§ 21. Platos Begründung des Idealismus.
a) Charakter und Bedeutung der Idee im allgemeinen.
Platons Ideenlehre ist der erste wissenschaftliche Versuch, die Grundfrage aller Philosophie, das erkenntnistheoretische Problem, zu stellen und zu lösen: Wie ist Erkenntnis, wie ist Wissenschaft möglich?
Die Anfänge einer solchen Fragestellung leuchten bereits bei einzelnen Vorgängern Platons auf. Schon Heraklit, durch dessen Philosophie der junge Plato, wie wir wissen, hindurchging, hatte gefragt: Gibt es etwas Feststehendes oder ist alles im ewigen Flusse begriffen? Ihm gegenüber hatten die Eleaten durch ihr eines, in allem Wechsel beharrendes Sein den Keim zu dem Gedanken der Gesetzlichkeit alles Geschehenden gelegt, aber sie hatten diesen Gedanken noch nicht folgerecht zu Ende gedacht und waren bei der Behauptung eines körperlichen Seins d. i. Daseins stehen geblieben. Am weitesten in der Richtung eines wissenschaftlichen Idealismus hin war anscheinend der auffallenderweise allein unter den vorsokratischen Denkern von Platon nicht genannte große Atomist vorgedrungen, indem er der sinnlichen Welt des Parmenides als das wahrhaft Seiende die Atome und den leeren Raum, also gedankliche Notwendigkeiten und Prinzipien wissenschaftlicher Forschung, entgegenstellte. Gleichzeitig machen die Sophisten, bei aller wertvollen Betonung des denkenden Subjekts, den Rückschritt, dass sie alle allgemeingültige Erkenntnis leugnen. Dem entgegen behauptet dann Sokrates um so energischer eben diese Allgemeingültigkeit, aber er bleibt im wesentlichen bei der bloßen Behauptung als Motiv seiner kritischen Methode stehen. Er weiß, dass man Grundbegriffe und Grundsätze haben muß - und dies war ein gewaltiger Fortschritt gegenüber den vorsokratischen »Märchenerzählern«, wie Platon sagt, die nicht nach dem Grund der Erkenntnis fragen -, aber er unternimmt es noch nicht, sie positiv zu entwickeln; während das Interesse der »einseitigen Sokratiker « fast ausschließlich dem besten Wege zur Glückseligkeit gilt. Der wahre Fortbildner des Sokrates ist erst Platon, indem er den sokratischen Begriff vertieft und zur Idee erhebt.
Eine ausdrückliche Einführung und zusammenhängende Begründung der Ideenlehre freilich, wie sie Platons mündliche Vorträge gewiß gaben, ist in keinem der uns überlieferten platonischen Dialoge enthalten. Die erkenntnistheoretischen Vorstufen entwickelt am eingehendsten der Theätet. Die unterste ist die der sinnlichen Wahrnehmung (aisthêsis) nebst der Empfindung. Aber bei dem Zustande des beständigen Fließens und Werdens, in dem sich alle Sinnendinge befinden, können die Sinne keine feste und deutliche Erkenntnis liefern; für sich allein, führen sie nur zu der Annahme einer vollkommenen Relativität, wie sie sich in dem Satze des Protagoras aussprach. Die Wahrnehmung setzt jedoch - denn die Sinne sind nur ihre Werkzeuge - bereits eine zusammenfassende, vergleichende, überlegende Tätigkeit der Seele voraus, die zur Bildung einer Meinung oder Vorstellung (doxa) führt. Diese mag nun zwar, zumal wenn sie sich zur »richtigen« Vorstellung (doxa alêthês meta logou) erhebt, für das gewöhnliche Denken und Handeln von großer Wichtigkeit sein: das wahrhaft philosophische Streben (der Eros) kann sich bei ihr nicht beruhigen. Es ist auf das Bleibende im Flusse der Erscheinungen gerichtet. Nur die Erkenntnis dieses Bleibenden oder Seienden (on) kann in Wahrheit Wissenschaft (epistêmê) heißen. Dieses Sein aber kann nicht das körperliche Sein der Eleaten sein, sondern nur das der Begriffe (Sokrates).
Damit stehen wir an der Quelle des Idealismus und zugleich alles wissenschaftlichen Denkens. Platon faßt zum erstenmal in voller grundsätzlicher Klarheit den Gedanken eines anderen als des körperlichen Seins (Daseins), nämlich den eines rein gedanklichen, »idealen« Seins, welches ist, dadurch, dass es gedacht wird. Die Idee wird daher als ein »Sein« (ousia) bezeichnet. Die griechische Sprache bot eben Plato kein anderes Wort dar als dieses, welches zugleich das Dasein der Sinnendinge ausdrückt. Keineswegs in dogmatischem Tone wird diese Behauptung aufgestellt. Vielmehr rührt uns gerade an den Stellen, welche die Ideenlehre zuerst entwickeln, die Bescheidenheit des Entdeckers, das Staunen über die eigene. Weisheit, die Kritik, die an den eigenen Gedanken geübt wird. Den Theätet läßt er einen Schwindel überkommen beim Anhören der neuen Lehre, die dem großen Haufen als etwas Kindisches (Theätet, Phileb), als ein Geschwätz (Phädo, Parmenides), ja ihm selbst bisweilen als ein Traum (Kratylus) erscheint. Er gerät in Stammeln, in eine Art heiligen Schauers (Phädrus), in dem ihm die Worte fehlen für das, was ihn beim Schauen der Ideen bewegt. Denn das »Erfinden« der Idee ist, wie ihr Name (von idein) sagt, mehr ein künstlerisches Schauen, ein »seherisches Ahnen« (Phileb 64 A) als verstandesmäßiges Erkennen. An einer ganzen Reihe von Stellen (vgl. Cohen a. a. O. S. 433 ff., Auffarth S. 85) wird denn auch das Wort idea in Verbindung mit den Bezeichnungen des Schauens (horan, blepein, idein) gebraucht. »Auf die Idee hinschauend« verfertigt der Tischler seine Bettstelle, der Künstler sein Werk. 'Idea ist daher nicht, wie Zeller meint, identisch mit eidos (Gattung), sondern mehr als dies. Besonders in der zweiten Schriftstellerperiode Platons bildet sich der Unterschied zwischen beiden heraus: eidos geht mehr auf den Umfang, idea auf die Einheit des Begriffs. Und von diesem bloßen Akte geistiger Tätigkeit geht dann die Bedeutung der Idee über auf das Geschaute selbst, d.h. auf die durch jenes Schauen zustande gekommene einheitliche Grundanschauung oder »Gestalt«, in der sich der Gegenstand dem »Blick« darstellt.
Zur Ideenschau wird daher erfordert Abkehr von der Außenwelt, Ruhe und Sammlung der Seele (Phaedo) und ein »Nachspüren bei sich selbst«, weil wir in ihr doch nur das »Unsrige « wiederfinden. In diesen Zusammenhang gehört der zuerst im Mono angewandte Mythus von der »Wiedererinnerung « (anamnêsis): wonach die im Schauen begriffene Seele sich an das wieder erinnert, was sie einst vor ihrem Erdendasein droben geschaut hat, da sie als Reigengenossin eines Gottes durch den Himmel zog. Es ist nur die anderwärts (z.B. im Theätet) ohne die mythische Einkleidung auftauchende Frage: Wie kommt's, dass wir Ideen haben? in ihrer Unlösbarkeit dichterisch dargestellt. Das gedankliche Vorher wird als zeitlich Früheres geschildert.
Die Idee ist also das wirkliche Sein (ontôs on, eigentlich das »seiend« Seiende), das sich Gleichbleibende (kata tauto on, hôsautôs on), das an sich Seiende (to auto kath' auto, to auto hekaston), das dem vielen Gleichnamigen eine Gemeinsame (hen epi pollôn). Sie ist deshalb ein bloßes Gedankending (noêton), ein Gedanke (noêma)oder eine Vorstellung von uns (ennoia);die Ideen heißen gelegentlich auch logoi, d. i. Vernunftgründe. Weil Platon nun sein neues Sein von der bisherigen Seinsauffassung (im Sinne des räumlich-zeitlichen Daseins) aufs Nachdrücklichste scheiden will, sucht er mit allen sprachlichen Mitteln jede Versinnlichung der Ideen von vornherein auszuschließen. Deshalb stellt er sie dar als thronend an einem »überhimmlischen Orte, dem, was droben ist, dem Gefilde der Wahrheit, als ewige, farblose, gestaltlose, untastbare, seiend seiende« (Phaedrus), an anderen Stellen als unkörperliche, unräumliche, unveränderliche, unsinnliche Wesenheiten. Es ist schwer zu begreifen, wie Aristoteles (Metaphysik I, 6) eine so offenbar mythische Einkleidung buchstäblich fassen und in leidenschaftlicher Polemik seinem Lehrer die schwärmerische und doch wieder in grob-räumlichem Denken befangene Torheit zutrauen konnte, als habe er die Ideen an einem von der ganzen übrigen Welt abgetrennten Orte ihr Sonderdasein als eine Art Geister führen lassen. Eine übertriebene Wertschätzung des Aristoteles als Berichterstatters hat leider diese mißverständliche Auffassung der platonischen Ideen als für sich bestehender Wesen in die meisten, namentlich älteren Darstellungen der platonischen Philosophie in größerem oder geringerem Maße Aufnahme finden lassen, obwohl schon Kant darauf aufmerksam gemacht hat, dass Platons »hohe Sprache« einer »milderen und der Natur der Dinge angemessenen Auslegung ganz wohl fähig« sei (Kr. d. r. V., herausgegeben von K. Vorländer, S. 318 Anm.): so dass es in der Tat »seltsam« erscheint, »wie friedlich die hergebrachte Bewunderung des platonischen Tiefsinns sich damit verträgt, ihm eine so widersinnige Meinung zuzutrauen« (Lotze, Logik S. 501). Es ist dasselbe, als ob heute jemand den »ewigen«, »unwandelbaren« Naturgesetzen eine räumliche oder gar persönliche Existenz außerhalb der Dinge zuschreiben wollte.
Wäre darüber noch ein Zweifel möglich, so würde er zerstreut durch eine weitere Wendung Platons, wonach das Ideendenken als ein Zeugen, die Idee als von uns selbst Erzeugtes dargestellt wird. Wenn der Philosoph, ja der Mensch überhaupt mit dem Schönen in Berührung kommt, erzeugt und gebiert er nur, womit seine Seele längst schwanger ging. Nicht eine fertige unveränderliche Substanz, die von außen in die Seele hinein gebracht wurde, ist die Idee, sondern sie erzeugt sich in derselben, wird von ihr hervorgebracht. Sie ist das Musterbild, das dem Künstler, das Modell, das dem Techniker, der Gedanke, der dem Philosophen innerlich vor Augen steht, worauf »hinschauend« er schafft. Und der Drang zu dieser Hervorbringung ist die Grundstimmung des Philosophen wie des Künstlers: der Eros d.h. die Liebe, die Begeisterung, das geistige Zeugungsstreben, wie es das Symposion so unübertrefflich schön für alle Zeiten geschildert hat.
Wie kann nun aber das »überhimmlische« Wesen, die Idee, ins Leben treten? Mit anderen Worten: Wie verhält sich die Idee zu den Sinnendingen der Erfahrungswelt? Über diese schwierige Frage soll der nächste Paragraph Auskunft geben.
Literatur: Vergl. die mit ebensoviel künstlerischem Schwung wie philosophischer Klarheit und Tiefe geschriebene Jugendarbeit von H. Cohen, Die platonische Ideenlehre in: Ztschr. für Völkerpsychol. u. Sprachwiss. IV, 403-464, 1866. Sig. Ribbing, Genetische Entwicklung der platonischen Ideenlehre, deutsch Lpz. 1863/64. A. Auffahrt, Die platonische Ideenlehre. Berlin 1883. Kühnemann, Grundlehren S. 238-478. Th. Gomperz, Griech. Denker, Bd. II. P. Natorp, Platos Ideenlehre, 1903 (s. S. 88). L. Robin, La théorie platonicienne des idées et des nombres d'après Aristote. Paris 1908. N. Hartmann, Platos Logik des Seins, Gießen 1909.