§ 44. Einleitendes. Verpflanzung der griechischen Philosophie nach Rom. Die mittlere Stoa.


Der römische Volkscharakter war wohl zur Reflexion, nicht aber zum theoretischen Spekulieren angelegt, vielmehr ganz dem Praktisch-Nützlichen zugewandt. Selbst die religiösen Anschauungen erscheinen von diesem Nützlichkeitsgeiste durchtränkt. So haben sich denn, während römisches Recht, römische Verwaltung, römisches Heerwesen ein Vorbild für Jahrtausende geworden sind, die eigentlich idealen Geistesmächte: Poesie, bildende Kunst und Philosophie, bei den Römern nie zu der Blüte zu entfalten vermocht, die sie in Hellas erreichten. Philosophie insbesondere galt dem Römer von altem Schrot und Korn - Urtyp der alte Cato - als unnützer Wortkram, wenn nicht gar als sitten- und religionsgefährlich.

Zu letzterer Ansicht hatte wohl der Umstand nicht wenig beigetragen, dass der erste Vermittler griechischer Philosophenweisheit, der Dichter Ennius (239-169), der auch ein naturphilosophisches Lehrgedicht Epicharm schrieb, gerade den rationalistischen Aufklärer Euemerus (§ 16) ins Lateinische übertrug und zwar nicht die Götter, aber eine göttliche Vorsehung leugnete. Den Sokrates erklärte Cato für einen mit Recht hingerichteten Schwätzer, und noch in den Jahren 173, 161 und 155 wurden auf sein Betreiben Senatsbeschlüsse gefaßt, durch welche die griechischen Rhetoren und Philosophen - im letzten Falle die mehrerwähnten drei athenischen Gesandten - aus Rom ausgewiesen wurden. Allein mit dem zunehmenden Verfall des Glaubens und der Sitte der Väter und mit der Entwicklung des Reiches zum Weltreich konnte man dem Eindringen griechischer Philosophie nicht mehr durch Gewaltmaßregeln wehren, zumal da dem, was der gebildete Römer in erster Linie von der Philosophie zu erlangen wünschte: Belehrung über die sittliche Aufgabe des Menschen und den besten Weg zur Glückseligkeit, daneben theoretische Vorbildung zur öffentlichen Laufbahn, gerade die Philosophie der hellenistischen Schulen entgegenkam. Griechische Philosophen, wie Panätius, kamen nun nach Rom, und noch häufiger begab sich die vornehme Jugend auf kürzere oder längere Zeit nach den Hauptstätten griechischer Weisheit: Athen, Rhodus und Alexandrien, um die Vorträge berühmter Rhetoren und Philosophen zu hören. Es wurde das bald ebenso als ein Erfordernis höherer Bildung betrachtet, wie heutzutage etwa der Besuch der Universität. Dennoch hat die Philosophie in Rom nie recht heimisch zu werden vermocht. Die Mehrzahl der Philosophen, die wir zu erwähnen haben werden, sind nicht römischer Abstammung, und, die es waren, haben auf diesem Felde nichts Neues, Eigenartiges geleistet, geschweige denn einen wissenschaftlichen Fortschritt gezeitigt, sondern in der Regel nur eine Wiederholung oder Umschreibung des von den Griechen bereits Geleisteten geliefert.

Alle griechischen Philosophenschulen haben allmählich Eingang bei den Römern gefunden. Zunächst und am meisten diejenige, die der Mannhaftigkeit (virtus) und dem Staatssinn, zugleich aber auch dem Tugendstolz des Römers und seiner Neigung zur moralischen Kasuistik bezw. juristischen Haarspalterei am weitesten entgegenkam und der römischen Volksund Staatsreligion sich am besten anzupassen wußte: die sogenannte mittlere Stoa. Sind ihre wichtigsten Vertreter auch noch Griechen von Geburt, so wirken sie doch bereits nicht bloß im römischen Reich, sondern hauptsächlich auch auf Römer. So lebte Panätius von Rhodus (um 180-110) lebte mit dem Geschichtsschreiber Polybios zusammen längere Zeit in Rom und gewann dort den jüngeren Scipio (Ämilianus) und Lälius nebst ihrem ganzen Kreis für die Philosophie. Wie fast alle späteren Stoiker, faßte er die Philosophie rein von der praktischen Seite; auf die theoretischen Schulsätze legte er keinen besonderen Wert mehr. Neben den Häuptern seiner eigenen Schule hält er auch die klassischen Philosophen Demokrit, Plato und Aristoteles hoch und führt sie häufig in seinen Schriften an. Durch Milderung stoischer Härten, z.B. Anerkennung der äußeren Güter als zur Glückseligkeit mitwirkend, sowie durch gewandte und geschmackvolle Darstellung wußte er der von ihm vertretenen Richtung viele Freunde zu erwerben. Folgenreich ward insbesondere die Verbindung der naturrechtlichen Theorie der Stoa mit der positiven Rechtswissenschaft der Römer. Zur stoischen Lehre bekannten sich so bedeutende Gelehrte und Staatsmänner des scipionischen Kreises wie Stilo und Q. Scävola, die »Begründer der wissenschaftlichen Philologie und wissenschaftlichen Jurisprudenz« (Mommsen). Aus der Verschmelzung von stoischer Philosophie und römischer Religion entstand eine Art philosophischer Staatsreligion der Gebildeten. Höchstwahrscheinlich von Panätius hatte derselbe Scävola, der zugleich auch Pontifex Maximus war, seine Lehre von der dreifachen Theologie: der Dichter, Philosophen und Staatsmänner, entlehnt. Die mythologische Darstellung der ersteren sei unwahr und unwürdig, die vernunftgemäße der Philosophen zwar wahr, aber für die Masse unbrauchbar, die dritte, die den herkömmlichen Kultus aufrecht hält, unentbehrlich. Von den Schriften des Panätius ist nichts auf uns gekommen, doch können wir auf ihren Inhalt schließen aus Ciceros drei Büchern De officiis, denen Panätius' Schrift Über das Geziemende (peri tou kathêkontos) zugrunde lag.

In noch stärkerem Maße als sein Lehrer Panätius verschmolz Posidonius aus Syrien (um 130-50), der glänzende und viel (u. a. auch von Cicero und Pompejus) besuchte Vorträge zu Rhodus hielt, platonische, aristotelische und andere frühere Lehren mit der stoischen.

Neben der Vernunft nahm er auch Gemüt und Begierde als besondere Seelenvermögen an, aus denen er die Affekte herleitete. Im ganzen erscheint er dogmatischer als sein Vorgänger. Er galt als der Gelehrteste und Wissenschaftlichste unter den Stoikern. Seine Forschungen und Schriften erstreckten sich auf so ziemlich alle positiven Wissenschaften seiner Zeit: Mathematik, Astronomie, Physik, Geographie, Geschichte und Grammatik, sodass er von Th. Gomperz als der einzige griechische Universalgelehrte nach Aristoteles bezeichnet wird.

Von den durch den Stoizismus beeinflußten Römern der nächsten und folgenden Generation nennen wir noch den jüngeren Cato (von Utika), der die stoischen Grundsätze durch seine Lebensführung und durch seinen Tod (46). bewährte, sowie den bekannten Geographen Strabo (58 v. Chr. bis 22. nach Chr.).

 

Literatur: Über diese verhältnismäßig noch am wenigsten durchforschte Periode der antiken Philosophie vergleiche, außer den allgemeinen Darstellungen: E. Zeller, Religion und Philosophie bei den Römern (Vortr. u. Abh. II, 93-135). Mommsen, Röm. Gesch. II, 421 ff. Teuffel, Gesch. d. röm. Liter., § 48; besonders aber: Schmekel, Die Philosophie der mittleren Stoa in ihrem geschichtlichen Zusammenhang. Berlin 1892.


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