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Metaphysik der Jugend

Das Gespräch

Wo bist du, Jugendliches! das immer mich
Zur Stunde weckt des Morgens, wo bist du, Licht?

Hölderlin

I

Täglich nutzen wir ungemessene Kräfte wie die Schlafenden. Was wir tun und denken ist erfüllt vom Sein der Väter und Ahnen. Eine unbegriffene Symbolik verknechtet uns ohne Feierlichkeit. - Manchmal erinnern wir uns erwachend eines Traumes. So erleuchten selten Hellsichten die Trümmerhaufen unserer Kraft, an denen die Zeit vorüberflog. Wir waren Geist gewohnt wie den Herzschlag, durch den wir Lasten heben und verdauen.

Jedes Gespräches Inhalt ist Erkenntnis der Vergangenheit als unserer Jugend und Grauen vor den geistigen Massen der Trümmerfelder. Wir sahen noch niemals die Stätte des lautlosen Kampfes, der das Ich gegen die Väter setzte. Nun erblicken wir, was wir ohne Wissen zerschlugen und hoben. Das Gespräch klagt um versäumte Größe.

II

Das Gespräch strebt zum Schweigen und der Hörende ist eher der Schweigende. Sinn empfängt der Sprechende von ihm, der Schweigende ist die ungefaßte Quelle des Sinns. Das Gespräch hebt Worte zu ihm als die Fassenden, die Krüge. Der Sprechende senkt die Erinnerung seiner Kraft in Worte und sucht Formen, in denen der Hörende sich offenbart. Denn der Sprechende spricht um sich bekehren zu lassen. Er versteht den Hörenden trotz seiner eigenen Worte: daß einer ihm gegenüber ist, dessen Züge unauslöschlich ernst und gut sind, während der Sprechende die Sprache lästert.

Aber mag er auch eine leere Vergangenheit orgiastisch beleben, der Hörende versteht nicht Worte sondern das Schweigen des Gegenwärtigen. Denn der Sprechende ist trotz der Seelenflucht und Wortleerheit gegenwärtig, sein Gesicht ist dem Hörenden offen und die Bemühungen der Lippen sind sichtbar. Der Hörende hält die wahre Sprache in Bereitschaft, in ihn gehen die Worte ein und er zugleich sieht den Sprecher.

Wer spricht geht in den Lauschenden ein. Das Schweigen gebiert sich also selber aus dem Gespräche. Jeder Große hat nur ein Gespräch, an dessen Rande wartet die schweigende Größe. Im Schweigen wurde die Kraft neu: der Hörende führte das Gespräch zum Rande der Sprache und der Sprechende erschuf das Schweigen einer neuen Sprache, er, ihr erster Lauscher.

III

Schweigen ist die innere Grenze des Gespräches. Niemals gerät der Unproduktive an die Grenze, er hält seine Gespräche für Monologe. Aus dem Gespräch tritt er in das Tagebuch oder in das Cafe.

In den gepolsterten Räumen schwieg es schon lange. Hier darf er lärmen. Er tritt unter die Huren und die Kellner wie der Prediger unter die Andächtigen - er, der Konvertit seines letzten Gespräches. Nun ist er zweier Sprachen kundig, der Frage und Antwort. (Ein Fragender ist einer, der sein Leben lang an die Sprache nicht dachte, und nun will er es ihr recht machen. Ein Fragender ist leutselig gegen Götter.) Der Unproduktive fragt - hinein in das Schweigen, unter die Tätigen, Denker und Frauen - nach der Offenbarung. Er ist am Ende erhoben, er blieb ungebeugt. Seine Wortfülle flieht ihn, er lauscht verzüdit seiner Stimme; er vernimmt weder Worte noch Schweigen.

Aber er rettet sich in die Erotik. Sein Blidi entjungfert. Sich selber will er sehen und hören und also will er des Sehenden und Hörenden mächtig werden. Daher verspricht er sich selbst und seine Größe, er flüchtet sprechend. Aber immer sinkt er vernichtet vor der Menschheit im andern nieder; immer bleibt er unverständlich. Und suchend gleitet der Blick der Schweigenden durch ihn hin zu dem, der schweigend kommen wird. -

Größe ist das ewige Schweigen nach dem Gespräch. Es heißt den Rhythmus eigener Worte im Leeren vernehmen. Das Genie hat seine Erinnerung völlig verflucht in der Gestaltung. Es ist gedächtnisarm und ratlos. Seine Vergangenheit wurde schon Schicksal und ist nimmer zu gegenwärtigen. Im Genie spricht Gott und lauscht dem Widerspruch der Sprache.

Dem Schwätzer scheint das Genie die Ausflucht vor Größe. Kunst ist das beste Mittel gegen Unsal. Das Gespräch des Genius ist aber Gebet. Im Sprechen fallen die Worte von ihm nieder wie Mäntel. Die Worte des Genius machen nackt, und sind Hüllen, in die der Lauschende sich gekleidet fühlt. Wer lauscht ist die Vergangenheit des großen Sprechers, sein Gegenstand und seine tote Kraft. Der sprechende Genius ist stiller als der Lauschende, wie der Betende stiller ist als Gott.

IV

Immer bleibt der Sprechende von der Gegenwart besessen. Also ist er verflucht: nie das Vergangene zu sagen das er doch meint. Und was er sagt, hat schon lange die stumme Frage der Schweigenden in sich befaßt, und ihr Blick fragt ihn, wann er endet. Er soll sich der Hörenden vertrauen, damit sie seine Lästerung bei der Hand nimmt und sie bis an den Abgrund führt, in dem die Seele des Sprechenden liegt, seine Vergangenheit, das tote Feld, zu dem er hinirrt. Da wartet aber die Dirne schon lange. Denn jede Frau hat die Vergangenheit und jedenfalls keine Gegenwart. Darum behütet sie den Sinn vor dem Verstehen, sie wehrt dem Mißbrauch der Worte und läßt sich nicht mißbrauchen.

Den Schatz der Alltäglichkeit hütet sie, aber auch die Allnächtlichkeit, das höchste Gut. Darum ist die Dirne die Hörende. Sie rettet das Gespräch vor Kleinheit, auf sie hat Größe keinen Anspruch, denn Größe endet vor ihr. Jede Mannheit ist schon vor ihr vergangen, nun verfließt der Wortstrom in ihre Nächte. Die ewig gewesene Gegenwart wird wieder werden. Des Schweigens anderes Gespräch ist Wollust.

V

DAS GENIE Ich komme zu dir, um bei dir auszuruhen.

DIE DIRNE SO setze dich.

DAS GENIE Ich will mich zu dir setzen - eben habe ich dich berührt, und mir ist, als hätte ich schon Jahre geruht.

DIE DIRNE Du machst mich unruhig. Wenn ich neben dir läge, könnte ich nicht schlafen.

DAS GENIE Jede Nacht sind Menschen bei dir im Zimmer. Mir ist, als hätte ich sie alle empfangen und sie hätten mich freudlos angesehen und wären gegangen.

DIE DIRNE Gib mir deine Hand - an deiner schlafenden Hand fühle ich, daß du all deine Gedichte jetzt vergaßest.

DAS GENIE Ich denke nur an meine Mutter. Darf ich dir von ihr erzählen? Sie hat mich geboren. Sie hat geboren 'wie du: hundert tote Gedichte. Sie hat ihre Kinder nicht gekannt, wie du. Ihre Kinder haben mit fremden Menschen gehurt.

DIE DIRNE Wie die meinen.

DAS GENIE Meine Mutter hat mich immer angesehen, mich gefragt, mir geschrieben. Ich habe an ihr alle Menschen verlernt. Alle wurden mir Mutter. Alle Frauen hatten mich geboren, kein Mann hatte mich gezeugt.

DIE DIRNE SO klagen alle, die bei mir schlafen. Wenn sie mit mir in ihr Leben blicken, scheint es ihnen wie dicke Asche bis zum Halse emporzustehen. Niemand hat sie gezeugt und zu mir kommen sie, um nicht zu zeugen.

DAS GENIE Alle Frauen, zu denen ich komme, sind wie du. Sie haben mich tot geboren und wollen von mir Totes empfangen.

DIE DIRNE Aber ich bin die Todesmutigste. (Sie gehen schlafen.)

VI

Die Frau hütet die Gespräche. Sie empfängt das Schweigen und die Dirne empfängt den Schöpfer des Gewesenen. Aber niemand wacht über die Klage wenn Männer sprechen. Ihr Gespräch wird Verzweiflung, es erschallt im tauben Raum, und lästernd greif!: es in die Größe. Zwei Männer sind bei einander immer Aufrührer, am Ende greifen sie zu Feuer und Beil. Sie vernichten die Frau durch die Zote, das Paradoxon notzüchtigt die Größe. Die Worte gleicher Geschlechter vereinigen sich und peitschen sich auf durch ihre heimliche Zuneigung, ein seelenloser Doppelsinn steht auf, schlecht verhüllt durch die grausame Dialektik. Lachend steht die Offenbarung vor ihnen und zwingt sie zum Schweigen. Die Zote siegt, die Welt war aus Worten gezimmert.

Nun müssen sie aufstehen und ihre Bücher erschlagen und sich ein Weib rauben, sonst werden sie heimlich ihre Seelen erwürgen.

VII

Wie sprachen Sappho und ihre Freundinnen? Wie kam es, daß Frauen sprachen? Denn die Sprache entseelt sie. Die Frauen empfangen keine Laute von ihr und keine Erlösung. Die Worte wehen über die Frauen hin, die beieinander sind, aber das Wehen ist plump und tonlos, sie werden geschwätzig. Ihr Schweigen thront aber über ihrem Reden. Die Sprache trägt die Seele der Frauen nicht, denn sie vertrauten ihr nichts; ihr Vergangnes ist nie beschlossen. Die Worte fingern an ihnen herum, und irgend eine Fertigkeit antwortet ihnen geschwind. Aber nur im Sprechenden erscheint ihnen die Sprache, der gequält die Leiber der Worte preßt, in die er das Schweigen der Geliebten abbildete. Worte sind stumm. Die Sprache der Frauen blieb ungeschaffen. Sprechende Frauen sind von einer wahnwitzigen Sprache besessen.

VIII

Wie sprachen Sappho und ihre Freundinnen? - Die Sprache ist verschleiert wie das Vergangene, zukünftig wie das Schweigen. Der Sprechende führt in ihr die Vergangenheit herauf, verschleiert von Sprache empfängt er sein Weiblich-Gewesenes im Gespräch. - Aber die Frauen schweigen. Wohin sie lauschen, sind die Worte ungesprochen. Sie nähern ihre Körper und liebkosen einander. Ihr Gespräch befreite sich vom Gegenstande und der Sprache. Dennoch hat es einen Bezirk erschritten. Denn erst unter ihnen und da sie bei einander sind, ist das Gespräch selbst vergangen und zur Ruhe gekommen. Nun erreichte es endlich sich selber: Größe wurde es unter ihrem Blick, wie das Leben Größe war vor dem vergeblichen Gespräche. Die schweigenden Frauen sind die Sprecher des Gesprochenen. Sie treten aus dem Kreise, sie allein sehen die Vollendung seiner Rundung.

Sie alle bei einander klagen nicht, sie schauen bewundernd. Die Liebe ihrer Leiber ist ohne Zeugung, aber ihre Liebe ist schön anzusehen. Und sie wagen den Anblick an einander. Er macht eratmen, während die Worte im Raum verhallen. Das Schweigen und die Wollust - ewig geschieden im Gespräch - sind eins geworden. Schweigen der Gespräche war zukünftige Wollust, Wollust war vergangen es Schweigen. Unter den Frauen aber geschah der Anblick der Gespräche von der Grenze schweigender Wollust. Da erstand erleuchtend die Jugend der dunklen Gespräche. Es erstrahlte das Wesen.

Das Tagebuch

Nachbarländer mögen in Sehweite liegen
Daß man den Ruf der Hähne und Hunde gegenseitig hören kann.
Und doch sollten die Leute im höchsten Alter sterben
Ohne hin und her gereist zu sein.

Lao-Tse

I

Wir wollen auf die Quellen der unnennbaren Verzweiflung achten, die in allen Seelen fließen. Die Seelen horchen angespannt nach der Melodie ihrer Jugend, deren man sie tausendfach versichert. Aber je mehr sie in die ungewissen Jahrzehnte sich versenken und ihr Zukünftigstes ihrer Jugend noch einbeziehen, desto verwaister atmen sie in der leeren Gegenwart. Eines Tages erwachen sie zur Verzweiflung: der Entstehungstag des Tagebuches.

Es stellt mit hoffnungslosem Ernst die Frage, in welcher Zeit der Mensch lebt. Daß er in keiner Zeit lebt haben die Denkenden immer gewußt. Die Unsterblichkeit der Gedanken und Taten verbannt ihn in Zeitlosigkeit, in deren Mitte lauert der unbegreifliche Tod. Zeitlebens umspannt ihn Leere der Zeit und dennoch Unsterblichkeit nicht. Gefressen von den mannigfaltigen Dingen entschwand die Zeit ihm, jenes Medium ward zerstört, in der die reine Melodie seiner Jugend schwellen sollte. Die erfüllte Stille in der seine späte Größe reifen sollte wurde ihm entwendet. Ihm entwendete sie der Alltag, unterbrach mit Geschehnis, Zufall und Verpflichtung tausendfältig jugendliche Zeit, unsterbliche, die er nicht ahnte. Drohender noch erhob hinter der Alltäglichkeit sich der Tod. Jetzt erscheint er noch im Kleinen und tötet täglich, um weiter leben zu lassen. Bis eines Tages der große Tod aus Wolken fällt, wie eine Hand, die nicht mehr leben läßt. Von Tag zu Tag, Sekunde zu Sekunde selbsterhält sich das Ich, klammert sich an das Instrument: die Zeit, die es spielen sollte.

Der also Verzweifelte entsann sich seiner Kindheit, damals war noch Zeit ohne Flucht und Ich ohne Sterben. Er sieht und sieht hinab in jene Strömung, aus der er aufgetaucht war, und er verliert langsam, endlich und erlösend sein Begreifen. In solcher Vergessenheit, unwissend was er meint und doch erlöster Meinung entstand das Tagebuch. Dies unergründliche Buch eines nie gelebten Lebens, Buch eines Lebens, in dessen Zeit alles, was wir unzulänglich erlebten, sich zum Vollendeten verwandelt. Das Tagebuch ist eine Befreiungstat, heimlich und schrankenlos in ihrem Siege. Kein Unfreier wird dieses Buch verstehen. Da das Ich verzehrt von Sehnsucht nach sich selbst, verzehrt vom Willen zur Jugend, verzehrt von Machtlust über die Jahrzehnte, die kommen werden, verzehrt von Sehnsucht, sich gesammelt durch die Tage hinzutragen, von Lust des Müßigganges entzündet zu dunklem Feuer - da es sid1 dennoch verflucht sah in die Zeit des Kalenders, der Uhren und Börsen und kein Strahl einer Zeit der Unsterblichkeit sich zu ihm senkte - da begann es selber zu erstrahlen. Strahl, wußte es, bin ich selber. Nicht die trübe Innerlichkeit jenes Erlebenden, der mich Ich nennt und mit Vertrautheit martert, sondern Strahl des andern, das zu bedrängen mich schien und das ich doch selbst bin: Strahl der Zeit. Zitternd steht ein Ich, das wir aus unsern Tagebüchern nur kennen, am Rande der Unsterblichkeit, in die es hinabstürzt. Es ist ja Zeit. In ihm, dem Ich, dem Geschehnisse widerfahren, Menschen begegnen, Freunde, Feinde und Geliebte, in ihm verläuft die unsterblicChe Zeit, die Zeit seiner Größe selber läuft ab in ihm, ihre Erstrahlung ist er und nichts anderes.

Dieser Gläubige schreibt sein Tagebuch. Und er schreibt es in Abständen, und wird es nie beenden, denn er wird sterben. Was ist der Abstand im Tagebuche? Es handelt ja nicht in der Zeit der Entwicklung, die ist aufgehoben. Es handelt gar nicht in der Zeit, die ist versunken. Sondern es ist ein Buch von der Zeit: Tagebuch. Das sendet die Strahlen seiner Erkenntnis durch den Raum. Im Tagebuch verläuft die Kette der Erlebnisse nicht, dann wäre es ohne Abstand. Sondern die Zeit ist aufgehoben und aufgehoben ein Ich, das in ihr handelt; ich bin ganz und gar in Zeit versetzt, sie strahlt mich aus. Diesem Ich, der Schöpfung der Zeit, kann nichts mehr widerfahren. Ihm beugt sich alles andere, dem noch Zeit geschieht. Denn allem andern geschieht unser Ich als Zeit, allen Dingen widerfährt das Ich im Tagebuche, sie leben zum Ich dahin. Aber diesem, der Geburt der unsterblichen Zeit, geschieht Zeit nicht mehr. Das Zeitlose widerfährt ihm, in ihm sind alle Dinge versammelt, ihm bei. Allmächtig lebt es im Abstand, im Abstand (dem Schweigen des Tagebuches) widerfährt dem Ich seine eigene, die reine Zeit. Im Abstand ist es in sich selbst gesammelt, kein Ding drängt sich in sein unsterbliches Beieinander. Hier schöpft es Kraft, den Dingen zu widerfahren, sie in sich zu reißen, sein Schicksal zu verkennen. Der Abstand ist sicher, und wo geschwiegen wird, kann nichts widerfahren. Keine Katastrophe findet in die Zeilen dieses Buches Eingang. Also glauben wir nicht an Ableitungen und Quellen; nie erinnern wir uns dessen, was uns widerfahren. Die Zeit, die erstrahlte als Ich, das wir sind, widerfährt allen Dingen um uns als unser Schicksal. Jene Zeit, unser Wesen, ist das Unsterbliche, in dem andere sterben. Was diese tötet, läßt uns im Tode (dem letzten Abstand) uns wesenhaft fühlen.

II

Neigend erstrahlt in Zeit die Geliebte der Landschaft,
Aber verdunkelt verharrt über der Mitte der Feind.
Seine Flügel schläfern. Der schwarze Erlöser der Lande
Haucht sein kristallenes: Nein und er beschließt unsern Tod.

Zögernd tritt selten das Tagebuch heraus aus der Unsterblichkeit seines Abstandes und schreibt sich. Lautlos jubelt es auf und sieht über die Schicksale hin, die klar und zeitgewoben in ihm liegen. Durstend nach Bestimmtheit treten die Dinge auf ihn zu, erwartend Schicksal aus seiner Hand zu empfangen. Sie senden ihr Ohnmächtigstes der Hoheit entgegen, ihr Unbestimmtestes erfleht Bestimmung. Sie grenzen das menschliche Wesen ein durch ihr fragendes Dasein, vertiefen Zeit; und indem sie selber auf das Kußerste den Dingen geschieht, vibriert eine leise Unsicherheit in ihr, welche fragend der Frage der Dinge Antwort gibt. Im Wechsel solcher Vibrationen lebt das Ich. Dies ist der Inhalt unserer Tagebücher: zu uns bekennt sich unser Schicksal, weil wir es auf uns schon längst nicht mehr bezogen - wir Verstorbenen, die wir auferstehen in dem, was uns zustößt.

Es gibt aber einen Ort jener Auferstehungen des Ich, wenn die Zeit in immer weitere und weitere Wellen es hinaussendet. Das ist die Landschaft Als Landschaft umgibt uns alles Geschehen, denn wir, die Zeit der Dinge, kennen keine Zeit. Nur Neigungen der Bäume, Horizont und Schärfe der Bergrücken, die plötzlich voll Beziehung erwachen, indem sie uns in ihre Mitte stellen. Die Landschaft versetzt uns in ihre Mitte, es umzittern uns mit Frage Wipfel, umdunkeln uns mit Nebel Täler, bedrängen uns mit Formen unbegreifliche Häuser. Diesem allen widerfahren wir, ihr Mittelpunkt. Es bleibt aber von aller Zeit, da wir erzittern, eine Frage uns im Innern: sind wir Zeit? Hochmut verlockt uns zum Ja - dann verschwände die Landschaft. Wir wären Bürger. Aber der Bann des Buches läßt uns schweigen. Einzige Antwort ist, daß wir einen Pfad beschreiten. Aber uns heiligt im Schreiten der gleiche Umkreis. Und wie wir antwortlos mit der Bewegung unseres Leibes die Dinge bestimmen, Mitte sind und uns wandernd fernen und nähern, lösen wir Bäume und Felder aus ihresgleichen, überströmen sie mit der Zeit unseres Daseins. Feld und Berge bestimmen wir in ihrer Willkür: sie sind unser vergangenes Sein - so prophezeite die Kindheit. Wir sind zukünftig sie. Die Landschaft empfängt in der Nacktheit der Zukünftigkeit uns die Großen. Entblößt erwidert sie die Schauer der Zeitlichkeit, mit der wir die Landschaft bestürmen. Hier erwachen wir und haben am Morgenmahle der Jugend teil. Die Dinge sehen uns, ihr Blick schwingt uns ins Kommende, da wir ihnen nicht antworten sondern sie beschreiten. Um uns ist Landschaft wo wir die Berufung verwarfen. Tausend Juchzer der Geistigkeit umtosten die Landschaft - da sandte lächelnd das Tagebuch den einzigen Gedanken ihnen entgegen. Durchdrungen von Zeit atmet sie vor uns, bewegt. Wir sind bei einander geborgen, die Landschaft und ich. Wir stürzen von Nacktheit in Nacktheit. Wir erreichen uns gesammelt.

Die Landschaft entsendet uns die Geliebte. Uns begegnet nichts als in Landschaft und in ihr nichts als Zukunft. Sie kennt nur das einzige Mädchen, das schon Frau ist. Denn es tritt in das Tagebuch mit der Geschichte seiner Zukunft. Wir starben schon einmal miteinander. Wir waren ihr schon einmal völlig gleich. Wenn wir ihr widerfuhren im Tode, so widerfährt sie uns doch im Leben, abertausendmal. Vom Tode her ist jedes Mädchen die geliebte Frau, die uns Schlafenden immer im Tagebuch begegnet. Und ihre Erweckung geschieht zur Nacht - unsichtbar dem Tagebuche. Dies ist die Gestalt der Liebe im Tagebuche, daß sie uns in der Landschaft begegnet, unter sehr hellem Himmel. Die Inbrunst ist zwischen uns ausgeschlafen und die Frau ist Mädchen, da sie unsere unverbrauchte Zeit, die sie sammelte in ihrem Tode, jugendlich zurückschenkt. Die stürzende Nacktheit, die in der Landschaft uns überfällt, wird gleichgehalten von der nackten Geliebten.

Als unsere Zeit uns aus dem Abstand verstieß in Landschaft und auf der behüteten Bahn des Gedankens uns die Geliebte entgegenschritt, fühlten wir Zeit, die uns aussandte, gewaltig gegen uns wieder fluten. Einschläfernd ist dieser Rhythmus der Zeit, der von allerweltenwärts zu uns heimkehrt. Wer ein Tagebuch liest, schläft darüber ein und erfüllt, was das Schicksal dessen war, der es schrieb. Wieder und wieder beschwört das Tagebuch den Tod des Schreibers und sei es im Schlafe des Lesenden: Unser Tagebuch kennt nur einen Leser, der wird zum Erlöser, indem das Buch ihn bezwingt. Wir selber sind der Leser oder unser Feind. Er fand keinen Eingang in das Königtum, das um uns blühte. Er ist nichts anderes als das vertriebene, geläuterte Ich, unsichtbar in der unnennbaren Mitte der Zeiten verweilend. Er gab sich nicht dem Strom des Schicksals hin, das uns umfloß. Wie die Landschaft sich uns entgegenhob, sonderbar von uns beseeligt, wie die Geliebte uns vorüberfloh, ehmals von uns gefraut, steht inmitten des Stroms, aufrecht wie sie, der Feind. Aber mächtiger. Er sendet Landschaft und Geliebte uns entgegen und ist der unermüdliche Denker der Gedanken, die uns nur kommen. Vollendet klar begegnet er uns, und während die Zeit sich in die stumme Melodie der Abstände verbirgt, ist er am Werke. Plötzlich erhebt er sich im Abstand wie die Fanfare und sendet uns dem Abenteuer entgegen. Er ist nicht weniger als wir Erscheinung der Zeit, aber der gewaltigste Reflektor unsrer selbst. Blendend vom Wissen der Liebe und den Schauungen ferner Lande bricht er rückkehrend in uns ein und stört unsere Unsterblichkeit auf zu immer fernerer und fernerer Sendung. Er kennt die Reiche der hundert Tode, die die Zeit umgeben und will sie in Unsterblichkeit ertränken. Nach jedem Anblick und jeder Todesflucht kehren wir zu uns heim als unser Feind. Von keinem andern Feind sagt jemals das Tagebuch, weil vor der Feindschaft unsres erlauchten Wissens jeder Feind versinkt, stümperhaft neben uns, die wir niemals unsere Zeit erreichen, immer hinter sie flüchten oder vorwitzig sie überflügeln. Immer die Unsterblichkeit aufs Spiel setzend und sie verlierend. Dies weiß der Feind, er ist das unermüdliche, mutige Gewissen, das uns stachelt. Unser Tagebuch schreibt das seinige, während er tätig ist in der Mitte des Abstandes. In seiner Hand ruht die Waage unserer Zeit und der unsterblichen. Wann wird sie einstehen? Wir werden uns selbst widerfahren.

III

Die Feigheit des Lebenden, dessen Ich mannigfaltig allen Abenteuern beiwohnt und ständig sein Antlitz verbirgt im Kleid seiner Würde - sie mußte zuletzt unerträglich werden. So viele Schritte wir in das Königreich des Schicksals taten, so oft wandten wir uns rückwärts - ob wir auch unbeobachtet wahrhaft seien: da ermüdete einmal die unendlich gekränkte, gekrönte Hoheit in uns, sie wandte sich, grenzenlos fortan voll Verachtung für das Ich, das man ihr gegeben. Sie bestieg einen Thron im Imaginären und wartete. Mit großen Lettern schrieb der Griffel ihres schlafenden Geistes das Tagebuch.

So handelt es sich denn in diesen Büchern um die Thronbesteigung eines, der abdankt. Abdankte er dem Erlebnis, dessen er sein Ich nicht würdig befindet noch fähig, dem er sich endlich entzieht. Einst fielen die Dinge auf seinen Weg, statt ihm zu begegnen, von allen Seiten bedrängten sie einen, der ständig tlüchtete. Niemals kostete der Edle die Liebe der Unterlegnen. Er mißtraute, ob denn auch er gemeint sei von den Dingen. Meinst du mich? fragte er den Sieg der ihm zufiel. Meinst du mich? das Mädchen, das sich an ihn schmiegte. Also riß er sich aus seiner Vollendung. Erschien er dem Sieg doch als Sieger, der Liebenden als der Geliebte. Aber ihm war Liebe widerfahren und Sieg war ihm zugestoßen, während er den Penaten seiner Heimlichkeit Opfer bradl:e. Niemals war er dem Schicksal begegnet, an dem er vorbei lief.

Als aber im Tagebuche die Hoheit des Ich sich zurückzog und das Rasen gegen das Geschehen verstummte, zeigten die Ereignisse sich unbeschlossen. Die immer fernere Sichtbarkeit des Ich, welches nichts mehr auf sich bezieht, webt den immer näheren Mythos der Dinge, die hinstürmen in bodenloser Neigung zum Ich, als unberuhigte Frage, nach Bestimmung dürstend.

Der neue Sturm erbraust im bewegten Ich. Ausgesandt ist es als Zeit, in ihm selber stürmen die Dinge dahin, ihm entgegnend in ihrer fernenden, demütigen Richtung, dahin zur Mitte des Abstandes, zum Schoße der Zeit hin, von da das Ich erstrahlte. Und Schicksal ist: diese Gegenbewegung der Dinge in der Zeit des Ich. Und jene Zeit des Ich, in der die Dinge uns widerfahren, das ist die Größe. Ihr ist alle Zukunft vergangen. Der Dinge Vergangenheit ist die Zukunft der Ich-Zeit. Aber die Vergangenen werden zukünftig. Von neuem entsenden sie die Zeit des Ich, wenn sie eingegangen sind in den Abstand. Mit den Geschehnissen schreibt das Tagebuch die Geschichte unseres zukünftigen Seins. Und prophezeit uns also unser vergangenes Schicksal. Das Tagebuch schreibt die Geschichte unserer Größe vom Tode an. Einmal ist ja die Zeit der Dinge aufgehoben in der Zeit des Ich, Schicksal ist aufgehoben in der Größe, Abstände sind aufgehoben im Abstand. Einmal widerfährt uns der erstarkte Feind in seiner grenzenlosen Liebe, der alle unsere geblendete Schwäche sammelte in seiner Stärke, all unsere Nacktheit bettete in seine Leiblosigkeit, all unser Schweigen übertönte mit seiner Stummheit und alle Dinge heimbringt und alle Menschen endet - der große Abstand. Tod. Im Tode widerfahren wir uns selbst, es löst sich unser Tot-sein aus den Dingen. Und die Zeit des Todes ist unsere eigene. Erlöst gewahren wir die Erfüllung des Spieles, die Zeit des Todes war die Zeit unseres Tagebuches, der Tod der letzte Abstand, der Tod der erste liebende Feind, der Tod, der uns mit aller Größe und den Schicksalen unserer breiten Fläche in die unnennbare Mitte der Zeiten trägt. Der für einen einzigen Augenblick uns Unsterblichkeit gibt. Tausendfach und einfach ist dies der Inhalt unserer Tagebücher. Die Berufung, die unsere Jugend stolz abwies, überrascht uns. Aber sie ist nichts, als Berufung zur Unsterblichkeit. Wir gehen ein in die Zeit, die im Tagebuch war, dem Symbol der Sehnsucht, Ritus der Reinigung. Mit uns versinken die Dinge zur Mitte, mit uns erwarten sie uns gleich die neue Erstrahlung. Denn Unsterblichkeit ist nur im Sterben und Zeit erhebt sich am Ende der Zeiten.

Der Ball

Um welches Vorspieles willen berauben wir uns unserer Träume? Denn mit leichter Hand drängen wir sie beiseit, in die Kissen, lassen sie zurück, während einige unser erhobenes Haupt lautlos umflattern. Wie wagen wir es, Wachende, diese hineinzutragen ins Helle? O, in der Helle! Alle unter uns tragen die unsichtbaren Träume um sich, wie tief verschleiert sind die Häupter der Mädchen, ihre Augen sind heimliche Nester der Unheimlichen, der Träume, ganz ohne Zugang, leuchtend vor Vollendung. Die Musik hebt uns alle zur Höhe jenes erleuchteten Strichs - du kennst ihn - der unter dem Vorhange durchbricht, wenn ein Orchester die Geigen stimmte. Der Tanz beginnt. Da gleiten unsere Hände alle aneinander ab, unsre Blicke fallen in einander, schwer, schütten sich aus und lächeln aus dem letzten Himmel. Unsere Körper berühren sich vorsichtig, wir alle wecken einander nicht aus dem Traume, rufen einander nicht heim in die Dunkelheit - aus der Nacht der Nacht, die nicht Tag ist. Wie wir uns lieben! Wie wir unsre Nacktheit behüten! Wir haben sie alle gefesselt in Buntes, Maskiertes, Nacktes-Versagendes, Nacktes-Versprechendes. Es ist in allen ein Ungeheures zu verschweigen. Aber wir werfen uns in die Rhythmen der Geigen, niemals war eine Nacht körperloser, un-heimlicher, keuscher als diese.

Wo wir allein stehen, auf einem Fuder Fanfaren, allein in der hellen Nächte-Nacht, die wir beschworen, bittet unser flüchtendes Gemüt eine Frau noch zu sich, die - ein Mädchen - steht in einer fernen Saalflucht.

Sie schreitet über das Parkett, das so glatt liegt zwischen den Tänzern, als spiegele es die Musik, denn dieser glatte Boden, dem die Menschen nicht zugehören, schafft Raum für das Elysische, das die Einsamkeiten der Menschen zum Reigen schließt. Sie schreitet und ihr Schritt ordnet die Tanzenden, einige drängt sie hinaus, die zerschellen an den Tischen, wo der Lärm der Einsamen waltet, oder wo in Gängen Menschen gehen wie auf hohen Drahtseilen durch die Nacht.

Wann jemals gelangte Nacht zur Helle und ward ausgestrahlt, wenn nicht hier? Wann jemals ward Zeit überwunden? Wer weiß, wen wir zu dieser Stunde treffen? Sonst (gäbe es ein »sonst«) waren wir eben hier, aber schon vollendet, sonst vielleicht gossen wir die Neige des ab gebrauchten Tages fort und schmeckten den neuen. Aber nun gießen wir den schäumenden Tag über in das purpurne Krystall der Nacht, er wird ruhig und funkelt.

Die Musik entrückt die Gedanken, unsere Augen spiegeln die Freunde rings umher, wie sich alle bewegen, umflossen von Nacht. Wirklich sind wir in einem Hause ohne Fenster, in einem Saal ohne Welt. Treppen geleiten hinauf und hinunter, marmorn. Hier ist die Zeit eingefangen. In uns regt sie nur noch manchmal widrig ihren ermüdeten Atem und macht uns unruhig. Aber ein Wort, hineingesprochen in die Nacht, ruft einen Menschen zu uns, wir gehen mit einander, die Musik war uns schon entbehrlich, ja im Dunklen könnten wir beieinander liegen, dennoch würden unsere Augen blitzen wie nur je ein blankes Schwert zwischen Menschen. Um dieses Haus wissen wir alle gnadenlosen, ausgestoßenen Wirklichkeiten flattern. Die Dichter mit ihrem bittern Lächeln, die Heiligen und die Polizisten und Autos, die warten. Manchmal dringt Musik hinaus, die sie verschüttet.