II. Daguerre oder die Panoramen
»Soleil, prends garde à toi!«
A. J. Wiertz: Œuvres littéraires. Paris 1870, p. 374.
Wie die Architektur in der Eisenkonstruktion der Kunst zu entwachsen beginnt, so tut das die Malerei ihrerseits in den Panoramen. Der Höhepunkt in der Verbreitung der Panoramen fällt mit dem Aufkommen der Passagen zusammen. Man war unermüdlich, durch technische Kunstgriffe die Panoramen zu Stätten einer vollkommenen Naturnachahmung zu machen. Man suchte den Wechsel der Tageszeit in der Landschaft, das Heraufziehen des Mondes, das Rauschen der Wasserfälle nachzubilden. David rät seinen Schülern, in den Panoramen nach der Natur zu zeichnen. Indem die Panoramen in der dargestellten Natur täuschend ähnliche Veränderungen hervorzubringen trachten, weisen sie über die Photographie auf Film und Tonfilm voraus.
Mit den Panoramen ist eine panoramatische Literatur gleichzeitig. »Le livre des Cent-et-Un«, »Les Français peints par eux-mêmes«, »Le diable à Paris«, »La grande ville« gehören ihr an. In diesen Büchern bereitet sich die belletristische Kollektivarbeit vor, der in den dreißiger Jahren Girardin im Feuilleton eine Stätte schuf. Sie bestehen aus einzelnen Skizzen, deren anekdotische Einkleidung dem plastisch gestellten Vordergründe der Panoramen, deren informatorischer Fond deren gemaltem Hintergründe entspricht. Diese Literatur ist auch gesellschaftlich panoramatisch. Zum letzten Mal erscheint der Arbeiter, außerhalb seiner Klasse, als Staffage einer Idylle.
Die Panoramen, die eine Umwälzung im Verhältnis der Kunst zur Technik ankündigen, sind zugleich Ausdruck eines neuen Lebensgefühls. Der Städter, dessen politische Überlegenheit über das Land im Laufe des Jahrhunderts vielfach zum Ausdruck kommt, macht den Versuch, das Land in die Stadt einzubringen. Die Stadt weitet sich in den Panoramen zur Landschaft aus wie sie es auf subtilere Art später für den Flanierenden tut. Daguerre ist ein Schüler des Panoramenmalers Prévost, dessen Etablissement sich in dem Passage des Panoramas befindet. Beschreibung der Panoramen von Prévost und Daguerre. 1839 brennt das Daguerresche Panorama ab. Im gleichen Jahr gibt er die Erfindung der Daguerreotypie bekannt.
Arago präsentiert die Photographie in einer Kammerrede. Er weist ihr den Platz in der Geschichte der Technik an. Er prophezeit ihre wissenschaftlichen Anwendungen. Dagegen beginnen die Künstler ihren Kunstwert zu debattieren. Die Photographie führt zur Vernichtung des großen Berufsstandes der Porträtminiaturisten. Dies geschieht nicht nur aus ökonomischen Gründen. Die frühe Photographie war künstlerisch der Porträtminiatur überlegen. Der technische Grund dafür liegt in der langen Belichtungszeit, die die höchste Konzentration des Porträtierten erfordert. Der gesellschaftliche Grund dafür liegt in dem Umstand, daß die ersten Photographen der Avantgarde angehörten und ihre Kundschaft zum großen Teil aus ihr kam. Der Vorsprung Nadars vor seinen Berufsgenossen kennzeichnet sich in seinem Unternehmen, Aufnahmen im Kanalisationssystem von Paris zu machen. Damit werden dem Objektiv zum ersten Mal Entdeckungen zugemutet. Seine Bedeutung wird um so größer je fragwürdiger im Angesicht der neuen technischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit der subjektive Einschlag in der malerischen und graphischen Information empfunden wird.
Die Weltausstellung von 1855 bringt zum ersten Mal eine Sonderschau »Photographie«. Im gleichen Jahre veröffentlicht Wiertz seinen großen Artikel über die Photographie, in dem er ihr die philosophische Erleuchtung der Malerei zuweist. Diese Erleuchtung verstand er, wie seine eignen Gemälde zeigen, im politischen Sinn. Wiertz kann als der erste bezeichnet werden, der die Montage als agitatorische Verwertung der Photographie wenn nicht vorhergesehen, doch gefordert hat. Mit dem zunehmenden Umfang des Verkehrswesens vermindert sich die informatorische Bedeutung der Malerei. Sie beginnt, in Reaktion auf die Photographie, zunächst die farbigen Bildelemente zu unterstreichen. Als der Impressionismus dem Kubismus weicht, hat die Malerei sich eine weitere Domäne geschaffen, in die ihr die Photographie vorerst nicht folgen kann. Die Photographie ihrerseits dehnt seit der Jahrhundertmitte den Kreis der Warenwirtschaft gewaltig aus, indem sie Figuren, Landschaften, Ereignisse, die entweder überhaupt nicht oder nur als Bild für einen Kunden verwertbar waren, in unbeschränkter Menge auf dem Markt ausbot. Um den Umsatz zu steigern erneuerte sie ihre Objekte durch modische Veränderungen der Aufnahmetechnik, die die spätere Geschichte der Photographie bestimmen.