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IV. Louis-Philippe oder das Interieur

»La tête …
Sur la table de nuit, comme une renoncule,
Repose.«

Baudelaire: Une martyre

Unter Louis-Philippe betritt der Privatmann den geschichtlichen Schauplatz. Die Erweiterung des demokratischen Apparats durch ein neues Wahlrecht fällt mit der parlamentarischen Korruption zusammen, die von Guizot organisiert wird. In deren Schutz macht die herrschende Klasse Geschichte, indem sie ihre Geschäfte verfolgt. Sie fördert den Eisenbahnbau, um ihren Aktienbesitz zu verbessern. Sie begünstigt die Herrschaft Louis-Philippes als die des geschäftsführenden Privatmanns. Mit der Julirevolution hat die Bourgeoisie die Ziele von 1789 verwirklicht (Marx).

Für den Privatmann tritt erstmals der Lebensraum in Gegensatz zu der Arbeitsstätte. Der erste konstituiert sich im Interieur. Das Kontor ist sein Komplement. Der Privatmann, der im Kontor der Realität Rechnung trägt, verlangt vom Interieur in seinen Illusionen unterhalten zu werden. Diese Notwendigkeit ist um so dringlicher, als er seine geschäftlichen Überlegungen nicht zu gesellschaftlichen zu erweitern gedenkt. In der Gestaltung seiner privaten Umwelt verdrängt er beide. Dem entspringen die Phantasmagorien des Interieurs. Es stellt für den Privatmann das Universum dar. In ihm versammelt er die Ferne und die Vergangenheit. Sein Salon ist eine Loge im Welttheater.

Exkurs über den Jugendstil. Die Erschütterung des Interieurs vollzieht sich um die Jahrhundertwende im Jugendstil. Allerdings scheint er, seiner Ideologie nach, die Vollendung des Interieurs mit sich zu bringen. Die Verklärung der einsamen Seele erscheint als sein Ziel. Der Individualismus ist seine Theorie. Bei Van de Velde erscheint das Haus als Ausdruck der Persönlichkeit. Das Ornament ist diesem Hause was dem Gemälde die Signatur. Die wirkliche Bedeutung des Jugendstils kommt in dieser Ideologie nicht zum Ausdruck. Er stellt den letzten Ausfallsversuch der in ihrem elfenbeinernen Turm von der Technik belagerten Kunst dar. Er mobilisiert alle Reserven der Innerlichkeit. Sie finden ihren Ausdruck in der mediumistischen Liniensprache, in der Blume als dem Sinnbild der nackten, vegetativen Natur, die der technisch armierten Umwelt entgegentritt. Die neuen Elemente des Eisenbaus, Trägerformen, beschäftigen den Jugendstil. Im Ornament bemüht er sich, diese Formen der Kunst zurückzugewinnen. Das Beton stellt ihm neue Möglichkeiten plastischer Gestaltung in der Architektur in Aussicht. Um diese Zeit verlagert der wirkliche Schwerpunkt des Lebensraumes sich ins Büro. Der entwirklichte schafft sich seine Stätte im Eigenheim. Das Fazit des Jugendstils zieht der »Baumeister Solneß«: der Versuch des Individuums, auf Grund seiner Innerlichkeit mit der Technik es aufzunehmen, führt zu seinem Untergang.

»Je crois … à mon âme: la Chose.«

Léon Deubel: Œuvres. Paris 1929. p. 193.

Das Interieur ist die Zufluchtsstätte der Kunst. Der Sammler ist der wahre Insasse des Interieurs. Er macht die Verklärung der Dinge zu seiner Sache. Ihm fällt die Sisyphosaufgabe zu, durch seinen Besitz an den Dingen den Warencharakter von ihnen abzustreifen. Aber er verleiht ihnen nur den Liebhaberwert statt des Gebrauchswerts. Der Sammler träumt sich nicht nur in eine ferne oder vergangene Welt sondern zugleich in eine bessere, in der zwar die Menschen ebensowenig mit dem versehen sind, was sie brauchen, wie in der alltäglichen, aber die Dinge von der Fron frei sind, nützlich zu sein.

Das Interieur ist nicht nur das Universum sondern auch das Etui des Privatmanns. Wohnen heißt Spuren hinterlassen. Im Interieur werden sie betont. Man ersinnt Überzüge und Schoner, Futterals und Etuis in Fülle, in denen die Spuren der alltäglichsten Gebrauchsgegenstände sich abdrücken. Auch die Spuren des Wohnenden drücken sich im Interieur ab. Es entsteht die Detektivgeschichte, die diesen Spuren nachgeht. Die »Philosophie des Mobiliars« sowie seine Detektivnovellen erweisen Poe als den ersten Physiognomen des Interieurs. Die Verbrecher der ersten Detektivromane sind weder Gentlemen noch Apachen sondern bürgerliche Privatleute.