1. Seneka


L. Annaeus Seneka (3-65 n.Chr.), zu Corduba (Cordova) in Spanien geboren, unter Claudius verbannt, dann Erzieher und später erster Minister Neros, von diesem zum Sterben genötigt, ist eine der glänzendsten Erscheinungen der Zeit. Zwar hat er sich von den Versuchungen, die stets an den im Besitze der Macht Befindlichen herantreten, nicht völlig rein gehalten, aber, was er dabei verbrach, durch einen entschlossenen Tod gesühnt. Viele seiner Schriften sind erhalten. Mit seinen stark pathetischen Tragödien haben wir es hier nicht zu tun. Auch die größtenteils auf Posidonius beruhenden sieben Bücher Quaestionum naturalium, also naturwissenschaftlicher, besonders meteorologischer, Fragen, die noch dem Mittelalter als physikalisches Lehrbuch dienten, sind philosophisch unbedeutend. Dagegen kommen für uns in Betracht seine zahlreichen, meist in Briefform geschriebenen, ethisch-religiösen Abhandlungen: Über die Vorsehung, die Standhaftigkeit des Weisen, den Zorn, die Kürze des Lebens, die Muße, das glückselige Leben, die Gemütsruhe, die Milde, die Wohltaten, endlich verschiedene Trostbriefe und vor allem die 124 »moralischen Briefe« an seinen Freund Lucilius. Ihre Vorzüge sind edle Gedanken, Fülle und Feinheit der Beobachtung, Reichtum des Wissens und glänzende, oft allzu glänzende Darstellung, ihre Schwäche Mangel an systematischem Zusammenhang, übermäßige Rhetorik und ein Haschen nach Effekt, das öfters die zugrunde liegende Lauterkeit des Gefühls überwuchert.

Wie sich schon aus den Titeln ersehen läßt, macht sich in Seneka bereits eine veränderte Richtung der stoischen Ethik bemerkbar. Nicht mehr philosophische Untersuchungen über das Wesen der Tugend treten uns vor Augen, sondern populäre Ermahnungen mit stark religiöser Färbung. »Tun, nicht Reden lehrt die Philosophie.« Man soll sie als Heilmittel, nicht als Unterhaltung betrachten. Als ethisches Ziel genügt die eine Formel: »Sich selbst getreu« (homologoumenôs) oder: »Immer das gleiche wollen und das gleiche nicht wollen.« Aber Seneka besitzt nicht mehr das Selbstvertrauen des ursprünglichen Stoizismus. Er ist vielmehr tief durchdrungen von dem Gefühl der menschlichen Schwäche und Sündhaftigkeit. Er sehnt sich nach Erlösung aus den Banden des Leibes und des Elends dieser Erde und preist den Tod als Beginn eines neuen, des wahren Lebens. Damit ist dann natürlich eine viel stärkere Betonung des religiösen Elementes verbunden: Glaube an eine Vorsehung, an Gott als unseren Vater, Ergebung in seinen Willen, Dankbarkeit für seine Wohltaten, Hoffnung auf die Fortdauer in einem besseren Jenseits, während das Diesseits nur eine Prüfungszeit ist. In sittlicher Beziehung wird Mitleid, Milde, Weltbürgertum, Menschen-, ja selbst Feindesliebe gepredigt. Auch die Sklaven sind unsere Brüder, denn ihr Geist wird nicht zum Sklaven. Seneka ist der erste Römer, der sich gegen die Gladiatorenspiele ausgesprochen hat.

Solche Anschauungen sind so offenbar mit christlichen verwandt, dass man Seneka zum heimlichen Christen hat stempeln wollen, und dass ein erdichteter Briefwechsel Senekas mit dem Apostel Paulus (ähnliche unlautere Mittel zu vermeintlich guten Zwecken sind in den ersten christlichen Jahrhunderten nichts Seltenes) Glauben finden konnte.

 

Literatur: Aus der sehr umfangreichen Seneka-Literatur (vgl. Ueberweg-Praechter, Anhang S. 105-107) seien hervorgehoben: Chr. Baur, Seneca und Paulus in: 3 Abhandl. z. Gesch. d. alten Philos., herausgegeben von (s. Schwiegersöhne) Ed. Zelter, Lpz. 1875. A. Gercke, Seneca-Studien, Jahrb. f. Klass. Philol., Suppl.-Bd. 22 (1896). Neue kritische Ausgabe seiner philosophischen Werke bei Teubner (seit 1898) in 4 Bänden. Eine knappe Auswahl in deutscher Übersetzung von Preisendanz (Jena, Diederichs) 1908.


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