§ 35. Allgemeine Charakteristik der Epoche.
Aristoteles' Alter fällt schon in die Zeit, in der Griechenland seine politische Selbständigkeit verlor, aber zum Ersatz dafür seine Bildung in die durch Alexanders Eroberungen erschlossene Welt hinaustrug. Griechische Kultur, insbesondere griechische Wissenschaft, ward in fortschreitendem Maße Gemeingut aller Völker, die das Mittelmeer umwohnten. Es ist die Zeit des Hellenismus, in der das staatlich ohnmächtige Hellas geistig die Welt erobert. Erst auf dem Boden der hellenistischen Diadochenstaaten, dann auf dem umfassenderen des Imperium Romanum vollzieht sich unaufhaltsam, wenn auch unscheinbar, dieser über der entgegengesetzten Entwicklung der politischen Machtverhältnisse oft übersehene Prozeß, der in gewissem Sinne bis in unsere Tage fortdauert. In diese Wandlung der Dinge ist die griechische Philosophie, als edelste Verkörperung des griechischen Geistes, nicht nur mit eingeschlossen, sondern sie stellt auch in ihrer eigenen Entwicklung eine Parallele dazu im kleinen dar. Was sie an Tiefe und Ursprünglichkeit verliert, gewinnt sie an Breite, Ausdehnung und praktischer Bedeutung. In Plato hatte sich die ungebrochene Kraft und Fülle des griechischen Geistes am reichsten und glänzendsten offenbart; Wissenschaft und Lebensanschauung sind bei ihm noch aufs innigste verschmolzen. In Aristoteles tritt schon der Gegensatz von Theorie und Praxis hervor. Allein er faßt doch zum Schlusse noch einmal das gesamte theoretische und praktische Denken der Hellenen in einem großen philosophischen System zusammen. Aber damit scheint sich auch der systembildende Geist der Griechen recht eigentlich erschöpft zu haben. Nachdem alle möglichen Arten der Welterklärung vertreten und zuletzt von den beiden großen Systematikern berücksichtigt worden waren, beginnt jetzt die Zeit der Epigonen, die, ohne eigene philosophische Genialität, in der Aneignung und Fortbildung der vorhandenen philosophischen Gedanken ihre Aufgabe erblicken.
Mit diesem Erlahmen der philosophischen Schöpferkraft hängt eine weitere Erscheinung zusammen. Die Wendung der Wissenschaft vom Allgemeinen zur Einzelforschung, die zur Zeit der Sophistik schon begonnen hatte (§ 10), tritt nun auf allen Gebieten ein. Bis dahin war der Philosoph in der Regel zugleich auch Mathematiker, Astronom, Physiker, Rhetor und Politiker gewesen. Jetzt erhält jede Einzelwissenschaft ihre besonderen Vertreter, wenn auch die Fachmänner vielfach noch einer philosophischen Schule angehören oder doch zu ihr hinneigen. Diese Spezialisierung der Wissenschaften, die Sammlung von Fachkenntnissen - aufmerksame Leser werden die Keime schon bei Aristoteles und seiner Schule entdeckt haben - trug zwar vielfach den Charakter toter Gelehrsamkeit, hat aber doch gerade auf dem Gebiete der strengeren Wissenschaften reiche Erfolge errungen, sodass für sie die Bezeichnung des Alexandrinismus, der für die schönen Wissenschaften der Charakter des Künstlichen, Geistlosen und Pedantischen anhaftet, eher als eine ehrende gelten darf. In dem Hauptsitze dieser Gelehrsamkeit, dem ägyptischen Alexandrien, das nicht zum wenigsten durch die Freigebigkeit seiner Fürsten mit Observatorien, Instrumenten, botanischen und zoologischen Gärten, einer Anatomie und besonders einer großartigen Bibliothek wohl ausgerüstet war, sowie in den davon beeinflußten Städten Pergamum, Rhodus, Syrakus u. a. feierten in der nun folgenden Epoche die Geometrie in Euklid, die Grammatik in Aristarch von Alexandrien, die Astronomie in Hipparch und Aristarch von Samos, die Geographie in Eratosthenes und Ptolemäus, Mathematik und Mechanik in Archimedes, der auch eine kürzlich wieder aufgefundene »Methodenlehre der mechanischen Lehrsätze« schrieb, ihre Sondertriumphe. Die induktive Methode, das Experiment, die Hypothese kommen immer reichlicher zur Anwendung. Durch die Bibliotheken wird nicht nur der Sammelfleiß, sondern auch die wissenschaftliche Arbeit unterstützt.
Die Philosophie aber wendet sich von dem für sie entweder durch bestimmte Schulformeln erledigten oder als unfruchtbar angesehenen Streit um die großen metaphysischen Probleme in immer steigendem Maße ab. Naturphilosophie und Erkenntnistheorie treten zugunsten materialistischer und rein erfahrungsmäßiger Anschauungen zurück. Man begnügt sich in der Regel mit der Vereinfachung oder Modifizierung früherer Systeme. Dagegen wendet man sich mit erhöhtem Interesse den praktischen Fragen zu, die Philosophie will Lebensweisheit lehren. Ihre Vertreter knüpfen in dieser Beziehung an die einseitigen Sokratiker wieder an, um sie zu vertiefen. Wie bei jenen, ist daher ihre philosophische Bedeutung weit geringer als ihre kultur- und sittengeschichtliche Wirkung. Man sucht in der Philosophie die in dieser unruhigen Zeit und bei dem Zusammenbruch der alten Glaubensvorstellungen vielen verloren gegangene innere Befriedigung und Ruhe des Gemüts wieder zu erlangen, indem man sich auf sich selbst zurückzieht. Die einen glauben sie in edlem Genuß des Lebens, die anderen in strenger Pflichterfüllung, die dritten in vorsichtiger Zurückhaltung des Urteils und dem Gefühle der festen Schranken unserer Erkenntnis zu finden. Noch später sucht man in der Verschmelzung, Vermischung oder Versöhnung der verschiedenen Standpunkte sein Heil, bis endlich der Platonismus in neuem Gewände als völlig religiöse Erlösungslehre auftritt. In der Wendung zum Praktischen liegt zugleich eine Reaktion des griechischen Volksgeistes gegen einen gewissen Intellektualismus der Geistesaristokratie; daher sie denn auch populärer wird, tiefer in die Massen dringt und ihre Vertreter öfter den mittleren und niederen Ständen entstammen. Endlich ist diese Ethik zwar ihrem Wesen nach eine individuale, aber sie überschreitet anderseits die nationalen Schranken, die bei Aristoteles und selbst bei Plato noch sichtbar waren: sie erfaßt die Idee der Menschheit.
Wir teilen diese philosophische Gesamtepoche in zwei Abschnitte:
A. Die hellenistische Periode, d.h. die Entwicklung der Philosophie in den Reichen und zur Zeit der Diadochen. Sie trägt noch ganz griechischen oder wenigstens »hellenistischen«, ihrem Inhalt nach vorzugsweise ethischen Charakter. Es gehören dahin: die ältere Stoa, die Schule Epikurs, der ältere Skeptizismus. Sie umfaßt etwa die Zeit von 300-150 v. Chr.
B. Die Philosophie auf dem Boden des römischen Weltreichs. Neben den Griechen beteiligen sich fortan auch Römer und andere Nationen an der philosophischen Arbeit. Der ethische Charakter erhält eine stetig sich steigernde religiöse Färbung, bis die Philosophie im Neuplatonismus beinahe gänzlich in Theosophie ausläuft. Hierhin gehören: die mittlere und jüngere Stoa, der jüngere Skeptizismus, Lukrez, der Eklektizismus und endlich der Neuplatonismus. Sie beginnt mit der Eroberung Griechenlands durch die Römer (Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr.) und endet erst mit den letzten Ausläufern der antiken Philosophie im 6. Jahrhundert nach Christi Geburt.