2. Prinzip
Heraklit stellt sich in bewußten Gegensatz nicht nur zur Menge, sondern auch zu seinen nächsten philosophischen Vorgängern und Zeitgenossen; nur die milesischen Naturphilosophen tadelt er nicht, an deren zweiten (Anaximander) er in der Tat auch in manchem erinnert. Die Menge sei taub für die Wahrheit, auch wenn diese ihr nahe trete, und halte sich in ihrem Unverstande lieber an die Gesänge der Dichter, von denen er besonders Homer, Hesiod und Archilochos bekämpft, und den Troß vorgeblicher Lehrer. Vielwisserei sei eine schlechte Kunst und belehre den Geist nicht; das sehe man an Hesiod und Pythagoras, Xenophanes und Hekataios. Er selbst ist sich offenbar bewußt, eine völlig neue Bahn zu eröffnen, die er durch eigenes Ringen gefunden hat. »Ich erforschte mich selbst,« sagt er einmal voll stolzen Selbstgefühls. Das menschliche Bewußtsein tritt dem Objekt gegenüber.
Der Grundgedanke der neuen Lehre ist der: In der gewöhnlichen Ansicht vom Sein der Dinge steckt ein Vorurteil, wir müssen sie als werdende betrachten. Es gibt nichts Festes und Beharrliches in der Welt. Panta rhei, d. i. Alles ist im Flusse, in ewigem Wechsel und Werden begriffen. »Nicht zweimal können wir in denselben Fluß hineinsteigen,« lautet sein Lieblingsgleichnis, »denn neue und immer neue Gewässerströmen ihm zu.« Aus Einem wird Alles, aus Allem Eines. Zu dem verschiedenen Nacheinander tritt dann das entgegengesetzte Nebeneinander: »Das Meerwasser ist das reinste und abscheulichste, für die Fische trinkbar und heilsam, für die Menschen untrinkbar und verderblich.« Und zu dem Nebeneinander das schon bei Anaximander im Keime vorhandene Zugleichsein der Gegensätze, an deren Ausmalung unser Dichter-Denker geradezu seine Freude hat. Leben und Tod, Wachen und Schlafen, Mischung und Trennung, Entstehen und Vergehen, Alt und Jung, Sterblich und Unsterblich, Gerade und Krumm, Männliches und Weibliches, Hohes und Tiefes, ja auch Gutes und Böses: - es ist dasselbe. Sie alle sind nur verschiedene Formen des nämlichen Prozesses. Der Kosmos gleicht einem beständig umgerührten Mischtrank.
Wie entsteht nun trotz dieser ewigen Bewegung der Schein des Beharrens, inmitten des steten Werdens der Schein des Seins? »Durch den Gegenlauf,« antwortet Heraklit. Der »Streit« ist nicht bloß der Herr und »König«, sondern auch der »Vater« aller Dinge; Gegensatz erzeugt Einheit. Entgegengesetztes vereinigt sich zum Heilsamen. Krankheit macht die Gesundheit süß, Hunger die Sättigung, Arbeit die Ruhe. So wird die Welt der Gegensätze zu einer großen Harmonie, »in sich zurückkehrend, gleich der des Bogens und der Leier«, wie das von Heraklit gern gebrauchte, etwas dunkle Bild für das Auseinanderstrebende, das wieder zusammengeht, lautet.