2. Die jüngeren Kyrenaiker
Nicht Aristipp selbst, sondern erst seine Nachfolger scheinen sich mit der theoretischen bezw. psychologischen Ausbildung seiner Lehre befaßt zu haben. Leider sind uns nur dürftige und einseitige Berichte darüber erhalten. Nach Sextus Empirikus (200 n. Chr.) bezogen sich die Untersuchungen »derer von Cyrene« vorzugsweise auf fünf Probleme: 1. Was zu begehren und zu fliehen sei, 2. die Leidenschaften, 3. die Handlungen, 4. die äußeren Ursachen, 5. die Bürgschaften der Wahrheit (Beweisgründe). 4 und 5 scheinen eine Art Physik und Logik als Ergänzung zu der voraufgegangenen Ethik (1-3) enthalten zu haben. Mit Gewißheit kennen wir nur unsere eigenen Empfindungen (pathê), aber nicht deren Ursachen, noch auch, was die anderen empfinden. Jede Empfindung ist eine Art Bewegung, die Lust eine sanfte, die Unlust eine stürmische; der Ruhezustand entspricht der vollendeten Lust- und Schmerzlosigkeit.
Wir haben nun noch besondere Wendungen des cyrenaischen Grundgedankens zu verfolgen. Theodoros, ein Schüler des jüngeren Aristipp, verfeinerte die Lustlehre, indem er als das zu erstrebende Ziel (telos) nicht den Augenblicksgenuß, sondern eine durch die Einsicht vermittelte dauernde Gemütsstimmung, die Heiterkeit oder Freude (kara), aufstellte. Dazu stimmt schlecht der Bericht, dass er in einem rücksichtslosen Naturalismus unter Umständen auch Diebstahl, Ehebruch und Tempelraub für erlaubt erklärt habe. Der ihm beigelegte Beiname »der Atheist« (atheos) bezieht sich wohl auf seine offene Bestreitung der Volksreligion.
Auch Annikeris suchte die cyrenaische Lehre zu veredeln, indem er den Hauptwert auf die feineren Lustempfindungen der Dankbarkeit, Freundschaft und Liebe legte. Zur Einsicht müsse Gewöhnung hinzutreten. Er leitet bereits zum Epikureismus (§ 39) über.
Hegesias dagegen zog aus den Salzender hedonischen Schule die umgekehrte Schlußfolgerung. Da die gepriesene Glückseligkeit doch nur sehr selten erreichbar sei, solle man sich mit der Freiheit von Sorgen und Schmerzen begnügen und sich mit möglichster Gleichgültigkeit gegen alle Launen des Schicksals wappnen. Sei auch dieser Zustand nicht zu erreichen, so solle man das alsdann wertlose Leben lieber wegwerfen. So schlägt die Lustlehre hier in ihren Konsequenzen ganz naturgemäß in den Pessimismus um. Hegesias, »der zum Tod Überredende« (peisithanatos), soll durch seine Vorträge in Alexandrien so viele Zuhörer zum Selbstmorde veranlaßt haben, dass sie verboten wurden.
Eine gewisse Verwandtschaft mit diesen gegen Ende des 4. Jahrhunderts wirkenden Cyrenaikern wie anderseits freilich, ja vielleicht noch mehr, mit der Sophistik zeigt der etwas jüngere, um 300 am Hofe des Kassander lebende Euemeros. Er suchte nachzuweisen, dass die Götter und Heroen der Mythologie nur ausgezeichnete Menschen gewesen seien, denen man nach ihrem Tode göttliche Ehren erwiesen habe. In diesen Zeiten der Auflösung des alten Glaubens fand solch aufklärerischer Rationalismus vielen Anklang; er wurde u. a. durch den Dichter Ennius nach Rom verpflanzt (Mommsen, Röm. Gesch. I, 878).
So haben bereits die Cyrenaiker des Altertums in verschiedenen, zum Teil an ganz moderne Erscheinungen erinnernden Wendungen des Gedankens so ziemlich alle möglichen hedonistischen Standpunkte erschöpft. Eine ganz entgegengesetzte Richtung vertraten: