Moral und Individuum
Nietzsche legt an den Zustand der Gesellschaft einen Maßstab, der ihren Wert in absolutem Gegensatz gegen alle demokratischen Ideale bestimmt.
Während für diese die Summe oder der Durchschnitt von Glück und Freiheit, von Persönlichkeitsentwicklung und Kultur über den Wert jeder historischen Epoche entscheidet, verlegt Nietzsche diesen Wert ausschließlich in diejenigen Individuen, welche das jeweilig höchste Maß solcher Kräfte, Schönheiten, Entwickeltheiten besitzen; denn nur diese gäben den Tellstrich der Entwicklung an, zu der die Menschheit es bis zu diesem Augenblick gebracht hat.
Wenn nur die jeweiligen Höhepunkte der Menschheit ihren Wert bestimmen, nur die Pioniere, die sich nicht an das Tempo der Vielen binden, so ist es freilich gleichgültig, wie hoch oder tief das Niveau der großen, dahinter zurückstehenden Masse liegt - ersichtlich übrigens eine Entscheidung der letzten Instanz des Wertbewußtseins, für die es, ebenso wenig wie für ihr Gegenteil, einen Beweis oder eine Widerlegung aus dem logischen Verstande heraus gibt.
Gilt aber so die Schätzung ausschließlich den höchsten Individuen, denen, die die Höherbildung des Typus Mensch tragen und gewährleisten, so ist nicht nur jener soziale Unterbau in seiner Beschaffenheit belanglos, sondern ebenso der Preis, der an Leiden und Entsagungen, an Härten und Opfern für den Aufstieg zu solcher Höhe gezahlt werden muss.
Darauf, ob sich der Träger solcher Werte selbst froh oder unglücklich fühlt, kann es nicht ankommen - denn das Sein der Menschen, die mit ihnen erreichte Stufe menschheitlicher Entwicklung steht in Frage, nicht der subjektive Reflex dieser Tatsache im Empfinden - außer soweit auch dieser gelegentlich in die objektive Vollendung der Menschen hineinreicht; sodaß es zu den schlimmsten Mißverständnissen der Nietzsche'schen Lehre gehört, wenn sie eines epikureischen Egoismus beschuldigt wird.
Aber freilich, auch nach aller Unterdrückung, Leiden, Unentwickeltheit der großen Masse wird nicht gefragt, die jenen die Bedingung ihres Aufsteigens bereitet, ja, die durch die relative Nichtigkeit ihres Niveaus grade erst anzeigt, daß die Menschheit in anderen Exemplaren sich nach oben entwickelt.
Da die gesamte Menschheit nicht im gleichen Tempo aufsteigen kann, da vielmehr, je schneller ihre Gipfel aufwärts wachsen, die Distanz dieser gegen die Tiefen um so größer werden muß, so ist die Unbarmherzigkeit des Oben und Unten die gar nicht überwindliche Bedingung aller Werterhöhung unserer Art.
Und damit scheint Nietzsche ein Grundgefühl Kants aus der individuellen Moral in die Gattungsethik zu übertragen.
Für Kant ist alle Moral nur in der Überwindung unsrer niederen, sinnlichen Wesensteile denkbar.
Der Mensch als ganzer, in seinem Naturfundament ein sinnlich-begehrliches Wesen, ist nun einmal nicht »gut«, sondern seinen irdisch-schweren Elementen gegenüber hat sich die Vernunft in jedem Augenblick erst in Kämpfen und Befreiungen durchzusetzen - eine Vergewaltigung des Tieferen durch das Höhere in uns, die nur unter Schmerzerscheinungen stattfinden kann.
Es ist eines der letzten, die Geschichte der Menschenseele bestimmenden Motive: daß die entscheidenden Erhöhungen unseres Wesens an die Bedingung des Leidens gebunden sind; aber wie lang, wie verschlungen, über welche Stationen der verbindende Faden läuft - das begründet tiefste Unterschiede der Weltanschauungen.
Kant hat die Verbindung auf den äußersten Punkt des Subjektes zusammengedrängt, der rein in sich selbst ruhende Wert der Persönlichkeit macht sich für ihn »nur durch Aufopferungen kenntlich«.
Nietzsche aber verlegt die Verknüpfung über das Individuum hinaus in die Menschheit: nur die Zucht des großen Leidens habe bisher »alle Erhöhungen der Menschheit geschaffen«.
Und darum ist es möglich, daß er die scheinbar selbstverständliche Identität des Trägers der Erhöhung und des Trägers des Leidens aufhebt: daß Unzählige leiden, unterdrückt werden, sich aufopfern müssen, schafft für einen Einzelnen die Bedingungen für jene Kraft, Produktivität, Schwingungsweite der Seele, mit der die Menschheit eine noch unbetretene Stufe ihres Entwicklungsweges erobert.
Die Kantische Wertbildung innerhalb der individuellen Seele ist auf das Ganze der geschichtlichen Gesellschaft verbreitert - die Spannung zwischen Wert und Leiden hat die Einheit der Einzelseele verlassen und sich zwischen einer Mannigfaltigkeit von Subjekten aufgetan, die nur noch von der Einheit des Menschentumes überhaupt umfaßt sind.
Daß Nietzsche ein Kantisches Grundmotiv gleichsam in eine neue Dimension distrahiert, wiederholt sich in eigentümlicher Weise an einem anderen Fundamentalpunkt ihrer Moralen.