§ 8. Anaxagoras und die Ausläufer der Naturphilosophie.
1. Leben. Anaxagoras, um 500 in dem kleinasiatischen Klazomenai bei Smyrna geboren, wie die meisten seiner Vorgänger aus angesehenem Geschlecht, hat zuerst die Philosophie nach Athen verpflanzt, wohin er etwa 463 auswanderte. Als Freund des Perikles, des Euripides und anderer bedeutender Männer übte er dort drei Jahrzehnte lang in geistigen Dingen einen mächtigen Einfluß. Vom öffentlichen Leben hielt er sich fern und widmete sich ganz der theoretischen Forschung. Dennoch mußte er, durch die Gegner seines großen Freundes der Gottlosigkeit, d.h. der Leugnung der Staatsgötter angeklagt, noch in seinem Alter (434) Athen verlassen und verbrachte seine letzten Lebensjahre hochgeachtet zu Lampsakos in Kleinasien, wo er um 428 starb. Auch Anaxagoras ist zugleich Physiker, Chemiker, Astronom und Mathematiker. Von seiner Prosaschrift peri physeôs haben sich eine Reihe (22) Bruchstücke erhalten (hrsg. und erläutert von Schaubach, Leipzig 1827; jetzt bei Diels, Vorsokratiker, S. 326-335).
2. Naturphilosophisches Grundprinzip. Anaxagoras stimmt mit den Eleaten und Empedokles insoweit überein, als auch er kein Entstehen und Vergehen annimmt. »Das Werden und Vergehen nehmen die Hellenen mit Unrecht an; denn kein Ding wird noch vergeht es, sondern aus vorhandenen Dingen setzt es sich durch Mischung zusammen und zerfällt wieder in sie durch Scheidung; so würden sie richtiger das Werden Mischung und das Vergehen Scheidung nennen.« Nur sind es bei ihm nicht, wie bei Empedokles - seinem Vorgänger nicht der Zeit, wohl aber der Sache nach - vier, sondern unbestimmt, ja unendlich viele Samen (spermata) oder Substanzen (chrêmata), die in unendlich kleinen Bestandteilen zu allen Dingen (z.B. Fleisch, Gold, Blumen) von Anfang an vorhanden waren. Durch das gesamte Weltall in unendlich feiner Weise verteilt, unterscheiden sie sich durch Gestalt, Farbe und Geschmack. Auch bei ihm verbinden sich die gleichartigen Teilchen, von Späteren im Anschluß an Aristoteles »Homoiomerien « genannt; die ungleichartigen stoßen sich ab. Alles ist aus allem zusammengesetzt, alles hat an allem teil. Bei aller Seltsamkeit dieser Theorie bedeutet doch die Unbestimmtheit der Zahl gegenüber Empedokles' Vierzahl einen ähnlichen Fortschritt, wie Anaximanders Apeiron gegenüber dem bestimmten Urstoff des Thales. Zugleich bildet sie, als eine Art qualitativer Atomismus, einen Übergang zu Demokrit.
3. Die Nus-Lehre. Berühmter ist Anaxagoras und zwar schon im Altertum, bei Plato und Aristoteles, durch die Aufstellung eines anderen Prinzips geworden. Er fragt: Welche Kraft bewegt diese Teile? und antwortet darauf: der Nus (nous). Was bedeutet dieser Nus? Schwerlich hat Anaxagoras unter demselben schon ein rein geistiges, persönliches Wesen, eine »von allem Stoffe schlechthin gesonderte, weltenbildende, nach Zwecken handelnde Intelligenz« (Schwegler S. 45) verstanden. Er bemüht sich zwar, ihn möglichst zu vergeistigen; aber trotzdem er das »feinste und reinste« von allen Dingen, weil »mit keinem anderen vermischt«, »allein bei sich«, »unbewegt« genannt wird, haftet ihm doch immer Stoffliches an. Er bleibt Materie, wenn auch, um mit Kantschen Worten zu reden, so »überfein« gedacht, »dass man darüber schwindelig werden möchte«, und wird daher von einem neueren Historiker der Philosophie (Windelband) nicht übel als Denk- oder Vernunftstoff bezeichnet. Sein Walten wird allerdings von Anaxagoras als Erkennen (gnômê) gekennzeichnet, er zeigt Einsicht (gnôrizein) und herrscht durch sie über die Dinge, aber ähnliches haben wir auch bereits von der pythagoreischen Zahl und dem heraklitischen Logos gehört; auch sie »steuerten« und »lenkten« ja.
Jedenfalls ist er als geistiges Prinzip von Anaxagoras noch nicht genügend durchgeführt. Sonst könnte er nicht als bloßer erster Beweger (s. u.) oder als zwar ungemischt, aber doch teilbar dargestellt werden. Auch die Pflanzen haben Nus! Anaxagoras hat zwar einen starken Anlauf in der Richtung des Idealismus genommen, aber sich von der der älteren griechischen Naturphilosophie anhaftenden materiellen Vorstellungsweise noch nicht völlig loszumachen vermocht.
4. Weltentstehung. Dem Chaos des Urzustandes machte der Nus dadurch ein Ende, dass er an einem Punkte der Materie eine Wirbelbewegung hervorbrachte, die eine Scheidung der Stoffe zur Folge hatte. Zunächst entstanden der helle, leichte Äther und die dunkle, dichte Dunstluft, aus der letzteren die Erde und die anderen als glühende Steinmassen (daher die Meteoriten!) gedachten Himmelskörper. Aus der anfangs in schlammartigem Zustande befindlichen Erde gingen, befruchtet von den aus Luft und Äther niederfallenden Keimen, die lebenden Wesen hervor. Ein weiteres Eingreifen des Nus als eben jenen ersten Anstoß von außen hat Anaxagoras anscheinend nicht angenommen. Wenigstens machte Aristoteles ihm den Vorwurf, dass er ihn nur als Lückenbüßer und deus ex machina benutze, und ebenso läßt Plato im Phädo (97 C) seinen Sokrates klagen, er habe in dem Buche des Anaxagoras nicht die erhoffte teleologische, sondern nur eine mechanische Welterklärung gefunden.
5. Psychologisches. Die Seele ist unserem Philosophen, wie allen älteren Denkern der Griechen und Orientalen, nur Lebensprinzip, eigentlich Atem, Hauch (psychê). Doch unterschied er, mit Empedokles, Parmenides und Heraklit, von dem unvollkommneren Wahrnehmen - »wegen der Sinne Schwäche sind wir nicht imstande, die Wahrheit zu erkennen« - ein vollkommeneres Denken. Und zwar wohnt jedem soviel Erkenntnis bei, als in ihm von dem allgemeinen Denkstoff enthalten ist (ähnlich Heraklit). Im Gegensatz zu Empedokles dagegen lehrte er, dass wir nicht durch das Gleichartige, sondern durch das Entgegengesetzte empfinden, z.B. das kalte Wasser durch die warme Hand, das Süße durch das Saure usw. Der Tastsinn ist ihm der Ursinn, der Mensch das vernünftigste der Tiere, weil er Hände hat. Jede Wahrnehmung ist von Unlust, als dem Ausdruck des Entgegengesetzten, begleitet.
Von den Göttern wußte Anaxagoras nichts zu lehren. Auch dass ethische Fragmente von ihm nicht vorhanden sind, spricht gegen die Auffassung des Nus als eines geistig-sittlichen Prinzips.
6. Nachfolger. Der bekannteste und interessanteste von Anaxagoras' Jüngern ist der berühmte Tragödiendichter Euripides, der in offenbarem Hinblick auf die ehrwürdige Persönlichkeit des Klazomeniers die Glückseligkeit des reinen Forscherlebens im Hinschauen auf die ewigen Gesetze des Alls preist.
Dass der Nus des Anaxagoras keineswegs in idealistischem Gegensatz zur Materie stand, machen auch die Lehren zweier von ihm beeinflußten etwas späteren Denker wahrscheinlich, von denen der erstere sogar als sein Schüler bezeichnet wird: des Archelaos und des Diogenes von Apollonia (auf Kreta?).
Archelaos nannte das anfängliche Chaos, dem Anaximenes folgend, Luft und ließ ihr den Geist beigemischt sein. Bedeutender erscheint sein Zeitgenosse Diogenes, der in den »Wolken« des Aristophanes verspottet wird. Auch er verbindet Anaxagoras mit Anaximenes. Es muß ein gemeinsamer Urstoff aller Dinge angenommen werden, da sonst weder Mischung noch Wechselwirkung derselben möglich wäre. Anderseits weist die Ordnung und Verteilung aller Dinge nach Maß und Schönheit auf die Tätigkeit einer Vernunft (noêsis) hin. Dieses ewige, »gewaltige und zugleich vernünftige und viel wissende Wesen« ist ihm die alles durchdringende und steuernde Luft, aus der er dann, gleich Anaximenes, die Welt des Gewordenen durch Verdichtung und Verdünnung hervorgehen läßt. Auch die Seele ist warme Luft und bringt als solche in den lebenden Wesen Leben, Bewegung und Denken hervor. Auch über das Adersystem, die Entstehung der Sinneswahrnehmungen und andere physiologische Themata hat er bereits sinnreiche Beobachtungen angestellt und gleich Alkmäon den Sitz des Denkens in das Gehirn verlegt. Den Homer suchte er durch rationalisierende Allegorisierung (z.B. Zeus = Luft) zu retten: ein Verfahren, das in Metrodoros von Lampsakos und Theagenes von Megara seinen Gipfelpunkt erreichte und später in der Stoa fortwirkte.
Trotz seines Nus hatte sich selbst Anaxagoras zu dem Gedanken eines anderen als des materiellen, d.h. zu einem rein gedachten Sein noch nicht aufzuschwingen vermocht. Das geschieht erst in dem System des merkwürdigen und bedeutenden Mannes, der am Schlüsse dieser ersten, kosmologischen Periode der griechischen Philosophie steht, aber in verschiedener Hinsicht das wissenschaftliche Denken bereits in neue Bahnen weist: des Demokritos von Abdera.
Literatur: F. Löwy, Die Philosophie des Anaxagoras. Versuch einer Rekonstruktion, Wien 1917.