3. Erkenntniskritisches Prinzip Demokrits
Mögen sich auch Leukipp oder Demokrit selbst der Tragweite ihrer neuen Hypothese noch nicht bewußt gewesen sein: es erinnert doch schon an die Grundlagen der modernen Naturwissenschaft, insbesondere der Physik und Chemie, wenn der letztere (bei Sextus Empirikus) den Satz ausspricht: »In Wahrheit sind die Atome und das Leere« (eteê de atoma kai kenon). Oder, wie ein anderer Satz sich ausdrückt: »Das Nichts existiert ebensogut als das Ichts« (ouden mallon to on tou mê ontos einai). Das Sein der Eleaten ist noch die einfache sinnliche Wirklichkeit, das Dasein; insofern sind sie trotz ihrer Bekämpfung der sinnlichen Wahrnehmung noch naive Materialisten. Demokrit dagegen denkt zum erstenmal - soweit wir aus den dürftigen Fragmenten uns ein Bild zu machen vermögen - ein Sein ohne Materie, erhebt den wissenschaftlichen Begriff der nicht wahrnehmbaren Atome und des Leeren zum wahren Sein und nähert sich so der modernen Naturauffassung. Jene leugnen das Leere, da es für ihre rein körperliche Auffassung der Dinge nicht faßbar ist; dieser erklärt es als gedankliche Notwendigkeit, bei der nicht zu leugnenden Vielheit und Bewegung: eine Denkweise, die der mathematischen mindestens sehr nahe steht, und wozu auch die Notiz des Sextus Empirikus (VIII, 6) stimmt: »Die Anhänger des Plato und Demokrit nahmen an, dass allein die Gedankendinge (ta noêta) wahr seien.« Daher hat Cohens10 Vermutung, er sei durch die Pythagoreer beeinflußt worden, die ein »Leeres« als Trennungsprinzip annahmen, etwas für sich. Demokrits »Vernunftgründe« sind, wie die platonischen Ideen, hypotheseis, d.h. Grundannahmen, um die Welt der Erscheinungen »aufrecht zu erhaltenü; es sind, modern ausgedrückt, die mathematischen Grundlagen der Naturerklärung.
Zu dem »eigentlich« Seienden (kyriôs on), d. i. den Atomen und dem Leeren, steht im Gegensatz das Sein der »Satzung«, d. i. der herrschenden Meinung nach (nomô on). »Der Satzung nach« gibt es Süß und Sauer, Warm und Kalt, Farbe. »An sich« ist nur die reine Form (schêma), d. i. das Atom, »das Süße aber und überhaupt das sinnlich Wahrnehmbare im Verhältnis zu einem anderen und in anderem« Somit wird die Relativität und Subjektivität aller Sinnenerkenntnis ausdrücklich anerkannt, die an anderer Stelle auch als »unebenbürtige« oder »dunkle« bezeichnet wird, und zu der »alles Sehen, Hören, Riechen, Kosten und Tasten gehört« Im Gegensatz dazu steht die »echte« oder »vollbürtige« (gnêsiê), von Sextus Empirikus als »Verstand« bezeichnete Erkenntnis, die beginnt, wo jene nicht mehr ausreicht »und auf ein Feineres -«; leider bricht hier der Berichterstatter ab. Auf die Subjektivität der Sinnenerkenntnis gehen wohl auch gelegentliche skeptische Aussprüche, wie, dass wir »in Wahrheit nichts wissen«, dass der Mensch von dem »in Wirklichkeit« fern ist, dass die Wahrheit »in der Tiefe« verborgen ruht. Dass Demokrit indes nicht bei bloßer Skepsis stehen geblieben ist, beweist schon seine gut bezeugte Gegnerschaft gegen den Sophisten Protagoras. Dennoch spricht er der Sinnlichkeit eine gewisse beschränkte Gültigkeit zu. Er leugnet die Erscheinungen nicht, aber er will sie mit den Mitteln begrifflichen Denkens erklären. Und in diesem Sinne ist er kein sensualistischer Materialist, sondern eher ein kritischer Idealist zu nennen, freilich ein solcher erst im Keime.