens Herzen, und es hätte des heißen Verlangens nach Ruhm und Auszeichnung, nach einem unbestimmten Höchsten nicht bedurft, um jene Rastlosigkeit zu schaffen, die zugleich ein Verlangen nach Ruhe war.

Im Mai 1811 ging Marwitz auf kurze Zeit nach Friedersdorf. Die Veranlassung dazu war nicht angetan, ihm die Heiterkeit zurückzugeben, deren er so sehr bedurfte. Das Eintreten des älteren Bruders für das ständische Recht hatte zu seiner Verurteilung geführt, und während er nach Spandau ging, um daselbst seine Haft anzutreten, trat der jüngere Bruder für ihn ein, um, wie fünf Jahre früher, die Verwaltung des Gutes zu übernehmen. Dieser nur kurze Aufenthalt in Friedersdorf scheint eine Krisis für ihn gewesen zu sein. Während ihn die zwischen ihm und Rahel in dieser Zeit gewechselten Briefe zunächst noch auf einem Höhepunkte der Schwermut und Ratlosigkeit zeigen, klärt sich gegen das Ende hin alles auf. Das Gewitter scheint vorüber und wir blicken wieder in klaren Himmel. Einzelne Briefbruchstücke aus jener Zeit mögen diesen Übergang vom Trübsinn bis zur neu erwachenden Hoffnung zeigen.

»Mit mir wird es besser. Zwar will mir das Herz noch zuweilen erkranken, aber ich gebiete ihm Ruhe. Wille und Tätigkeit bändigen es. Machen Sie sich meinetwegen keinen Kummer. Untergehen kann ich, aber mir zum Ekel, anderen zur Last leben, das kann ich nicht. Und das ist doch noch sehr glücklich. Ich habe in dieser Zeit zuweilen an den Selbstmord gedacht, aber immer ist er mir vorgekommen wie eine verruchte Roheit.«

»Ich bin bis jetzt hier geblieben, teure Rahel, und hatte vor, noch einen Monat hier zu bleiben, weil ungeachtet der Gespenster, die in meinem Innern herumwandeln, doch eigentlich der Körper durch Landluft gedeiht und ich jene durch Tätigkeit zu verscheuchen hoffte. Aber ich traue nicht mehr, denn gesunder bin ich zwar, aber nicht weniger reizbar. Ein einziger Moment kann mich dahin zurückwerfen, wo ich war, und was am Ende aus dem finstern Brüten werden kann, übersehe ich nicht. Nun sehe ich zwei Auswege. Der eine ist, mit Ihnen nach Töplitz zu gehen (unbeschreiblich reizend), der andere ist eine Reise nach England und von dort aus weiter nach Spanien, wo ich Dienste nehmen kann. Wäre es so unrecht, die Kraft der südlichen Sonne an mir zu prüfen?«

Diese Bruchstücke zeigen zur Genüge, daß er unmittelbar vor seinem Abgange aus Berlin einen Entschluß gefaßt hatte. Er will den Anblick fliehen, der so viele Gefahren in sich birgt; darum dehnt er auch den Aufenthalt in Friedersdorf aus. Er will nicht nach Berlin zurück, denn »er traut sich selbst nicht und fürchtet, daß er dahin zurückgeworfen werden könne, wo er war«. Er bangt vor der Möglichkeit neuen Brütens, neu aufsteigender Gespenster, und er will fort, weit fort – nach Spanien. Er will Dienste nehmen und das Notwendige und Nützliche zugleich erfüllen, notwendig ihm allein, aber nützlich der Allgemeinheit, der guten Sache.

Rahels Antworten indessen halten ihn in der Heimat fest und führen ihn endlich aus seiner Friedersdorfer Verbannung wieder in die Welt zurück. »Sie dürfen nicht vereinsamen. In Friedersdorf ist keine Gesellschaft für Sie, und die müssen Sie haben, lebendigen, alles anregenden Umgang. Sie gehen da in Ihren eigenen Stimmungen wie in einem Zauberwald umher und werten bald nichts mehr vernehmen können.«

Zuletzt hat er überwunden, und er schreibt, frühere Briefworte Rahels in seiner Antwort wiederholend: »Leben, lieben, studieren, fleißig sein, heiraten, wenns so kommt, jede Kleinigkeit recht und lebendig machen, dies ist immer gelebt und dies wehrt niemand,... ja, Sie haben Recht, liebe Rahel. Ja, ich weiß das jetzt. Fernab sind mir jetzt alle Träume von Heldengröße und äußerer Bedeutsamkeit; führt mich das Schicksal dahin, wo ich in großen Kreisen zu wirken habe, so will ich auch das können, aber meine Hoffnungen, meine Pläne sind nicht darauf gestellt. Ich klage auch nicht länger über die Zeit; ganz dumm ist, wer das tut. Wem das Herrliche im Gemüt gegeben ist, dem wird alle Zeit herrlich.«

Beinahe gleichzeitig mit diesem Briefe sehen wir Marwitz nach Berlin zurückkehren, und ein neues, klares Leben beginnt. Es ist plötzlich, als habe der Most ausgegoren. Viele Ideale sind hin, aber das Schillersche Trostwort: »Beschäftigung, die nie ermattet«, wird auch ein Trostwort für ihn. Ernst, Arbeit nehmen von ihm Besitz, das wirkliche Leben, wie es ist, wohl oder übel, ist plötzlich für ihn da, er stellt sich zu demselben und tritt mitwirkend, mitstrebend an dem Nächstliegenden, in dieses wirkliche Leben ein. 

 

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42) Anton Eberhard Konstantin von der Marwitz ward am 2. Dezember 1790 zu Berlin geboren. Er befand sich als Schüler, kaum sechzehn Jahre alt, in der école militaire, als die Franzosen ihren Einzug in Berlin hielten. Der Gouverneur der Anstalt schoß sich tot, der Vizegouverneur verlor den Kopf und überantwortete sich und seine Anstalt der Gnade der Sieger. Diese schwankten, wie sie sich den halberwachsenen Schülern dieses Militärinstituts gegenüber verhalten sollten, zogen aber schließlich das Sichere vor und machten sie zu Gefangenen. Unter diesen war auch Eberhard von der Marwitz. Er und ein befreundeter Mitschüler verabredeten Flucht und brachen zusammen auf. Vorher schon hatten sie sich ein Pferd zu verschaffen gewußt und passierten glücklich das Tor. Ohne alle Rast setzten sie ihren Weg fort, immer abwechselnd, der eine zu Fuß, der andere zu Pferde, so daß sie schon nach vierundzwanzig Stunden die zwanzig Meilen bis Lenzen an der Elbe und über die mecklenburgische Grenze zurückgelegt hatten. Nach kurzem Aufenthalt wanderten sie weiter ins Holsteinische. Erst hier waren sie in Sicherheit, aber das Pferd auch so ruiniert, daß sie es verschenken und beide zu Fuß gehen mußten. In Kiel fanden sie ein Fischerboot, vertrauten sich in demselben dem Meere an und trafen, sechs Tage nachdem sie Berlin verlassen hatten, auf der Insel Rügen ein, wo der ältere Bruder eben sein »Freikorps« errichtete. Bei der bald erfolgenden Auflösung dieses Korps ging Eberhard von der Marwitz nach Österreich und trat als Kornet in das Chevauxlegersregiment Klenau. Bei Regensburg (am 20. April) zeichnete er sich aus, bis der mörderische Tag von Aspern seiner so früh und so brav begonnenen Laufbahn ein Ziel setzte. Er erhielt an diesem denkwürdigen Tage gleich zu Beginn der Schlacht den Auftrag, mit einer Abteilung von zwanzig Reitern an das vom Feinde besetzte Dorf Aspern heranzujagen. Er gehorchte und machte die Attacke. Vierzig Schritte vor dem Dorfe traf ihn eine Kanonenkugel, tötete sein Pferd und verwundete ihn schwer am rechten Oberschenkel. Dieser Verwundung erlag er am 9. Oktober; am 10. ward er beerdigt. Eine Kompanie des 30. französischen Infanterieregiments gab bei der Gruß drei Salven und der Stadtkommandant, sowie vierzig französische und mehrere verwundete österreichische Offiziere geleiteten ihn zu Grabe. Er ruht auf dem Kirchhofe zu Nikolsburg in Mähren, »hingeopfert dem unsinnigen Befehle eines schwachköpfigen Untergenerals«, wie sein ältester Bruder in unerbittlicher Kritik schreibt. Eben dieser hat ihm auch auf dem Friedersdorfer Kirchhof einen Denkstein errichtet.




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