§ 22. Platons Begründung des Idealismus.
b) Verhältnis der Ideen zu der Sinnenwelt. Die erkenntnistheoretische Bedeutung der Mathematik.
Sollte wirklich eine so unausfüllbare Kluft bestehen zwischen den Ideen und den Sinnendingen, wie viele Plato-Darsteller meinen?
Vor Erörterung dieser Frage ist zunächst das Vorurteil zu entfernen, als habe Platon die Welt der Erfahrung mißachtet. Das haben erst Spätere, die sich auf seinen Namen beriefen, insbesondere die Neuplatoniker, getan und dadurch den Idealismus in Verruf gebracht. Platon selbst ist, als echter Idealist, so weit von solcher Verachtung entfernt, dass er die gründliche Kenntnis der Erfahrungstatsachen vielmehr als die notwendige Vorbereitung zu der Ideenerkenntnis betrachtet, und von den »Hütern« seines Idealstaats verlangt, sie sollen an »Empirie« hinter niemandem zurückstehen. So ist denn von vornherein zu erwarten, dass er eine Verknüpfung der nur scheinbar in krassem Dualismus auseinanderklaffenden Welten gesucht habe, dass seine »hohe Sprache« auch hier »einer milderen Auslegung fähig« sei. Dem entspricht denn auch der urkundliche Befund.
Unser Philosoph spricht an zahlreichen Stellen von einem Teilhaben (metechein) der Sinnendinge an den Ideen, von einer Gemeinschaft (koinônia) beider. An anderen wird das Verhältnis als Nachahmung (mimêsis) oder Ähnlichkeit, eigentlich Verähnlichung (homoiôsis) bezeichnet. Die Idee heißt weiter das Uroder Musterbild (paradeigma), dessen Abbilder (eidôla, homoiômata) die Dinge sind, in denen sie gegenwärtig ist. Wie ist ein solches Teilhaben (methexis), ein solches Gemeinschaftbesitzen (koinônein), Eine solche »Gegenwart« (parousia) zu fassen? Von denjenigen freilich nicht, welche mit Aristoteles die Ideen außer uns als starre Wesenheiten an irgendeinem »überhimmlischen« Orte suchen.
Dagegen lösen sich alle vermeintlichen Schwierigkeiten und Widersprüche leicht durch unsere (§ 21) Deutung der Idee als Gedanke. Das Urbild thront eben nicht außerhalb, sondern in der Seele des Schauenden; und das Sinnending »nimmt teil« an den Ideen und erhält »Gemeinschaft« mit ihnen, insofern es in seiner begrifflichen Reinheit gedacht wird. Ein Gegenstand wird z.B. dadurch schön, dass er als teilnehmend an der Idee, d. i. dem Wesen, dem Gesetz des Schönen gedacht wird. Übrigens finden sich neben den überschwenglichen Schilderungen von der Majestät der Ideen auch ganz nüchterne, man möchte fast sagen hausbackene Ableitungen, die mitten in die Erfahrung hinein führen: die Idee des Tisches z.B. ist der gute Tisch, die Idee des Messers das gute Messer, also das Muster oder Modell, das dem Tischler bezw. Messerschläger vor Augen steht. Wie die sinnliche Erscheinung der Idee bedarf, um durch sie zum reinen Gedanken geläutert zu werden, so bedarf die letztere der ersteren, um eben in »Erscheinung« treten zu können; wenn auch nie völlig, was die oben aufgeführten Wendungen bezeichnen. Wo anders sollte auch die Idee zur Geltung und Wirksamkeit gelangen können als eben in der Erfahrung? Sein und Dasein werden nur deshalb erkenntniskritisch scharf geschieden, damit sie sich nachher um so inniger verbinden. Nur am Dasein und Werden läßt sich das Sein aufzeigen; das »An sich« fordert sein Werden in der Erscheinung, das Eine die Vielen. Von der Idee des Gleichen z.B. wird (Phaedo 75 A) gesagt, dass sie sich nirgendwo anders vorstellen lasse, als bei dem Sehen oder Berühren oder irgendeiner anderen Wahrnehmung. Freilich nicht durch sie, wohl aber anläßlich derselben entsteht die Idee (vgl. Staat 526D. 527B.). Kurz, die Ideen bekommen Sinn und Geltung erst dadurch, dass sie sich in Erfahrung umsetzen lassen, am letzten Ende auf Sinnendinge beziehen. So gibt es denn auch Ideen von allen möglichen Dingen: konkreten (Mensch, Tisch, Bett) wie abstrakten (Große, Gesundheit, Stärke, Hauptwort, Einheit, Vielheit), Gutem und Schlechtem, Hohem und Niedrigem, Kunst- wie Naturerzeugnissen. In den späteren Dialogen werden neben den ethisch wertvollen die mathematischen Bestimmungen bevorzugt: das Große und Kleine, Gerade und Ungerade, Doppelte und Einfache usw. Damit kommen wir zu einem erst neuerdings nach Verdienst gewürdigten Momente in Platons Begründung des Idealismus: der methodischen Bedeutung der Mathematik.
Platons Verdienste um die Förderung einzelner mathematischer Probleme wie der Mathematik als Wissenschaft überhaupt sind von den Historikern der letzteren (Cantor, Hankel, S. Günther) sowie in Einzeluntersuchungen (von Blass, Friedlein, Görland, Rothlauf u. a.) anerkannt. Außer der Verschärfung der Definitionen und Verbesserung der Fachausdrücke verdankt man ihm namentlich die wichtige Unterscheidung des analytischen und synthetischen Beweisverfahrens. Und wie eifrig die Mathematik in seiner Schule gepflegt ward, davon zeugte nicht nur das Wort, das über dem Eingang der Akademie gestanden haben soll: Mêdeis ageômetrêtos eisitô, sondern auch die praktischen Leistungen seiner Schüler Theätet, Speusippos und Xenokrates. Uns geht jedoch nur die methodisch-philosophische Bedeutung an, die Platon der Mathematik nach dem Zeugnis des Aristoteles zuwies, indem er das mathematische Denken (die dianoia) »in die Mitte stellte« zwischen die sinnliche Wahrnehmung und das vernunftgemäße Denken. In der Tat erscheint bei ihm die Mathematik als das Bindeglied zwischen den Sinnendingen und den Ideen, insbesondere im Meno und im 7. Buch (Abschnitt 521 bis 535) der Politeia.
Welche Wissenschaft, fragt Plato bei Erörterung der Erziehung im Idealstaate, führt vom Werdenden zum Seienden? Zunächst, lautet die Antwort, die Arithmetik. Es gibt (ebd. 523) »in den Wahrnehmungen einiges, was das reine Denken (die noêsis) gar nicht zur Betrachtung herbeiruft, weil eben die Wahrnehmung als Maßstab genügt, anderes aber, was es auf alle Weise dazu auffordert«, da die Wahrnehmung allein dabei »nichts Gesundes« ausrichtet. Dieser Wecker zum reinen Denken ist die Zahlenkunst.
Deshalb sollen die künftigen Philosophen sie auch genau ergründen, bis sie in ihrem Denken zur »Schau« (thea, wie bei den Ideen!) und dem Wesen (physis) der Zahlen vorgedrungen sind, und zwar nicht um des banausischen und technischen Nutzens, sondern rein um der Erkenntnis willen. Desgleichen die Geometrie, denn diese ist »die Erkenntnis des beständig Seienden« (526) und zieht die Seele zur Wahrheit empor. Die Mathematiker bedienen sich der sichtbaren Gestalten (eidê) nur als Beispiele und Schatten, indem sie, von dem Viereck selbst und der Diagonale selbst ihre Beweise führend, »auf jenes Selbst hinschauen (idein), was man nicht wohl anders sehen kann als mit dem Verstande« (510). In bedingtem Maße sind auch die Stereometrie und die Astronomie beteiligt; sie sind jedoch, namentlich die erstere, als Wissenschaften noch nicht genug entwickelt (528). Wenn also gefragt wird, wie ein Zusammenhang zwischen der sinnlichen Wirklichkeit und dem ganz unsinnlichen, nur im Denken bestehenden Sein der Ideen möglich sei, so ist hinzuweisen auf die geometrischen Gebilde und Zahlen, als die Vermittler zwischen Idee und Erscheinung. An anderer Stelle (Staat X, 602) werden nicht minder bestimmt Maß, Zahl und Gewicht als die vortrefflichsten wissenschaftlichen Mittel bezeichnet, unsere Wahrnehmungen über den Wandel bloß sinnlicher Empfindungen zu erheben. Auch Phädo und Protagoras weisen ähnliche Stellen auf, und im Meno (87 ff.) wird dem mathematischen Wissen derselbe Ursprung, wie dem dialektischen, in der anamnêsis (s. oben) zuerkannt.