§ 1. Ursprung der griechischen Philosophie.
Mit der Vorstellung griechischer Kunst und Wissenschaft pflegt sich der Gedanke an den allen Musen geweihten Boden Attikas zu verbinden. Zu der Zeit indes, wo wissenschaftliches Streben, d.h. Streben nach dem Wissen um seiner selbst willen unter dem Hellenenvolke zuerst erwacht, um 600 vor Christi Geburt, waren die Kolonien dem Mutterlande an geistiger und wirtschaftlicher Kultur noch durchaus überlegen. Die Wiege der Philosophie, die, wie wir sahen, zunächst einerlei ist mit Wissenschaft überhaupt, hat nicht auf alt-, sondern auf neuhellenischem Boden, in Kleinasien, Unteritalien und Thrakien gestanden. Innerhalb der genannten drei Kolonialgebiete aber war die Westküste Kleinasiens und hier wieder die von dem regsamen ionischen Stamme besiedelte Mitte den anderen in der Entwicklung weit voraus. Hier war ein weitblickender Kaufmannssinn zu Hause, der mit kühnem Unternehmungsgeist, hinwegschreitend über den engen Gesichtskreis des Kleinstädters, in die Fremde zog und alle Küsten des Mittelmeeres mit neuen Pflanzstädten oder doch Handelsniederlassungen bedeckte, nachdem schon längst das Ägeische Inselmeer zu einer griechischen Binnensee geworden war. In den Städten Ioniens häuften sich die Erzeugnisse dreier Erdteile; mit dem wachsenden Wohlstande wich auch die im Mutterlande noch fortdauernde altväterische Rauheit der Sitten, was, freilich manche sittliche Schäden zur Folge hatte, aber durch künstlerische und wissenschaftliche Bestrebungen dem Leben einen höheren Inhalt zu verleihen geeignet war.
Es ist kein Zufall, dass neben äußerer Behaglichkeit des Lebens und teilweise üppigem Reichtum auch die griechische Kunst hier ihre Geburtsstätte und erste Heimat fand. Bereits um 590 wird der Bau des großartigen Artemistempels zu Ephesus begonnen. Und auf dem Boden, wo schon Homers Gesänge entstanden und zuerst erklungen waren, in den Insel- und Küstenstädten der kleinasiatischen Griechen, findet nun auch die individuellere Lyrik ihre ersten Vertreter: Kallinos von Ephesos, Archilochos von Paros, Mimnermos von Kolophon, Sappho und Anakreon. Uns interessiert hier nur deren »gnomischer« Zweig, die Spruchweisheit. In diesen Sittensprüchen oder kurzen Gedichten elegischen Versmaßes kommt nicht nur das persönliche Gefühl, sondern auch das ethische Denken zum erstenmal zu offenem Ausdruck. Als Meister der letzteren gelten der Überlieferung die »sieben Weisen «, von denen jedoch bloß vier (Thales, Bias, Pittakos und Solon) überall gleichmäßig erwähnt werden; nur von Solon ist noch manches erhalten. Ihr Erkenntnisstreben ist durch das bekannte: »Erkenne dich selbst!« gekennzeichnet; der hauptsächlichste Inhalt ihrer Moral liegt in der echt-griechischen Betonung des Maßhaltens (»Nichts zuviel!«).
Auch in politischer und sozialer Beziehung erfuhren die alten Verhältnisse starke Veränderungen. Die alten vornehmen Geschlechter erscheinen zurückgedrängt, durch Demokratie oder Tyrannis auch hier die Kraft des Einzelnen zu freierer Entfaltung gekommen. In der eben erwähnten Spruchdichtung spielen die politischen Parteikämpfe eine wichtige Rolle. Die ersten Philosophen, die genannt werden, sind zum Teil die Gesetzgeber ihrer Staaten gewesen.
Ferner war in den Kolonien am frühesten der für der Anfang des griechischen Philosophierens geradezu entscheidende Zusammenhang mit den positiven Wissenschaften ermöglicht. Durch ihre Handelsbeziehungen zu den alten Kulturvölkern des Morgenlandes war den Koloniegriechen um das Jahr 600 bereits ein reicher Schatz des Wissens zugeflossen. Wir dürfen annehmen, dass sie in Astronomie, Arithmetik und Geometrie den Chaldäern, Phöniziern und Ägyptern vieles verdankten. Ihre geographischen Kenntnisse hatten infolge ihrer weit ausgedehnten Seefahrten und Landreisen schon einen verhältnismäßig hohen Grad erreicht; und in der Geschichtsschreibung begann an Stelle der früheren Fabeleien die nüchternere Arbeit der Logographen zu treten. Wie es mit der Entlehnung einzelner Kenntnisse aus dem Orient beschaffen gewesen, ist eine Frage, die den Philosophiehistoriker weniger interessiert. Wichtig dagegen ist es, festzuhalten, dass die ersten Philosophen, wie wir sehen werden, zugleich Männer der positiven Wissenschaft gewesen sind.
Für die Richtung endlich, in der sich die erste Problemstellung der griechischen Philosophie bewegt, wie für den Gegenstand ihrer Forschung, ist eine Veränderung des religiösen Denkens zu beachten, die sich um diese Zeit vollzieht und schon in der »Theogonie« des böotischen Lehrdichters Hesiod im Keime verborgen liegt: von der Götterentstehungslehre des Mythos beginnt sich eine, freilich ebenfalls noch mythische, Weltentstehungslehre loszuringen. Statt mit der heiteren Welt der olympischen Götter beschäftigen sich die sogenannten »Orphiker« - deren Ahnherr der sagenhafte thrakische Sänger Orpheus gewesen sein soll, und deren religiöse Richtung sich durch eine Mischung von Mystik und Ekstase kennzeichnet - mit der Herleitung alles Gewordenen aus seinem Urgrund, als welchen sie irgendein Unentwickeltes: die Nacht, das Chaos, den Himmel oder den Ozean betrachten, während eine andere, etwas jüngere Richtung, als deren Haupt Pherekydes von Syros (um 550), einer der ersten griechischen Prosaisten, genannt wird, den ordnenden Zeus, wenn auch ihn zusammen mit Erde und Zeit, an den Anfang alles Gewordenen setzt.
Mit dieser kosmogonischen Richtung der altgriechischen »Theologen« (so nennt sie Aristoteles) hat die beginnende Wissenschaft den Gegenstand ihrer Forschung gemein. Auch sie fragt nach der Entstehung, nach dem Uranfang alles Gewordenen. Aber sie fragt und antwortet nicht mehr in der Form des Mythos, sondern in derjenigen des begrifflichen Denkens. Sie forscht nicht mehr nach dem zeitlichen Uranfang und nach göttlichen Urwesen als seinen Trägern, sondern nach dem Stoff, der bei allem Wechsel der Dinge verharrt. Die erste Philosophie der Griechen ist Naturphilosophie4), ihr erster Begriff, die archê (der Uranfang), im Grunde ein chemischer: der Urstoff.