Sokrates
I
Das höchst Barbarische in der Gestalt des Sokrates ist, daß dieser unmusische Mensch die erotische Mitte der Beziehungen des platonischen Kreises bildet. Wenn aber seine Liebe der allgemeinen Fähigkeit sich mitzuteilen: der Kunst entbehrt, wovon bestreitet er ihr Wirken? Vom Willen. Sokrates bildet den Eros zum Diener seiner Zwecke. Dieser Frevel reflektiert sich im Kastratentum seiner Person. Denn darauf bezieht sich doch zuletzt der Abscheu der Athener, ihr Empfinden, wenn auch subjektiv gemein, ist historisch im Recht. Er vergiftet die Jugend, er verführt sie. Seine Liebe zu ihr ist nicht ›Zweck‹ noch reines Eidos, sondern Mittel. Das ist der Magier, der Maieutiker der die Geschlechter vertauscht, der unschuldig Verurteilte, der aus Ironie und zum Hohn seiner Gegner stirbt. Seine Ironie schöpft aus dem Grausen, aber dabei bleibt er doch noch der Unterdrückte, Ausgestoßene, der Verächtliche. Ein wenig selbst ein Spaßmacher. - Der sokratische Dialog will mit Beziehung auf den Mythos studiert sein. Was hat Plato damit gewollt? Sokrates: das ist die Gestalt, in der er den alten Mythos annihiliert und rezipiert hat. Sokrates: das ist das Opfer der Philosophie an die Götter des Mythos, die Menschenopfer fordern. Mitten im fürchterlichen Kampf sucht sich die junge Philosophie in Plato zu behaupten1.
II
Grünewald hat die Heiligen dadurch so groß gemalt, daß ihre Glorie aus dem grünsten Schwarz tauchte. Das Strahlende ist nur wahr, wo es sich im Nächtlichen bricht, nur da ist es groß, nur da ist es ausdruckslos, nur da ist es geschlechtslos und doch von überweltlichem Geschlechte. Der So Strahlende ist der Genius, der Zeuge jeder wirklich geistigen Schöpfung. Er bestätigt, er verbürgt ihre Geschlechtslosigkeit. In einer Gesellschaft aus Männern gäbe es nicht den Genius; er lebt durch das Dasein des Weiblichen. Es ist wahr: das Dasein des Weiblichen verbürgt die Geschlechtslosigkeit des Geistigen in der Weh. Wo ein Werk, eine Tat, ein Gedanke ohne das Wissen um dieses Dasein entsteht, da entsteht etwas Böses, Totes. Wo es aus diesem Weiblichen selbst entsteht, da ist es flach und schwach und durchbricht nicht die Nacht. Wo aber dieses Wissen um das Weibliche in der Welt waltet, wird was dem Genius eignet geboren. Jede tiefste Beziehung zwischen Mann und Weib ruht auf dem Grunde dieses wahren Schöpferischen und steht unter dem Genius. Denn es ist soweit falsch, zwischen Mann und Weib die innerste Berührung als begehrende Liebe zu deuten, daß unter allen Stufen jener Liebe sogar die mannweibliche die tiefste, die herrlichste und erotisch und mythisch höchst vollendete, ja fast strahlende (wenn sie nicht so ganz nächtig wäre) die weib-weibliche ist. Es ist noch das größte Geheimnis, wie das bloße Dasein des Weibes die Geschlechtslosigkeit des Geistigen verbürgt. Die Menschen haben es nicht lösen können. Noch immer ist ihnen Genius nicht der Ausdruckslose, der aus der Nacht bricht, sondern er ist ihnen ein Ausdrücklicher, der im Licht schwingt.
Sokrates preist im Symposion die Liebe zwischen Männern und Jünglingen und rühmt sie als das Medium des schöpferischen Geistes. Nach seiner Lehre geht der Wissende mit dem Wissen schwanger, und das Geistige kennt Sokrates überhaupt nur als Wissen und als Tugend. Der Geistige aber ist - vielleicht nicht der Zeugende - sicherlich aber der ohne schwanger zu werden empfängt. Wie für das Weib unbefleckte Empfängnis die überschwengliche Idee von Reinheit ist, so ist Empfängnis ohne Schwangerschaft am tiefsten das Geisteszeichen des männlichen Genius. Es ist an seinem Teile ein Strahlen. Das vernichtet Sokrates. Das Geistige des Sokrates war ein durch und durch Geschlechtliches. Sein Begriff von geistiger Empfängnis ist: Schwangerschaft, sein Begriff von geistiger Zeugung: Entladung der Begierde. Das verrät die sokratische Methode, die eine ganz andere ist als die platonische. Die sokratische ist nicht die heilige Frage, die auf Antwort wartet und deren Resonanz erneut in der Antwort wieder auflebt, sie hat nicht wie die reine erotische oder wissenschaftliche Frage den Methodos der Antwort inne, sondern gewaltsam, ja frech, ein bloßes Mittel zur Erzwingung der Rede verstellt sie sich, ironisiert sie - denn allzugenau weiß sie schon die Antwort. Die sokratische Frage bedrängt die Antwort von außen, sie stellt sie wie die Hunde einen edlen Hirsch. Die sokratische Frage ist nicht zart und so sehr schöpferisch als empfangend, nicht geniushaft. Sie ist gleich der sokratischen Ironie, die in ihr steckt - man gestatte ein furchtbares Bild für eine furchtbare Sache - eine Erektion des Wissens. Durch Haß und Begierde verfolgt er das Eidos und sucht es objektiv zu machen, weil die Schau ihm versagt ist. (Und sollte platonische Liebe heißen: unsokratische Liebe?) Dieser furchtbaren Herrschaft sexueller Anschauungen im Geistigen entspricht - eben als Folge davon - die unreine Vermischung dieser Begriffe im Natürlichen. Same und Frucht, Zeugung und Geburt nennt seine sympotische Rede in dämonischer Ununterschiedenheit, und stellt im Redner selbst die fürchterliche Mischung vor: Kastrat und Faun. In Wahrheit, ein Nicht-Menschlicher ist Sokrates, und unmenschlich, wie einer, der von menschlichen Dingen keine Ahnung hat, geht seine Rede über den Eros. Denn so steht Sokrates und sein Eros in der Stufenfolge der Erotik: die weib-weibliche, die mann-männliche, die mann-weibliche, Gespenst, Dämon, Genius. Es ist ihm ironisches Recht geschehen mit Xanthippe.
- s. a. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft [Aph.] 340.↩