1. Pythagoras und seine Jünger
Über Pythagoras und seine Schule mangelt es zwar keineswegs an Nachrichten, aber der echte Kern derselben ist dermaßen von späteren Entstellungen und Fabeleien überwuchert, dass es schwer hält, zumal da wir keine einzige Zeile von seiner Hand besitzen, die Wahrheit herauszuschälen. Bei den Neupythagoreern des 3. und 4. Jahrhunderts nach Chr. ist aus dem religiösen Weisen schließlich ein Sohn Apollons, ein allmächtiger Wundertäter, ein allwissender Seher geworden. Die über ihn erzählten Geschichten erinnern lebhaft an die Heiligenlegenden des Mittelalters. Als geschichtlich gesichert ist etwa folgendes anzusehen:
Pythagoras ward um 580 auf der Insel Samos geboren, die damals bereits einen hohen Grad von Kultur, namentlich auch in der Technik (Heratempel, Tunnelbohrungen) erreicht hatte, und bereicherte überdies sein Wissen auf den mannigfachsten Gebieten durch Studien und Reisen. Sein Gegner Heraklit wirft ihm »Vielwisserei« vor. In der Kraft seiner Mannesjahre wanderte er, vielleicht um sich der Tyrannis des Polykrates zu entziehen, nachdem unteritalienischen Kroton aus und gründete dort einen Verein oder Orden, der sich mit den Formen des damaligen Mysterienwesens umgab. Die religiöse Bewegung, die um diese Zeit durch die gesamte griechische Welt ging und die auf eine Wiedergeburt der Volksreligion abzielte, suchte er, indem er sie mit wissenschaftlichen Bestrebungen verquickte, auch in die höheren Gesellschaftsschichten einzuführen. Die Geweihten verpflichteten sich zu einer ernsten sittlichreligiösen Lebensführung. Offenbar im Anschluß an dorische Stammesart, galten Mäßigkeit, Einfachheit, Abhärtung, Gesundheit des Leibes und der Seele, unbedingte Treue gegen Götter, Eltern, Freunde und Gesetz, sowie eine weitgehende Selbstbeherrschung und Unterordnung als die Haupttugenden des »pythagoreischen Lebens« Tägliche Selbstprüfung war jedem Mitgliede auferlegt: Was tat ich? Worin fehlte ich? In theoretischer Beziehung war besonders Beschäftigung mit Musik und Mathematik vorgeschrieben. Vielleicht war die Entdeckung der Tonintervalle auf der gespannten Saite, die Pythagoras zugeschrieben wird, der erste Anlaß zu der mathematischen Spekulation, die dann alle Schranken der Besonnenheit durchbrach. Das religiöse Hauptdogma war die Lehre von der Seelenwanderung und der Vergeltung nach dem Tode.
Der Bund der Pythagoreer - ihr enger Freundeszusammenhang ist bekannt - gewann bald politische Bedeutung in ganz Unteritalien: er wurde der Mittelpunkt der aristokratischen Partei, die den volkstümlichen Bestrebungen mit rücksichtsloser Schroffheit entgegentrat. Es kam vielfach zu Reibereien mit den von dem Bunde Ausgeschlossenen, insbesondere der demokratischen. Partei. Parteikämpfe dieser Art veranlaßten den greisen Pythagoras, noch in hohem Alter nach dem benachbarten Metapont auszuwandern, wo er um 500 gestorben sein soll. Noch längere Zeit behielten die Pythagoreer einen bedeutenden Einfluß in den Städten Großgriechenlands, bis um 440 (?) die Verbrennung des pythagoreischen Vereinshauses zu Kroton das Signal zu einer allgemeinen Verfolgung desselben gab, infolge deren viele umkamen, andere nach Griechenland hinüberflüchteten, um dort nunmehr in rein theoretischer Weise des Meisters Lehren zu verbreiten. Als der bedeutendste dieser jüngeren, selbständigeren Pythagoreer, die nicht mehr so ängstlich auf des Meisters Worte schwuren (autos epha!), erscheint Philolaos, der ähnlich Archimedes Theorie und Praxis verband und sich mit Lysis in Theben niederließ. Seine Schüler waren die in Platos Phädo erwähnten Simmias und Kebes; Lysis wurde der Lehrer des jungen Epaminondas. Zu Platos Zeit erscheint übrigens wieder ein Pythagoreer (Archytas) an der Spitze des mächtigen. Gemeinwesens von Tarent. Bald nach ihm scheint die pythagoreische Lehre ausgestorben zu sein, um erst ein halbes Jahrtausend später in neuem Gewände wieder zu erstehen (s. unten § 47).