2. Anaximander


Auch dieser außerordentliche Mann ist in der freien Seeluft Milets groß geworden. Etwas jünger (610-547) als Thales, ragte er gleich diesem durch mathematische und astronomische, außerdem auch geographische Kenntnisse hervor. Er verfertigte aus Erz die erste Weltkarte, entwarf eine Himmelskarte zur Orientierung der Schiffer bei Nacht und soll auch den Gebrauch der Sonnenuhr in Griechenland eingeführt haben. Auch leitete er die Anlage der Kolonie Apollonia am Pontus, sodass es wohl begreiflich ist, wenn die Milesier ihrem Mitbürger eine Ehrenbildsäule setzten, deren Überreste heute im Berliner Museum für Völkerkunde stehen. Leider sind von seiner Schrift - der, wie allen Schriften der ersten Naturphilosophen, später der Titel »Über die Natur« (peri physeôs) beigelegt wurde - nur wenige Zeilen und kein einziger vollständiger Satz auf uns gekommen.

Dennoch vermögen wir uns aus dem Überlieferten von Anaximanders Weltentstehungslehre schon ein etwas deutlicheres Bild zu machen. Der bedeutsame Fortschritt gegen Thales besteht darin, dass er nicht, wie dieser, ein bestimmtes sinnliches Element, sondern einen unbestimmten, gedachten Stoff als archê setzt. Der Urgrund aller Dinge ist für ihn das 'Apeiron, d. i. das Unendliche (oder Unbestimmte?), das dann weiter als unsterblich und unvergänglich, ungeworden und unerschöpflich, beschrieben wird. Ob er es als eine Mischung verschiedener bekannter Elemente betrachtet oder wahrscheinlicher qualitativ ganz unbestimmt gelassen hat, ist eine auch heute noch umstrittene Frage. Aus diesem unbestimmten Urstoffe ließ Anaximander durch »Aussonderung« zuerst das Kalte und das Warme hervorgehen; aus ihnen bildete sich das Flüssige, aus dem letzteren durch Austrocknung der Erde, weiter die Luft und eine beide, wie der Baum die Borke, umgebende Feuerkugel. Aus dieser hätten sich durch Bersten und Ringbildung Sonne, Mond und Sterne losgelöst, die sie in symmetrischen Abständen umkreisen; seine Theorie ist eine Vorläuferin der pythagoreischen Sphären-Harmonie (§ 3), wobei die uralt heilige Dreizahl eine geheimnisvolle Rolle spielte. Aus dem Urschlamm der walzenförmig gestalteten, von allen Punkten jenes Feuermeeres gleich weit entfernten Erde ließ unser Philosoph, wenn wir dem späten Berichte Plutarchs Glauben schenken dürfen, die ersten lebenden Wesen entstehen und sich in stufenartiger Folge allmählich weiter entwickeln. Zuerst entstanden fischartige, dann, bei zunehmender Austrocknung der Erde, aus diesen Landtiere; die Entwicklung des Menschen dauerte am längsten. Mit den einzelnen Stufen war zugleich eine Umwandlung der Lebensweise verbunden: wie man sieht, eine höchst interessante, wenn auch noch rohe Vorausnahme der modernen Deszendenztheorie.

Und die Zukunft des Weltalls? Darüber belehrt uns das einzige wörtlich erhaltene Fragment: »Woraus die Dinge entstanden sind, darein müssen sie auch wieder vergehen nach dem Schicksal; denn sie müssen Buße und Strafe zahlen für die Schuld (sc. ihres Daseins) nach der Ordnung der Zeit.« Eine düstere, an uralte orientalische Vorstellungen gemahnende, religiös gefärbte Weltanschauung tritt uns hier entgegen. In ewigem Wechsel folgt sich eine unendliche Reihe entstehender und vergehender Welten, von der die unsrige nur einen vorübergehenden Spezialfall darstellt.

So bietet Anaximander den ersten bestimmter überlieferten Versuch einer rein natürlichen, aus einem mechanischen Prinzip hergeleiteten Welterklärung. Denn, wenn er einmal von seinem Unendlichen den Ausdruck gebraucht, es »umfasse« und »lenke« alles, und es deshalb »göttlich« nennt, so haben wir nach dem sonst über ihn Überlieferten keinen Grund, daraus auf die Annahme eines von dem Weltstoff unterschiedenen göttlichen Geistes bei ihm zu schließen. Das war erst einer späteren Periode der griechischen Philosophie vorbehalten.

 

Literatur: Schleiermacher, Über Anaximandros. Berlin 1815 [S. W. III, 2, 171-396]. - Neuhäuser, Anaximander Milesius. Bonnae 1883. - P. Natorp, Über das Prinzip und die Kosmologie Anaximanders, Philos. Monatsh. XX, 367-398. Diels, Anaximanders Kosmos. Archiv f. Gesch. der Philos. 1897, S. 278 ff.


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