§ 15. Die sokratische Ethik.
Worin besteht das Wesen und damit der Zweck irgendeines Dinges, z.B. dieses Tisches? In seiner Tüchtigkeit zu etwas, seiner »Güte« (aretê). So besteht auch das Wesen und damit der Zweck des Menschen in seiner Tüchtigkeit oder Tugend. Was aber hat man unter dieser Tugend, die alle, namentlich auch die Sophisten im Munde führen, zu verstehen? Ist sie erlernbar? So fragt Sokrates und macht damit zum erstenmal die Tugend, sonach die Ethik zum Problem. Gerade das Problemstellen ist auch hier wieder seine wichtigste Leistung, nicht etwa die positive Antwort. Worin das Gute seinem Inhalte nach bestehe, scheint Sokrates vielmehr garnicht bestimmt formuliert zu haben. Er betont nur, dass die Tugend ein Wissen sei, dass sie auf der richtigen Einsicht oder Besinnung (phronêsis) beruhe. Wird doch auf allen Gebieten des Lebens derjenige als tüchtig anerkannt, der seine Sache versteht; wieviel mehr auf dem des sittlichen Handelns! Wer aus unklaren Gefühlen oder aus überlieferter Gewohnheit handelt, wird immer nur zufällig das Rechte treffen. Also auf das feste Bewußtsein, auf die Erkenntnis allein kommt es an. Diese Überzeugung steigert sich dann zu dem merkwürdigen Satze: Niemand handelt mit Absicht schlecht. Denn sonst würde er ja gegen die eigene Erkenntnis vom Rechten handeln, die, wie die Wahrheit selbst, nur eine sein kann. Handelt er aber wirklich unrecht, so hat er eben die rechte Einsicht nur scheinbar besessen; mindestens ist sie unvollständig oder unklar gewesen, wenn sie sich von der Unkenntnis, die in den Trieben liegt, hat überwinden lassen, anstatt ihrerseits dieselben zu überwinden. Wenn und während die Erkenntnis herrscht, kann nicht zugleich auch etwas anderes wie Lust, Zorn, Schmerz, Furcht, Begierde über den Menschen herrschen.
Neben diesem sozusagen rationalistischen12 zeigt die sokratische Ethik aber offenbar auch einen eudämonistischen Zug. Das Gute erscheint als das Gesunde, Heilsame, Förderliche. Denn so haben wir es wohl zu verstehen, wenn es bei Xenophon mit dem Nützlichen gleichgesetzt wird. Der Prüfstein der Tugend ist der durch Vernunftüberlegung und Erfahrung zu ermittelnde Einfluß der betreffenden Handlung auf menschliches Wohlergehen. An sich würde das stark verstandesmäßige, um nicht zu sagen hausbackene Element in Sokrates' Persönlichkeit, worin u. a. seine Abneigung gegen Dichter und Rhetoren begründet liegt, auch einer eigentlichen Nützlichkeitsethik nicht widerstreben. Indessen scheint doch dieser Zug von dem selbst prosaischen Xenophon übertrieben worden zu sein. Andere Züge stehen wenigstens dem entgegen: seine Überzeugung, dass Unrecht leiden besser sei als Unrecht tun, die Gesetzestreue, vermöge deren er sich seinem Schicksal nicht durch die Flucht entziehen wollte, seine Neigung zu schönen Jünglingen und zu Freundschaftsbündnissen, deren Zweck es sei, einander in gemeinsamem Leben und gegenseitiger Förderung immer besser zu machen, und nicht am wenigsten - seine tiefe Religiosität.
Die letztere lag allerdings mehr in seiner Persönlichkeit, als dass er sie systematisch zu begründen versucht hätte. Schon die zweckmäßige Einrichtung des Weltalls wies nach seiner Überzeugung auf eine weise, alles lenkende Gottheit hin. Ihr vertraut er überall da, wo menschliches Verstehen nicht mehr ausreicht. Auch unsere Seele ist ein Teil des Göttlichen, das die Welt geordnet hat. Ja, er fühlt die Gottheit auch in der eigenen Brust als innere Stimme zu ihm reden, insbesondere ihn warnen. Denn so ist wahrscheinlich das geheimnisvolle Daimonion zu verstehen, von dem er zuweilen redet, und über das sich bereits eine ganze Sonderliteratur angesammelt hat (vgl. Ueberweg-Praechter I Anhang S. 43). Neigt Sokrates sonach auch dem reinen Monotheismus zu, der sich in seiner Zeit vorzubereiten begann, so hängt er ihm doch keineswegs im strengen Sinne an.
Jedenfalls ist er in dieser Frage kaum als Reformator aufgetreten, wie er denn häufig die Volksgötter im Munde führte und ihnen zu Hause und öffentlich geopfert hat; wenngleich das, was Xenophon von seinem Glauben an die Mantik und seiner Kultfrömmigkeit erzählt, wohl mehr Eigentum des bis zum Aberglauben »frommen« Xenophon als des geschichtlichen Sokrates ist.
Ähnlich war seine Stellung zu der bestehenden Staatsordnung. Er forderte und übte den unbedingten Gehorsam gegen die Staatsgesetze und appelliert doch von ihnen an die Richter und Gesetze im Hades, d.h. an das ewige, ungeschriebene Sittengesetz. Über die persönliche Unsterblichkeit scheint er sich zweifelnd ausgedrückt zu haben (Plato Apol. 40 C f.). Was uns nach dem Tode erwartet, wissen wir nicht; wohl dagegen, dass Rechttun gut. Unrechttun übel für uns ist. Jedenfalls sind ihm die Götter in erster Linie Vertreter des sittlichen Gedankens. Das ergibt sich aus dem Schluß der platonischen Apologie. Hatte er vorher seinen Anklägern zugerufen: »Ich glaube an Götter ebensogut wie ihr, ja noch mehr,« so offenbart sich hier der sittliche Grund, auf dem sein Glaube ruht, in den von festem Vertrauen eingegebenen Worten: »Dem Guten kann nichts Übles geschehen, weder im Leben noch nach seinem Tode, und seine Sache wird von den Göttern nicht verlassen.«
In solcher Gesinnung ist Sokrates in den Tod gegangen. Wir wollen die Tragödie seiner Verurteilung und Hinrichtung, die jedem von Jugend auf bekannt ist, hier nicht erzählen. Sein Tod war, wie er selbst sagte, für ihn kein Übel, sondern eine Zuträglichkeit. Für seine Sache aber wurde er geradezu zum Triumph, indem er für seine Schüler der begeisternde Sporn zur Verbreitung der Lehre des Meisters ward. Zu ihnen haben wir uns jetzt zu wenden.