3. Epiktet


Epiktet, um die Mitte des ersten Jahrhunderts nach Christus zu Hierapolis in Phrygien geboren, kam früh als Sklave nach Rom, erhielt von seinem Herrn, einem Freigelassenen Neros, die Freiheit, wurde Schüler des Musonius und trat dann selbst als volkstümlicher Verkünder stoischer Grundsätze auf: zuerst In Rom, dann, nach der Vertreibung der Philosophen von dort durch Domitian (94), in der kleinen Hafenstadt Nikopolis in Epirus, wo er als weithin bekannter Sittenlehrer gegen 120 n. Chr. starb, noch nach seinem Tode von vielen hochverehrt. Seine Vorträge und Gespräche sind uns zum großen Teile in der Aufzeichnung seines Zuhörers Arrian erhalten: vier Bücher Diatribai (»Unterhaltungen«) in 95 Kapiteln, außerdem ein kurzer Auszug, das »Handbüchlein« (encheiridion) mit 52 kürzeren Abschnitten bezw. Aussprüchen, endlich noch 180 sonst überlieferte Fragmente.

Auch bei Epiktet treten Logik und Physik gänzlich zurück zugunsten des einen Lebenszweckes, der Ethik. Epiktet ist durchaus Sittenprediger, aber nie in langweiligem, sondern in stets abwechselndem Gewände, in volkstümlicher, mit packenden Gleichnissen gewürzter Redeweise. Er ähnelt darin, wie in seinem unscheinbaren Äußeren (er hatte einen lahmen Fuß; wie es heißt, durch eine Mißhandlung während seiner Sklavenzeit), weit mehr dem Sokrates als dem Seneka, welchen letzteren er auch durch die Makellosigkeit seines Charakters bei weitem überragt. Auf glänzende Darstellung legt er keinen Wert; er will seinen Zuhörern ins Gewissen reden und sie auf die Bahn des Guten lenken. Der Philosoph soll Seelenarzt sein, das kranke Gemüt heilen. Dagegen stimmt er inhaltlich vielfach mit Seneka und dem sittlich- religiösen Kern der neutestamentlichen Lehre überein. So vor allem in seiner reinen und hohen Gottesvorstellung, seiner innerlichen Gottesverehrung, seiner demütigen und vertrauensvollen Ergebenheit in das uns von der Gottheit (oder dem Schicksal) Bestimmte. Wir sind alle Gottes Kinder und müssen in diesem Bewußtsein auch die zur Prüfung über uns verhängten Übel geduldig ertragen; im äußersten Falle allerdings hält er, mit den übrigen Stoikern, den Selbstmord für erlaubt. Auch die Forderung der Seelenreinheit und Mäßigkeit, das Verbot des Schwörens und des Ehebruchs, das ganz ungriechische und unrömische starke Zurücktreten der Familie, der Freundschaft, des Staates zugunsten der allgemeinen Menschen- und Bruderliebe, die sich auch auf die Sklaven erstreckt, die Sanftmut, Barmherzigkeit und Geduld neben dem sittlichen Zorn, wo er not tut: alle diese Züge entsprechen ganz der neutestamentlichen Auffassung.

Und dennoch ist die Grundlage bei beiden eine grundsätzlich verschiedene: hier die göttliche Offenbarung der alleinige Maßstab, dort unsere Vernunft. Das A und O der epiktetischen Moral ist die Betonung dessen, »was bei uns steht« (ta eph' hêmin) und dessen, »was nicht bei uns steht« (ta ouk eph' hêmin). Dem letzteren müssen wir uns ruhig fügen, das Bewußtsein des ersteren dagegen soll uns zu energischer Anwendung des höchsten uns verliehenen Gutes, der Freiheit unseres Willens, treiben. Völlig aus eigener Kraft kann und soll der Mensch zur Erkenntnis der Wahrheit, auch Gottes, und zu sittlichem Fortschritt kommen. So will denn Epiktet auch nichts anderes als ein Stoiker sein. Die Verehrung der Schulhäupter Zeno, Kleanthes und Chrysipp verbindet sich mit der in der Schule allmählich üblich gewordenen Idealisierung des Herakles, Sokrates und Diogenes zu sittlichen Musterbildern und einer starken Annäherung an einen gemilderten Zynismus (s. auch unter 4.). Dagegen ist ein direkter Zusammenhang mit dem Christentum, wie Zahn ihn vermutet, nicht anzunehmen. Übrigens fehlt bei Epiktet der Glaube Senekas an ein persönliches Fortleben nach dem Tode.

 

Literatur: Über Epiktet vgl. die beiden gediegenen größeren Werke von Bonhöffer: Epiktet und die Stoa, Stuttgart 1890, und: Die Ethik des Stoikers Epiktet, 1894. Von seinem Verhältnis zum Christentum handelt die gleichnamige Rektoratsrede von Zahn, Erlangen 1894 und (eingehender) K. Vorländer, Christliche Gedanken eines heidnischen Philosophen. (Preuß. Jahrb. August 1897, S. 193-233). Die beste Textausgabe ist die von H. Schenkl. Lpz. 1894. Das Handbüchlein und eine Auswahl aus den »Unterhaltungen« sind neuerdings mehrfach ins Deutsche übertragen worden, u. a. von Grabisch, Jena 1905, Capelle ebend. 1906.


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Seite zuletzt aktualisiert: 14.11.2004 
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