Einleitung. Nietzsche mit Kant
Es ist für Epigonenzeiten bezeichnend, daß sie, den Blick auf die Schöpfer ihres Besitzstandes zurückwendend, in deren Vergleichung miteinander fast eine größere Befriedigung zu fühlen scheinen, als in der Nachformung der Einzelgestalt.
Allein in jeder Parallele zwischen großen Persönlichkeiten, jedem Messen ihrer aneinander, liegt eine Vergewaltigung; denn jede ist, ihrem inneren Wesen nach, etwas Unvergleichliches, jede wird von sich abgebogen, wenn sie mit der andern auf einen Generalnenner gebracht wird.
All die Einzelheiten der Lehren, in deren Konfrontierung derartige Parallelen zu verlaufen pflegen, haben ihre echte Farbe und Sinn erst in der Hinwendung auf das Gesamtzentrum, den Einheits- und Einzigkeitspunkt der schöpferischen Persönlichkeit; in Zusammenhänge, die dieser äußerlich sind, eingestellt, verlieren sie, bei strengster Wörtlichkeit, ihre tiefste und entscheidende Nuance.
Je »persönlicher« eine geistige Persönlichkeit ist, desto eifersüchtiger bewahrt sie den eigentlichen Sinn jeder Äusserung für den Zusammenhang ihres eigenen Wesens auf, desto fälschender und widerspruchsvoller ist es, sie mit einer andern zu messen - gleichviel ob das Resultat Gleichheit oder Ungleichheit ergibt.
Aber diese in der Parallele, im Aufsuchen der »Beziehungen« gelegene leise Verbiegung und Herabsetzung der großen Persönlichkeit scheint dem Epigonen eine größere Vertrautheit mit jener zu gewähren und ihre Unnahbarkeit in der vielleicht einzigen Weise, die den Respekt völlig wahrt, zu nivellieren.
Die Überschrift dieser Zellen verspricht also keineswegs eine Vergleichungzweier Denkerpersönlichkeiten, die eine solche noch aus viel radikaleren als diesen prinzipiellen Gründen ablehnen müßten.
Vielmehr handelt es sich ausschließlich um Nietzsche und nur darum, einigen seiner missverstandensten Lehren an Kantischen Parallelen einen Hintergrund zu geben, der ihre Umrisse durch Gleichheit und Gegensatz schärfe; nicht Kants ganze Denkerpersönlichkeit tritt auf den Plan, sondern einzelne Elemente, deren typisch menschlicher Inhalt durch ihn die bestimmteste Gestalt gewonnen hat und so anderen, individuellen Lehren zu Maß und Klärung gereichen mag.