1. Lukrez und der Epikureismus.


Eine von den wenigen feurigen Naturen unter den Römern, die sich einem bestimmten System mit ganzer Seele hingaben und dasselbe von Grund aus zu erfassen strebten, war der jung verstorbene römische Ritter T. Lucretius Carus (97-55 v. Chr.), dessen in sechs Büchern verfaßtes hexametrisches Lehrgedicht De rerum natura zu dem Besten gehört, was die Römer in Dichtung und Philosophie geschaffen haben. Den an sich trockenen Stoff weiß der Dichter durch seine hinreißende Begeisterung und lebendige Schilderungen aus dem Natur- und Menschenleben in altertümlich-kraftvoller Sprache zu beleben. Im Widerspruch mit der sonstigen heiteren Weise der Epikureer, geht ein Zug schwermütigen Ernstes durch das Ganze, von dem wir im folgenden eine kurze Inhaltsübersicht geben.

B. I: Die Religion ist eine Quelle von Aberglauben und Täuschung; nichts entsteht aus nichts, und nichts geht wirklich unter; die Atome oder Anfänge der Dinge (primordia, principia rerum) bewegen sich durch den leeren Raum des unendlichen Weltalls; die zweckmäßige Einrichtung der Welt ist nur ein besonderer Fall unter vielen denkbaren Fällen. - B. II behandelt die Bewegung und Beschaffenheit der Atome im Sinne Epikurs; aus einer Verbindung bestimmter Atome entsteht Empfindung; es gibt eine unendliche Zahl von Welten von ungeheurer Dauer und Größe, die doch wieder vergehen, wie denn auch unsere Erde bereits altert. - B. III bekämpft den Unsterblichkeitsglauben und die daraus entspringende Todesfurcht; die Seele wird gleichgesetzt mit der Wärme und dem Lebenshauch, der mit dem Tode aus unserem Körper entweicht. - In B. IV werden die menschlichen Empfindungen, besonders die Geschlechtsliebe, streng materialistisch erklärt. - B. V gibt eine Entstehungsgeschichte der Welt und eine Entwicklungsgeschichte der lebenden Wesen, insbesondere der Menschen, vom Urzustande an in Sprache, Kunst, Staat und Religion: eine Geschichtsphilosophie höchst fesselnder Art. Die Frömmigkeit besteht nicht in gottesdienstlichen Zeremonien, sondern darin, dass man »alles mit beruhigtem Geiste zu betrachten vermag« (pacata posse omnia mente tueri). - B. VI endlich beschäftigt sich mit außerordentlichen Naturerscheinungen (Magnetismus, Gewitter, Vulkanausbrüchen, Überschwemmungen) und den Krankheiten der Menschen. Das Werk schließt mit einer erschütternden Schilderung der Pest, während es mit einer Anrufung der lebenspendenden Göttin (Venus) begonnen hatte.

Von seinen Zeitgenossen anscheinend wenig beachtet, hat Lukrez dagegen auf den literarischen Kreis, der sich um den Kaiser Augustus und seinen Freund Mäcenas sammelte, entschiedenen Einfluß geübt. Ein solcher läßt sich namentlich bei Horaz, besonders in dessen Satiren, nachweisen, der sich bekanntlich (Epist. I, 4, 6) als ein »Schweinchen von der Herde Epikurs« bezeichnete, in späteren Jahren jedoch stoischen Anschauungen näher trat (Si fractus illabatur orbis, impavidum ferient ruinae), übrigens »auf keines Meisters Worte schwören« wollte. Auch Vergil hatte einen Epikureer zum Lehrer, und sogar Ovid zeigt sich mit Lukrez vertraut.

Selbstverständlich sind diese Dichter nicht als Philosophen anzusehen. Von anderen bekannten Männern werden auch Ciceros Freund Attikus und Cassius, der Mörder Cäsars, als Epikureer bezeichnet.

 

Literatur: Martha, Le poème de L. 4. Aufl. Paris 1885; vgl. auch die fesselnde Schilderung in F. A. Langes Gesch. d. Materialismus, Kap. 5. Die besten Ausgaben die kritische von Lachmann (2 Bde., Berlin 1850, 4. Aufl. 1871) und die mit reicher Sacherklärung versehene von Munro (3 Bde., 4. Aufl. Cambridge 1896). Deutsche Übersetzungen von Binder, Seydel und anderen (darunter Goethes Freund Knebel).


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