Berlin in den Tagen
der Schlacht bei Großbeeren
Es war am 19. August 1813 – so entnehm' ich alten, durch Friedrich Tietz40 veröffentlichten Aufzeichnungen – als an den Straßenecken Berlins und zugleich auch in der Vossischen und Spenerschen Zeitung folgende Bekanntmachung erschien:
»Wir eilen, die treuen Unterthanen Sr. Maj. des Königs hierdurch zu unterrichten, daß in der Nacht vom 10. zum 11. d. M. die Kriegserklärung Österreichs gegen Frankreich erfolgt und der Waffenstillstand ebenso kaiserlich russischer wie unsrerseits gekündigt worden ist. Die Zeit der Waffenruhe ist mithin überstanden und der gerechteste Krieg, der jemals geführt worden, hat wieder begonnen.
Berlin, 18. August 1813.
Allerhöchstverordnetes Militär-Gouvernement für das Land
zwischen der Elbe und Oder.
von L'Estocq. – Sack.«
Scharenweise standen die Berliner an den Ecken, um diese Bekanntmachung zu lesen. Enthusiastisch und mit Hurra wurde sie begrüßt, aber es muß doch auch zugestanden werden, daß es nicht an Vorsichtigen, um nicht zu sagen an Ängstlichen fehlte. So wurden beispielsweise viele Frauen und Kinder, die man nach Pommern und Mecklenburg hin in Sicherheit bringen wollte, von den zurückbleibenden Hausvätern zum Frankfurter und Oranienburger Tor hinausbegleitet.
Andre waren geschäftig, ihre silbernen Löffel im Garten einzugraben oder ein paar alte noch von irgendeinem Paten herstammende Schaumünzen unter der Zimmerdiele zu verstecken.
Unterdessen hatten wir seltsame Hilfe gegen den Feind erhalten. Wallensteins eben damals oft von Mattausch auf der königlichen Bühne gehörte Worte: »Wir werden mit den Schweden uns verbinden, gar wackre Leute sind's und gute Freunde«, hatten sich als Prophezeiung erwiesen. In der Nähe von Charlottenburg standen die blonden Nordlandssöhne im Lager, zu denen alle Welt hinausging und ihnen bundesfreundlich die Hand schüttelte. Nur zu ihrem Führer, dem neuen Kronprinzen von Schweden, wollte bei den Berlinern ein rechtes Vertrauen nicht Wurzel fassen, weil man sich seiner noch zu gut als Bernadotte erinnerte, der früher kein Preußenfreund gewesen war. Außer den Schweden waren auch die Russen bei der Hand, von denen wir aber meistens nur das langspießige Volk der Kosaken zu sehen bekamen.
Am 21. August gab man im königlichen Schauspielhause Kapellmeister Himmels »Fanchon«. Das Haus war voll, wie man sich denn überhaupt an allen öffentlichen Orten zusammendrängte, bloß um Neuigkeiten zu hören. Der korpulente Kapellmeister stand dirigierend an seinem Pult, und als Gern (der Vater) in der Rolle des Abbé das Lied »Auf alle Namenstag' im Jahr« anzustimmen begann und zuletzt auch zu dem auf die verewigte Königin Luise bezüglichen Couplet kam, erscholl ein donnernder Jubel im ganzen Hause. Himmels rotes Angesicht glühte vor Erregung. »Tusch, Tusch!« rief er dem Orchester zu, die Trompeten schmetterten und die Vivats wollten kein Ende nehmen.
Als ich das Theater verließ, begegnete ich draußen einer ähnlichen Exaltation: Truppen marschierten dem Halleschen Tore zu, von Bürgern unter fortwährendem Hurrarufe begleitet.
Am folgenden Tage wurd' uns das unmittelbare Bevorstehen einer Schlacht so gut wie zur Gewißheit: die Truppenmärsche steigerten sich und im schwedischen Lager sah man die Vorbereitungen zum Aufbruch. Am Abend war ich, wie herkömmlich, wieder im Theater, aber ich konnte nicht recht in Stimmung kommen und noch weniger lachen, trotzdem Wurm, unser erster Komiker damals, den Rochus Pumpernickel spielte. Iffland hatte klüglich immer nur lustige Stücke aufs Repertoir gesetzt, »um die Stimmung zu paralysieren«.
Recht gut erinnere ich mich noch, daß ich in der Nacht, »die der Groß-Beerener Aktion vorherging«, nur sehr wenig und sehr schlecht geschlafen habe.
Schon in aller Morgenfrühe des 23. stand ich auf; aber ein grauer Regenwolkenhimmel war nicht geeignet, eine heitere Stimmung in mir hervorzurufen.
Um neun Uhr wurde mir's endlich »zu eng im Schloß« und ich ging die Leipziger Straße hinunter auf den Tiergarten und die Bellevuestraße zu, wo Gubitz in einer Giebelstube des Georgeschen Kaffeegartens oder »bei Georges«, wie die Berliner kurzweg sagten, eine kleine Wohnung hatte. Glücklicherweise traf ich ihn noch zu Haus und wir machten nunmehr einen langen, langen Spaziergang, der uns auf einem Umweg endlich bis unter die Linden führte. In dem Hause Nr. 46, jetzt Viktoria-Hotel, wohnte Freund Himmel eine Treppe hoch, zwei Treppen hoch der Kammermusikus Seidler (der spätere Gatte der berühmten Sängerin) und in der dritten der dünne Labes, der Komiker vom Hoftheater. Einigermaßen müde, wie wir waren, beschlossen wir bei Himmel vorzusprechen und fanden ihn denn auch mit Seidler und Labes beim Rheinwein, den der lebenslustige Kapellmeister außerordentlich liebte. Himmel war wie gewöhnlich in exaltierter Stimmung, zu der der Wein das Seinige beitrug. Auch hier bildete natürlich die bevorstehende Schlacht das Thema der Unterhaltung und ehe wir's uns versahen, stürzte der berühmte Fanchon-Komponist ins Nebenzimmer und kehrte mit zwei Pistolen zurück. »Diese für den ersten Franzosen, der mir heut ins Zimmer tritt, und diese – für mich.« Beide waren wahrscheinlich nicht geladen, die zweite gewiß nicht. Gleichviel indes, Gubitz versicherte mit Emphase: »wir würden siegen, ja sein Glaube daran sei so fest, daß er gleich eine kleine Fest-Kantate niederschreiben wolle; Himmel solle sie komponieren – sie könne dann am andern Tage schon im Theater gesungen werden.« Und gesagt, getan. Gubitz setzte sich sofort an den Schreibtisch und in einer halben Stunde war die kleine Dichtung fertig. Aber freilich der, der sie komponieren sollte, war nicht mehr unter den Lebenden oder doch nicht mehr unter den Zurechnungs- und Leistungsfähigen. Er schlief in einem mit einer Tüllgardine verhängten Alkoven seinen Rausch aus und zwang uns dadurch aus der »Himmlischen Wohnung«, wie seine kleine chambre garnie damals allgemein hieß, in die triviale Wirklichkeit der Straße zurückzukehren.
Es mochte jetzt Mittag sein oder doch nicht viel mehr, und der Weg, den ich einschlug, führte mich am Schauspielhause vorüber. Angeklebte Zettel kündigten an: »Heute zum ersten Male wiederholt: Die deutsche Hausfrau, Drama in drei Akten von Herrn von Kotzebue. Hierauf: Das Geheimniß, Operette in einem Akt von Solié.« Einer der Bureaubeamten stand in der Türe. »Wird denn heute gespielt?« fragte ich. »Ei, natürlich, der Herr Generaldirektor Iffland haben's eigens befohlen.« Ein dumpfer Knall, dem ein zweiter und gleich darauf noch ein paar andre folgten, bezeugten, daß draußen ein blutiges Drama beginne. Vorübergehende standen wie gebannt und der Theaterbeamte zeigte mir ein blasses Gesicht; aber doch mutmaßlich nicht blasser als das meinige war.
Von diesem Augenblick an kamen wir eigentlich nicht mehr zur Besinnung. Auf den Straßen lief alles durcheinander und zu den Fenstern hinaus fragte man sich wie's stünde? Viele ließen sich nicht abhalten und gingen trotz des strömenden Regens bis nach Tempelhof oder doch wenigstens bis auf den Tempelhofer Berg hinaus, um dem Aktionsfeld um eine halbe Stunde näher zu sein.
Um sieben macht' ich mich auf ins Theater. Es waren mehr Leute darin, als man hätte vermuten sollen. Nur Damen fehlten. Eigentlich hatte man sich im Parterre bloß zusammengefunden, um sich gegeneinander auszusprechen, und doch wurde jede patriotische Beziehung, die in der »Deutschen Hausfrau« vorkam, lebhaft beklatscht. Die Bethmann, die die Hauptrolle gab, wußte die Pointen und Schlagwörter geschickt hervorzuheben. Auch den andern Mitspielenden: Beschort und Maurer und der anmutigen Demoiselle Fleck (nachmaligen Frau Professor Gubitz) vor allem aber der Demoiselle Doebbelin, welche eine böse Alte spielte, sah man es nicht an, daß Berlin einschließlich des Schauspielhauses sozusagen auf einem Pulverfasse stand. Am Schlusse des zweiten Aktes eilt' ich auf eine gute halbe Stunde hinaus, um zu sehen, ob man etwas Neues wisse. Der Kriegsjammer zeigte sich schon. Bauernwagen mit Verwundeten kamen langsam vom Halleschen Tore her. Man fuhr sie nach den Lazaretten; alle leicht Blessierten aber nahmen die Bürger mit Herzlichkeit in ihren Häusern auf.
Ich hielt mich wieder auf die Linden zu, denn ich war hungerig und gedachte mich in der Habelschen Weinstube zu restaurieren. In dem Lokale selbst war ein beständiges Kommen und Gehen. Am letzten Fenster links saßen einige meiner Bekannten: Herklots der Theaterdichter, der Kunstkenner Hofrat Hirt – damals einer der schönsten Männer Berlins – und der Maler Hummel, ein unzertrennliches Habelsches Trifolium. In der Mitte des Zimmers aber hatte man einen Husaren umringt, der einen Transport Verwundeter eingebracht und selbst einen tüchtigen Hieb über das Gesicht bekommen hatte. Von ihm erfuhren wir einiges Nähere, vor allem, daß die Franzosen sich auf Trebbin zurückzögen und daß unser Sieg so gut wie gewiß sei.
»Noch kann das Theater nicht aus sein«, enthusiasmierte sich Herklots, »ich muß die Nachricht dorthin bringen.« Und im selben Augenblick ergriff er seinen großen rotseidenen Regenschirm und war's auch zufrieden, daß ich ihn begleitete. Wir langten auf der Bühne kurz vor dem Schlusse des Singspiels: »Das Geheimniß« an und teilten Unzelmann, der den Bedienten Thomas spielte, die Siegesbotschaft mit. Er ergriff sofort den dreieckigen Bedientenhut und trat auf die Bühne hinaus, obgleich seine Szene nicht an der Reihe war. Die Schauspielerin, welche die Hofrätin gab, sah ihn befremdet an, er aber extemporierte sofort im Tone seiner Rolle: »Wollte der Frau Hofrätin und den Herrschaften da unten (aufs Publikum zeigend) nur melden, daß wir heute keine französische Einquartierung mehr bekommen.« Und nun muß ich hier zu besserem Verständnis des Folgenden einschalten, daß Unzelmann eine ganz frappante Ähnlichkeit mit dem im Winter 1812 auf 13 in Berlin kommandierenden französischen General Augereau hatte. Diese Ähnlichkeit glücklich benutzend, stülpte der gefeierte Komiker, als er die vorstehende Meldung gemacht hatte, seinen dreieckigen Hut in derselben schiefen Richtung auf den Kopf, wie ihn die französischen Generale zu tragen pflegten und fügte, Augereau kopierend, hinzu: »Wir begeben uns rückwärts nach Trebbin!« Dabei machte er kehrt; im Publikum aber brach ein Freudenhallo aus, daß die Kulissen ins Zittern kamen. Die Vorstellung war aus und alles stürmte nach Hause.
Draußen war ein Leben und Gedränge wie bei hellem Tage, denn fortwährend brachte man Verwundete und Gefangene zur Stadt. Wagen aller Art, bepackt mit Lebensmitteln, Decken, Mänteln und allem, was den ermüdeten hungrigen Kriegern nur irgendwie zugute kommen konnte, rollten zum Tore hinaus, dem Schlachtfelde zu. Wir, denen Wagen und Pferde nicht zu Gebote standen, taten an den in die Stadt gebrachten Verwundeten, was in unsern Kräften stand. Von zu Bette gehen war natürlich nicht die Rede.
Gegen Morgen traf ich mit einem Offizier in der »Sonne« oder bei Jagors (wo jetzt die Passage ist) zusammen, der im Begriff war zu seinem Regiment zurückzukehren und sich nur noch mit einer Tasse Kaffee stärkte. Der ergänzte die bruchstückweisen Nachrichten, die wir bis dahin von der Schlacht erhalten hatten.
Auf der Straße traf ich bald danach einen mir von alter Zeit her bekannten und damals zu den populärsten Figuren Berlins gehörenden Hofschlächtermeister, der mich einlud, auf seinem mit Wurst, Schinken und Brot beladenen Wägelchen Platz zu nehmen und mit ihm hinauszufahren. Und ich ließ mir das nicht zweimal sagen.
Aber freilich den Anblick des Schlachtfelds werd' ich all mein Lebtag nicht vergessen. Unfern der Mühle lag ein blutjunger französischer Offizier, die Brust von einer Kartätschenkugel zerschmettert. Aus der zerrissenen Uniform blickte vorne zwischen den Knöpfen ein rotes Portefeuille hervor. Wir öffneten es und fanden unter mehreren Briefen einen, der noch nicht gesiegelt aber bereits mit einer Aufschrift in französischer Sprache versehen war: »An Herrn Capuzzo, Mitglied des Kriminalgerichts zu Genua.« Der sollte, wie aus dem Briefe hervorging, der Schwiegervater des Toten werden, und beigelegt war ein verschlossenes Briefchen an die Braut: Es schloß mit den Worten: »Ich hoffe, diesen Brief heut abend auf die Post in Berlin zu geben.«
Nun taten wir es.