§ 22. Platons Begründung des Idealismus.

 

Im Meno findet sich auch eine weitere, wichtige Bezeichnung der Idee, die der mathematischen Methode entlehnt ist: als Hypothese (hypothesis), nicht in der heutigen abgeschwächten Bedeutung als unsicherer Annahme, sondern in dem bestimmten Sinne, den die eben von Platon erst recht an das Licht gestellte analytische Methode der Mathematik damit verbindet: als einer Voraussetzung, die das Gesuchte vorläufig als gefunden annimmt, um es dann durch die aus ihr gezogenen Folgerungen und deren Verknüpfung wiederzufinden. Auf die Idee angewandt, bedeutet also die Hypothesis die sichere Voraussetzung oder Grundannahme, von der aus sich eine befriedigende Erklärung der Erfahrungswelt gewinnen läßt. So bezeichnet sie im Parmenides (128 D, 137 B) den Kern und obersten Satz eines philosophischen Systems, der den Schlüssel und die Erklärung zu dessen einzelnen Sätzen gibt. Besonders deutlich bezeichnet Platon im Phädo, gerade bei der Einführung in seine Ideenlehre, das hypothetische Verfahren ausdrücklich als seine eigene Methode, als »gar nichts Neues, sondern, was ich sonst immer, so auch in der eben durchgeführten Rede gar nicht aufgehört habe zu sagen «, indem ich »jedesmal den Vernunftgrund zugrunde lege (hypothemenos), den ich für den stärksten halte und, was mir mit diesem übereinzustimmen scheint, als wahrhaft seiend setze« (99 ff., ähnlich Staat IV, 437 A). So tritt auch in dieser neuen Bezeichnung der undingliche, vielmehr erkenntnistheoretische Charakter der Idee klar hervor. Sie ist die letzte Voraussetzung,

Unterlage, selbst unbedingte (anypotheton) Bedingung alles wissenschaftlichen Denkens oder der »Grundsatz « im eigentlichsten Sinne des Wortes.

Die Wissenschaft von den reinen Ideen nennt Platon die Dialektik, weil die in der Unterredung mit anderen gemeinsam erfolgende Erzeugung der Begriffe zum Reiche der Ideen führt. Sie ist gleichsam der Sims über den Wissenschaften, die höchste Gabe der Götter, das wahre Feuer des Prometheus; sie hat die Aufgabe, durch Zurückführen des Mannigfaltigen auf einen Gattungsbegriff (synagôgê) und dann wieder Zerlegung des letzteren in seine Arten (dihairesis), die richtige Vorstellung (S. 94) durch Abstreifung alles Schwankenden und Subjektiven zur Objektivität, Realität und Einheitlichkeit der Idee zu läutern. Nur der »zusammenschauen kann« (synoptikos), also der Systematiker, ist der wahre Dialektiker (Staa 537 C).

Wenn nun Platon so die Welt der Sinne und des ewigen Wechsels zum Sein und Geltungswert der Idee, d.h. mit modernem Ausdruck: des Gesetzes, zu erheben strebt, was bleibt da von der sinnlichen Erscheinung noch als Rest übrig? Man antwortet gewöhnlich mit Aristoteles: die Materie als eine Art regellosen Chaos oder als das Nichtseiende (mê on). Nun findet sich aber das Wort für die Aristotelische Materie (hylê), wie Zeller selbst nachweist, noch nicht bei Platon, und das mê on erscheint im »Sophisten« nur als Idee des Andersseins oder der Verschiedenheit, steht also zur Idee selbst keineswegs im Gegensatz. Vielleicht dürfte auch auf die vielumstrittene platonische Auffassung der Materie von seiten des Mathematischen ein neues Licht fallen. Zuvor aber haben wir zu verfolgen, wie sich eine Steigerung der Wertschätzung der Mathematik als methodischen Faktors in Platons spätesten Dialogen vollzieht. Die vielfach noch nicht geklärten Beziehungen zur pythagoreischen Zahlenspekulation im Timaeus lassen wir hierbei zur Seite. Uns interessiert nur das für die Begründung des Idealismus wichtige Moment.

Schon der ›Politikos‹ (283-285) macht das Werden und Bestehen der Sinnendinge als zweckmäßiger Daseinsgebilde davon abhängig, dass sie nach festen, »im Hinblick auf die Idee« gesetzten Maßbestimmungen meßbar (metria) sind. Und in dem in dieser Hinsicht noch nicht hinreichend gewürdigten Philebos (55 ff.) wird der Wert der technischen Künste in bezug auf Sicherheit, Genauigkeit und Wissenschaftlichkeit nach dem Maße bestimmt, in dem sie sich der Mathematik bedienen; die Musik z.B. wird von der Baukunst bei weitem an Genauigkeit übertroffen, die letztere wieder von der Rechenkunst, Meßkunst und Statik. Die tiefere Begründung dieser grundlegenden Bedeutung der Mathematik ist in einem früheren Abschnitte des Philebos (23 ff.) gegeben worden. Plato unterscheidet dort drei Klassen des sinnlichen Seins (der Naturdinge): 1. das Unbestimmte oder Unbegrenzte (apeiron), z.B. das Warme und Kalte, Trockene und Feuchte, Schnelle und Langsame, Hohe und Tiefe u. ä. Dieses Unbestimmte harrt seiner Bestimmung durch die 2. Gattung des Seienden: die Bestimmung oder die Grenze (peras), deren mathematische Natur unverkennbar aus den von Plato gewählten Beispielen hervorgeht. Aus der Vereinigung des mathematisch Bestimmbaren und der Zahl- und Meßbestimmungen selbst entsteht als Resultat 3. das aus beiden Gemischte, d. i. die zweck»mäßig« eingerichtete Natur. Die Bedeutung des rechten Maßes (metrion), das ja überhaupt im hellenischen Charakter lag, findet sich also schon bei Platon, nicht erst in der aristotelischen Ethik. Auch hier erscheint die Mathematik als die Brücke zwischen den Ideen und der Sinnenwelt.

Das Apeiron ist zunächst gar nichts weiter als das mathematisch Bestimmbare, aber noch Unbestimmte, keinesfalls Materie im physikalischen Sinne, sondern höchstens der Stoff unserer Gefühls-, Gehörs- und übrigen Sinnesempfindungen, wenn man das Warme, Hohe und Schnelle so nennen will. Anders im Timäus, wo Plato nach eigenem Eingeständnis (s. S. 104) keine streng wissenschaftliche, sondern nur eine »wahrscheinliche« Erklärung des organischen und anorganischen Werdens und Vergehens zu geben beabsichtigt. Die als Grundlage für diese chemischen Veränderungen hypothetisch angenommene Materie steht also außerhalb des eigentlichen Systems. Das »unsichtbare, gestaltlose, alles aufnehmende, auf merkwürdige Weise an dem Geistigen teilnehmende, schwer einzufangende« Ding von Materie wird daher auch als ein »kaum glaubhaftes« bezeichnet. Doch damit stehen wir schon in der platonischen Physik oder Naturphilosophie, von der seine Psychologie nur einen besonderen Teil bildet.

 

Literatur: H. Cohen, Platos Ideenlehre und die Mathematik. 1879. Kilb, Platos Lehre von der Materie. Diss. Marb. 1887. Natorp, a. a. O.

 

 

 


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