Schicksal und Charakter
Schicksal und Charakter werden gemeinhin als kausal verbunden angesehen und der Charakter wird als eine Ursache des Schicksals bezeichnet. Der Gedanke, welcher dabei zugrunde liegt, ist folgender: wäre einerseits der Charakter eines Menschen, d. h. also auch seine Art und Weise zu reagieren, in allen Einzelheiten bekannt und wäre andrerseits das Weltgeschehen bekannt in den Bezirken, in denen es an jenen Charakter heranträte, so ließe sich genau sagen, was jenem Charakter sowohl widerfahren als von ihm vollzogen werden würde. Das heißt, sein Schicksal wäre bekannt. Einen unmittelbaren gedanklichen Zugang zum Schicksalsbegriff ermöglichen die zeitgenössischen Vorstellungen nicht, daher moderne Menschen sich auch auf den Gedanken, den Charakter etwa aus den leiblichen Zügen eines Menschen zu lesen, einlassen, weil sie das Wissen um Charakter überhaupt irgendwie in sich vorfinden, während die Vorstellung, analog etwa das Schicksal eines Menschen aus den Linien seiner Hand zu lesen, ihnen unannehmbar erscheint. Dies scheint so unmöglich wie es unmöglich scheint, »die Zukunft vorauszusagen«; unter diese Kategorie wird nämlich die Voraussage des Schicksals ohne weiteres subsumiert, und der Charakter erscheint demgegenüber als etwas in Gegenwart und Vergangenheit Vorliegendes, was also erkennbar sei. Nun aber ist es gerade die Behauptung solcher, die sich anheischig machen, den Menschen aus welchen Zeichen auch immer ihr Schicksal vorherzusagen, daß dieses für denjenigen, der darauf zu merken wisse (der ein unmittelbares Wissen um Schicksal überhaupt in sich vorfindet) in irgendeiner Weise gegenwärtig, oder vorsichtiger gesagt zur Stelle sei. Die Annahme, irgendein »zur Stelle sein« des zukünftigen Schicksals widerspräche weder dem Begriff desselben, noch den menschlichen Erkenntniskräften dessen Voraussagung, ist, wie sich zeigen läßt, nicht widersinnig. Und zwar kann ebenso wie der Charakter auch das Schicksal nur in Zeichen, nicht an sich selbst überschaut werden, denn – mag auch dieser oder jener Charakterzug, diese oder jene Verkettung des Schicksals unmittelbar vor Augen liegen – es ist doch der Zusammenhang, den jene Begriffe meinen, niemals anders als in Zeichen zur Stelle, weil er über dem unmittelbar Sichtbaren gelegen ist. Das System charakterologischer Zeichen wird im allgemeinen auf den Leib beschränkt, wenn man von der charakterologischen Bedeutung derjenigen Zeichen absieht, die das Horoskop untersucht, während zum Zeichen des Schicksals der überlieferten Anschauung gemäß neben den leiblichen alle Erscheinungen des äußern Lebens werden können. Der Zusammenhang zwischen Zeichen und Bezeichnetem aber bildet in beiden Sphären ein gleich verschlossenes und schweres, wenn auch im übrigen ein verschiedenes Problem, weil, aller oberflächlichen Betrachtung und falschen Hypostasierung der Zeichen zum Trotz, sie in beiden Systemen Charakter oder Schicksal nicht auf Grund kausaler Zusammenhänge bedeuten. Ein Bedeutungszusammenhang ist nie kausal zu begründen, mögen auch etwa im vorliegenden Falle jene Zeichen in ihrem Dasein kausal durch Schicksal und Charakter hervorgerufen sein. Im folgenden wird nicht untersucht, wie ein solches Zeichensystem für Charakter und Schicksal aussehe, sondern lediglich auf die Bezeichneten selbst richtet sich die Betrachtung.
Es zeigt sich, daß die herkömmliche Auffassung ihres Wesens und ihres Verhältnisses nicht allein problematisch bleibt, insofern sie nicht imstande ist, die Möglichkeit einer Vorhersagung des Schicksals rationell begreiflich zu machen, sondern daß sie falsch ist, weil die Trennung, auf der sie beruht, theoretisch unvollziehbar ist. Denn es ist unmöglich, einen widerspruchslosen Begriff vom Außen eines wirkenden Menschen, als dessen Kern doch der Charakter in jener Anschauung angesprochen wird, zu bilden. Kein Begriff einer Außenwelt läßt sich gegen die Grenze des Begriffs des wirkenden Menschen definieren. Zwischen dem wirkenden Menschen und der Außenwelt vielmehr ist alles Wechselwirkung, ihre Aktionskreise gehen ineinander über; ihre Vorstellungen mögen noch so verschieden sein, ihre Begriffe sind nicht trennbar. Es ist nicht nur in keinem Falle anzugeben, was letzten Endes als Funktion des Charakters, was als Funktion des Schicksals in einem Menschenleben zu gelten hat (dies würde hier nichts besagen, wenn etwa beide nur in der Erfahrung ineinander übergingen), sondern das Außen, das der handelnde Mensch vorfindet, kann in beliebig hohem Maße auf sein Innen, sein Innen in beliebig hohem Maße auf sein Außen prinzipiell zurückgeführt, ja als dieses prinzipiell angesehen werden. Charakter und Schicksal werden in dieser Betrachtung, weit entfernt theoretisch geschieden zu werden, zusammenfallen. So bei Nietzsche, wenn er sagt: »Wenn einer Charakter hat, so hat er auch ein Erlebnis, das immer wiederkehrt.« Das besagt: wenn einer Charakter hat, so ist sein Schicksal wesentlich konstant. Dies heißt freilich auch wieder: so hat er kein Schicksal – und diese Konsequenz haben die Stoiker gezogen.
Soll also der Begriff des Schicksals gewonnen werden, so muß dieser reinlich von dem des Charakters geschieden werden, was wiederum eher nicht gelingen kann, als der letzte eine genauere Bestimmung erfahren hat. Auf Grund dieser Bestimmung werden die beiden Begriffe durchaus divergent werden; wo Charakter ist, da wird mit Sicherheit Schicksal nicht sein und im Zusammenhang des Schicksals Charakter nicht angetroffen werden. Dazu ist darauf Bedacht zu nehmen, jene beiden Begriffe solchen Sphären zuzuweisen, in denen sie nicht, wie es im gemeinen Sprachgebrauch geschieht, die Hoheit oberer Sphären und Begriffe usurpieren. Der Charakter nämlich wird gewöhnlich in einen ethischen, wie das Schicksal in einen religiösen Zusammenhang eingestellt. Aus beiden Bezirken sind sie durch die Aufdeckung des Irrtums, der sie dorthin versetzen konnte, zu verbannen. Dieser Irrtum ist mit Beziehung auf den Begriff des Schicksals durch dessen Verbindung mit dem Begriff der Schuld veranlaßt. So wird, um den typischen Fall zu nennen, das schicksalhafte Unglück als die Antwort Gottes oder der Götter auf religiöse Verschuldung angesehen. Dabei aber sollte es nachdenklich machen, daß eine entsprechende Beziehung des Schicksalsbegriffes auf den Begriff, welcher mit dem Schuldbegriff durch die Moral mitgegeben ist, auf den Begriff der Unschuld nämlich, fehlt. In der griechischen klassischen Ausgestaltung des Schicksalsgedankens wird das Glück, das einem Menschen zuteil wird, ganz und gar nicht als die Bestätigung seines unschuldigen Lebenswandels aufgefaßt, sondern als die Versuchung zu schwerster Verschuldung, zur Hybris. Beziehung auf die Unschuld kommt also im Schicksal nicht vor. Und – diese Frage trifft noch tiefer – gibt es denn im Schicksal eine Beziehung auf das Glück? Ist das Glück, so wie ohne Zweifel das Unglück, eine konstitutive Kategorie für das Schicksal? Das Glück ist es vielmehr, welches den Glücklichen aus der Verkettung der Schicksale und aus dem Netz des eignen herauslöst. »Schicksallos« nennt nicht umsonst die seligen Götter Hölderlin. Glück und Seligkeit führen also ebenso aus der Sphäre des Schicksals heraus wie die Unschuld. Eine Ordnung aber, deren einzig konstitutive Begriffe Unglück und Schuld sind und innerhalb deren es keine denkbare Straße der Befreiung gibt (denn soweit etwas Schicksal ist, ist es Unglück und Schuld) – eine solche Ordnung kann nicht religiös sein, so sehr auch der mißverstandene Schuldbegriff darauf zu verweisen scheint. Es gilt also ein anderes Gebiet zu suchen, in welchem einzig und allein Unglück und Schuld gelten, eine Waage, auf der Seligkeit und Unschuld zu leicht befunden werden und nach oben schweben. Diese Waage ist die Waage des Rechts. Die Gesetze des Schicksals, Unglück und Schuld, erhebt das Recht zu Maßen der Person; es wäre falsch anzunehmen, daß nur die Schuld allein im Rechtszusammenhang sich fände; nachweisbar ist vielmehr, daß jede rechtliche Verschuldung nichts ist als ein Unglück. Mißverständlich, auf Grund ihrer Verwechslung mit dem Reiche der Gerechtigkeit, hat die Ordnung des Rechts, die nur ein Überrest der dämonischen Existenzstufe der Menschen ist, in der Rechtssatzungen nicht deren Beziehungen allein, sondern auch ihr Verhältnis zu den Göttern bestimmten, sich über die Zeit hinaus erhalten, welche den Sieg über die Dämonen inaugurierte. Nicht das Recht, sondern die Tragödie war es, in der das Haupt des Genius aus dem Nebel der Schuld sich zum ersten Male erhob, denn in der Tragödie wird das dämonische Schicksal durchbrochen. Nicht aber, indem die heidnisch unabsehbare Verkettung von Schuld und Sühne durch die Reinheit des entsühnten und mit dem reinen Gott versöhnten Menschen abgelöst würde. Sondern in der Tragödie besinnt sich der heidnische Mensch, daß er besser ist als seine Götter, aber diese Erkenntnis verschlägt ihm die Sprache, sie bleibt dumpf. Ohne sich zu bekennen sucht sie heimlich ihre Gewalt zu sammeln. Schuld und Sühne legt sie nicht abgemessen in die Waagschalen, sondern rüttelt sie durcheinander. Es ist gar keine Rede davon, daß die »sittliche Weltordnung« wieder hergestellt werde, sondern es will der moralische Mensch noch stumm, noch unmündig – als solcher heißt er der Held – im Erbeben jener qualvollen Welt sich aufrichten. Das Paradoxon der Geburt des Genius in moralischer Sprachlosigkeit, moralischer Infantilität ist das Erhabene der Tragödie. Es ist wahrscheinlich der Grund des Erhabenen überhaupt, in dem weit eher der Genius erscheint als Gott. – Das Schicksal zeigt sich also in der Betrachtung eines Lebens als eines Verurteilten, im Grunde als eines, das erst verurteilt und darauf schuldig wurde. Wie denn Goethe diese beiden Phasen in den Worten zusammenfaßt: »Ihr laßt den Armen schuldig werden«. Das Recht verurteilt nicht zur Strafe, sondern zur Schuld. Schicksal ist der Schuldzusammenhang des Lebendigen. Dieser entspricht der natürlichen Verfassung des Lebendigen, jenem noch nicht restlos aufgelösten Schein, dem der Mensch so entrückt ist, daß er niemals ganz in ihn eintauchen, sondern unter seiner Herrschaft nur in seinem besten Teil unsichtbar bleiben konnte. Der Mensch also ist es im Grunde nicht, der ein Schicksal hat, sondern das Subjekt des Schicksals ist unbestimmbar. Der Richter kann Schicksal erblicken, wo immer er will; in jeder Strafe muß er blindlings Schicksal mitdiktieren. Der Mensch wird niemals hiervon getroffen, wohl aber das bloße Leben in ihm, das an natürlicher Schuld und dem Unglück Anteil kraft des Scheins hat. Schicksalsmäßig kann dieses Lebendige so den Karten wie den Planeten verkuppelt werden, und die weise Frau bedient sich der einfachen Technik, mit den nächst berechenbaren, nächst gewissen Dingen (mit Dingen, welche unkeusch mit Gewißheit geschwängert sind) dieses in den Schuldzusammenhang zu rücken. Dadurch erfährt sie in Zeichen etwas über ein natürliches Leben im Menschen, das sie an Stelle des benannten Hauptes zu setzen sucht; wie andrerseits der Mensch, der zu ihr geht, zugunsten des verschuldeten Lebens in sich abdankt. Der Schuldzusammenhang ist ganz uneigentlich zeitlich, nach Art und Maß ganz verschieden von der Zeit der Erlösung oder der Musik oder der Wahrheit. An der Fixierung der besondern Art der Zeit des Schicksals hängt die vollendete Durchleuchtung dieser Dinge. Der Kartenleger und der Chiromant lehrt jedenfalls, daß diese Zeit jederzeit gleichzeitig mit einer andern (nicht gegenwärtig) gemacht werden kann. Sie ist eine unselbständige Zeit, die auf die Zeit eines höhern, weniger naturhaften Lebens parasitär angewiesen ist. Sie hat keine Gegenwart, denn schicksalhafte Augenblicke gibt es nur in schlechten Romanen, und auch Vergangenheit und Zukunft kennt sie nur in eigentümlichen Abwandlungen.
Es gibt also einen Begriff des Schicksals – und es ist der echte, der einzige, der das Schicksal in der Tragödie in gleicher Weise trifft, wie die Absichten der Kartenlegerin – welcher vollkommen unabhängig von dem des Charakters ist und seine Begründung in einer ganz andern Sphäre sucht. In den entsprechenden Stand muß auch der Begriff des Charakters gesetzt werden. Es ist kein Zufall, daß beide Ordnungen mit deutenden Praktiken zusammenhängen und in der Chiromantie Charakter und Schicksal ganz eigentlich zusammentreffen. Beide betreffen den natürlichen Menschen, besser: die Natur im Menschen, und eben diese kündigt in den, sei es an sich selbst, sei es experimentell gegebenen Zeichen der Natur sich an. Die Begründung des Begriffs des Charakters wird sich also ebenfalls auf eine Natursphäre zu beziehen haben und mit der Ethik oder der Moral genau so wenig zu tun haben, wie das Schicksal mit der Religion. Andrerseits wird der Begriff des Charakters sich auch derjenigen Züge zu entschlagen haben, welche seine irrige Verbindung mit dem Schicksalsbegriff konstituieren. Diese Verbindung wird durch die Vorstellung eines durch Erkenntnis beliebig, bis zum festesten Gewebe, zu verdichtenden Netzes geleistet, als welches oberflächlicher Betrachtung der Charakter erscheint. Neben den großen grundlegenden Zügen soll nämlich der geschärfte Blick des Menschenkenners feinere und enger zusammenhängende angeblich gewahren, bis das scheinbare Netz zu einem Tuch gedichtet sei. In den Fäden dieses Gewebes hat endlich ein schwacher Verstand das moralische Wesen des betreffenden Charakters zu besitzen geglaubt und die guten und schlechten Eigenschaften an ihm unterschieden. Wie aber der Moral zu erweisen obliegt, können Eigenschaften niemals, sondern allein Handlungen moralisch erheblich sein. Der Augenschein will es freilich anders. Nicht nur »diebisch« »verschwenderisch« »mutig« scheinen moralische Wertungen mitzubedeuten (hier läßt sich noch von der scheinbar moralischen Färbung der Begriffe absehen), sondern vor allem Worte wie »aufopfernd« »tückisch« »rachsüchtig« »neidisch« scheinen Charakterzüge anzuzeigen, bei denen sich von moralischer Wertung nicht mehr abstrahieren läßt. Dennoch ist solche Abstraktion in jedem Fall nicht allein vollziehbar, sondern notwendig, um den Sinn der Begriffe zu erfassen. Und zwar ist sie so zu denken, daß die Wertung an sich durchaus erhalten bleibt und nur ihr moralischer Akzent ihr entzogen wird, um jeweilen im positiven oder negativen Sinn so bedingten Schätzungen Platz zu machen, wie etwa die moralisch zweifellos indifferenten Bezeichnungen von Eigenschaften des Intellekts (als da sind »klug« oder »dumm«) sie ansprechen.
Wo dabei jenen pseudomoralischen Eigenschaftsbenennungen ihre wahre Sphäre angewiesen werden muß, lehrt die Komödie. In ihrer Mitte steht, als Hauptperson der Charakterkomödie, oft genug ein Mensch, den wir, wenn wir im Leben seinen Handlungen statt auf der Bühne ihm selber gegenüber stehen müßten, einen Schurken nennen würden. Auf der Bühne der Komödie aber gewinnen seine Handlungen nur dasjenige Interesse, das mit dem Lichte des Charakters auf sie fällt, und dieser ist in den klassischen Fällen der Gegenstand nicht moralischer Verurteilung sondern hoher Heiterkeit. Niemals an sich, niemals moralisch betreffen die Handlungen des komischen Helden sein Publikum; nur soweit sie das Licht des Charakters zurückwerfen, interessieren seine Taten. Dabei gewahrt man, daß der große Komödiendichter, etwa Moliere, nicht in der Vielfalt der Charakterzüge seine Person zu determinieren sucht. Vielmehr fehlt der psychologischen Analysis jeder Zugang zu seinem Werke. Mit deren Interesse hat es gar nichts zu schaffen wenn Geiz oder Hypochondrie im »Avare« oder im »Malade imaginaire« hypostastiert und allem Handeln zugrunde gelegt werden. Über Hypochondrie und Geiz lehren diese Dramen nichts, weit entfernt sie verständlich zu machen, stellen sie sie mit steigender Kraßheit dar; wenn der Gegenstand der Psychologie das Innenleben des empirisch vermeinten Menschen ist, so sind Molieresche Personen nicht einmal als Demonstrationsmittel für sie brauchbar. Der Charakter entfaltet sich in ihnen sonnenhaft im Glanz seines einzigen Zuges, der keinen andern in seiner Nähe sichtbar bleiben läßt, sondern ihn überblendet. Die Erhabenheit der Charakterkomödie beruht auf dieser Anonymität des Menschen und seiner Moralität mitten in der höchsten Entfaltung des Individuums in der Einzigkeit seines Charakterzuges. Während das Schicksal die ungeheure Komplikation der verschuldeten Person, die Komplikation und Bindung ihrer Schuld aufrollt, gibt auf jene mythische Verknechtung der Person im Schuldzusammenhang der Charakter die Antwort des Genius. Die Komplikation wird Einfachheit, das Fatum Freiheit. Denn der Charakter der komischen Person ist nicht der Popanz der Deterministen, er ist der Leuchter, unter dessen Strahl die Freiheit ihrer Taten sichtbar wird. – Dem Dogma von der natürlichen Schuld des Menschenlebens, von der Urschuld, deren prinzipielle Unlösbarkeit die Lehre, und deren gelegentliche Lösung den Kultus des Heidentums bildet, stellt der Genius die Vision von der natürlichen Unschuld des Menschen entgegen. Diese Vision verharrt ihrerseits ebenfalls im Bezirk der Natur, dennoch steht sie moralischen Einsichten ihrem Wesen nach so nahe, wie die gegenteilige Idee allein in der Form der Tragödie, die nicht ihre einzige ist. Die Vision des Charakters aber ist befreiend unter allen Formen: mit der Freiheit hängt sie, wie hier nicht gezeigt werden kann, auf dem Wege ihrer Affinität mit der Logik zusammen. – Der Charakterzug ist also nicht der Knoten im Netz. Er ist die Sonne des Individuums am farblosen (anonymen) Himmel des Menschen, welche den Schatten der komischen Handlung wirft. (Dies führt Cohens tiefes Wort, daß jede tragische Handlung, so erhaben sie auch auf ihrem Kothurn schreite, einen komischen Schatten werfe, seinem eigensten Zusammenhang zu.)
Die physiognomischen Zeichen mußten, wie die übrigen mantischen, bei den Alten vornehmlich der Ergründung des Schicksals dienen, gemäß der Herrschaft des heidnischen Schuldglaubens. Die Physiognomik wie die Komödie sind Erscheinungen des neuen Weltalters des Genius gewesen. Ihren Zusammenhang mit der alten Wahrsagekunst zeigt die moderne Physiognomik noch in dem unfruchtbaren moralischen Wertakzent ihrer Begriffe, wie auch in dem Streben nach analytischer Komplikation. Gerade in dieser Hinsicht haben alte und mittelalterliche Physiognomiker richtig gesehen, welche erkannten, daß der Charakter nur unter einigen wenigen moralisch indifferenten Grundbegriffen erfaßt werden kann, wie z. B. die Lehre von den Temperamenten sie festzustellen suchte.