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Kapitel III

Zehn Uhr morgens. Wir befinden uns in Marja Alexandrownas Hause an der Hauptstraße, in eben dem Zimmer, das die Hausfrau bei feierlichen Gelegenheiten ihren Salon nennt. Marja Alexandrowna besitzt auch ein Boudoir. In diesem Salon ist der Fußboden gut gestrichen und die Wände mit hübschen ausländischen Tapeten beklebt. Bei den ziemlich plumpen Möbeln herrscht die rote Farbe vor. Es ist ein Kamin da, über dem Kamin ein Spiegel, vor dem Spiegel eine Bronzeuhr mit einem recht geschmacklosen Amor. An den Fensterpfeilern befinden sich zwei Spiegel, von denen die Überzüge bereits abgenommen sind. Vor den Spiegeln stehen auf kleinen Tischchen wieder Uhren. An der hinteren Wand steht ein vorzüglicher Flügel, der für Sinaida von auswärts bezogen ist; Sinaida ist musikalisch. Um den geheizten Kamin herum sind Lehnstühle aufgestellt, nach Möglichkeit in malerischer Unordnung; zwischen ihnen ein kleines Tischchen. Am andern Ende des Zimmers steht ein anderer Tisch, mit einem blendend weißen Tischtuche bedeckt; auf dem Tische siedet ein silberner Samowar, und daneben ist ein hübsches Teeservice aufgestellt. Über den Samowar und den Tee waltet eine Dame, die als entfernte Verwandte bei Marja Alexandrowna lebt, namens Nastasja Petrowna Sjablowa. Zwei Worte über diese Dame. Sie ist Witwe, etwas über dreißig Jahre alt, brünett, mit frischem Teint und lebhaften, dunkelbraunen Augen. Überhaupt ist sie recht hübsch. Sie hat ein heiteres Gemüt, lacht viel, ist recht schlau, selbstverständlich ein Klatschmaul und versteht sich auf ihren Vorteil. Sie hat zwei Kinder, die irgendwo die Schule besuchen. Sie würde sich sehr gern wieder verheiraten. Sie benimmt sich mit einem ziemlichen Selbstbewußtsein. Ihr Mann ist Offizier gewesen. — Marja Alexandrowna selbst sitzt am Kamin, in vorzüglicher Stimmung und in einem hellgrünen Kleide, das ihr sehr gut steht. Sie freut sich gewaltig über die Ankunft des Fürsten, der in diesem Augenblicke im oberen Stockwerke mit seiner Toilette beschäftigt ist. Sie freut sich dermaßen, daß sie sich nicht einmal bemüht, ihre Freude zu verbergen. Vor ihr steht in etwas gezierter Haltung ein junger Mann und erzählt ihr etwas mit besonderer Lebhaftigkeit. Man kann ihm an den Augen ansehen, daß er seinen Zuhörerinnen gefallen möchte. Er ist fünfundzwanzig Jahre alt. Sein Benehmen würde tadellos sein, wenn er nicht so oft in Entzücken geriete und außerdem nicht so sehr danach streben wollte, humoristisch und witzig zu sein. Er ist vorzüglich gekleidet, hat blondes Haar und ein hübsches Äußeres. Aber wir haben schon von ihm gesprochen: Es ist Herr Mosgljakow, ein junger Mann, der große Hoffnungen erweckt. Marja Alexandrowna findet im stillen, daß sein Kopf ein bißchen hohl sei, nimmt ihn aber immer sehr gut auf. Er bemüht sich um die Hand ihrer Tochter Sinaida, in die er, wie er sich ausdrückt, wahnsinnig verliebt ist. Er wendet sich alle Augenblicke an Sinaida und versucht, durch seinen Witz und durch seine Heiterkeit ihren Lippen ein Lächeln zu entlocken. Die aber benimmt sich ihm gegenüber offensichtlich kühl und gleichgültig. In diesem Augenblicke steht sie etwas abseits am Flügel und blättert in einem Kalender. Sie ist eines der weiblichen Wesen, die allgemeines Erstaunen und Entzücken hervorrufen, wenn sie in einer Gesellschaft erscheinen. Sie ist undenkbar schön: hochgewachsen, brünett, mit wundervollen, fast ganz schwarzen Augen, schlank, mit starker, prächtiger Brust. Ihre Schultern und Arme erinnern an antike Statuen; die Füßchen sind verführerisch, der Gang der einer Königin. Sie ist heute ein bißchen blaß; aber dafür werden Sie von ihren vollen, purpurnen, wundervoll geschnittenen Lippen, zwischen denen die gleichmäßigen kleinen Zähne wie aufgereihte Perlen schimmern, drei Nächte hintereinander träumen, wenn Sie sie auch nur einmal ansehen. Der Ausdruck ihres Gesichtes ist ernst und streng. Monsieur Mosgljakow fürchtet sich, wie es scheint, vor ihrem festen Blicke; wenigstens krümmt er sich ordentlich zusammen, wenn er es wagt, sie anzusehen. Ihre Bewegungen haben etwas Hochmütiges, Nachlässiges. Sie trägt ein einfaches weißes Musselinkleid. Die weiße Farbe steht ihr vorzüglich; aber ihr steht eben alles. An einem ihrer Finger steckt ein aus Haar geflochtener Ring; nach der Farbe zu urteilen, ist er nicht aus dem Haare ihrer Mutter geflochten. Mosgljakow hat nie gewagt, sie zu fragen, wessen Haar es ist. An diesem Morgen ist Sinaida ganz besonders schweigsam, ja traurig, als ob sie von einer Sorge erfüllt wäre. Im Gegensatz zu ihr möchte Marja Alexandrowna am liebsten ohne Unterlaß reden, obwohl sie ebenfalls ab und zu mit einem besonderen, mißtrauischen Blicke nach ihrer Tochter hinsieht; indes tut sie es nur verstohlen, als ob auch sie vor Sinaida Furcht hätte.

»Ich bin so glücklich, so glücklich, Pawel Alexandrowitsch“, plappert sie, »daß ich es am liebsten allen Leuten aus dem Fenster zurufen möchte. Ich rede gar noch nicht einmal von der liebenswürdigen Überraschung, die Sie uns, mir und meiner Tochter Sinaida, dadurch bereitet haben, daß Sie zwei Wochen früher wieder hergekommen sind, als Sie es versprochen hatten; das versteht sich von selbst! Aber ich bin ganz glücklich darüber, daß Sie diesen lieben Fürsten hierher gebracht haben. Haben Sie wohl eine Vorstellung davon, wie sehr ich diesen bezaubernden alten Herrn liebe? Aber nein, nein! Sie werden mich nicht verstehen! Sie, als junger Mensch, werden mein Entzücken nicht begreifen, trotz all meiner Beteuerungen! Wissen Sie wohl, was er mir in früherer Zeit gewesen ist, vor sechs Jahren, erinnerst du dich wohl noch, Sinaida? Aber ich vergesse ganz: Du warst ja damals bei deiner Tante zu Besuch … Sie werden es nicht glauben, Pawel Alexandrowitsch: Ich war seine Führerin, seine Schwester, seine Mutter! Er war mir folgsam wie ein Kind! Es lag so etwas Naives, Zartes, Edles in unserem wechselseitigen Verhältnisse; sogar gewissermaßen etwas Idyllisches … ich weiß nicht recht, wie ich es nennen soll! Das ist der Grund, warum er sich jetzt einzig und allein an mein Haus dankbar erinnert, ce pauvre prince! Wissen Sie wohl, Pawel Alexandrowitsch, daß Sie ihn vielleicht dadurch gerettet haben, daß Sie ihn zu mir brachten? Mit tiefem Weh im Herzen habe ich diese sechs Jahre über an ihn gedacht. Sie werden es nicht glauben: Es hat mir sogar von ihm geträumt. Man sagt, dieses Ungeheuer von einem Weibe habe ihn behext, ihn beinah zugrunde gerichtet. Aber nun haben Sie ihn ihr endlich aus den Klauen gerissen! Nein, nun muß man die Gelegenheit benutzen und ihn vollständig retten! Aber erzählen Sie mir noch einmal, wie Ihnen das alles gelungen ist! Beschreiben Sie mir auf das eingehendste Ihr ganzes Zusammentreffen mit ihm! Vorhin habe ich in der Eile meine Aufmerksamkeit nur der Hauptsache zugewandt, während doch alle diese Details sozusagen der Sache erst den richtigen Geschmack geben. Ich höre außerordentlich gern Details; sogar bei den wichtigsten Dingen richte ich meine Aufmerksamkeit in erster Linie auf die Details … und … solange er noch mit seiner Toilette beschäftigt ist …“

»Ich kann Ihnen nur wiederholen, was ich Ihnen schon erzählt habe, Marja Alexandrowna“, fällt Mosgljakow bereitwillig ein; er würde die Geschichte gern selbst zum zehntenmal erzählen, ein solches Vergnügen macht es ihm. »Ich fuhr die ganze Nacht hindurch; selbstverständlich schlief ich die ganze Nacht nicht; Sie können es sich vorstellen, wie eilig ich es hatte!“ fügt er, zu Sinaida gewendet, hinzu; »kurz, ich forderte auf den Stationen unter Schreien und Schimpfen Pferde und machte deswegen sogar einen Mordsskandal: Wenn man das alles drucken wollte, würde ein ganzes Dichtwerk im modernsten Geschmack herauskommen! Aber das alles nur beiläufig! Punkt sechs Uhr morgens komme ich nach der letzten Station, nach Igischewo. Obwohl ich ganz durchfroren war, wollte ich mich doch nicht erst aufwärmen, sondern schrie: ‚Pferde!‘. Die Frau des Stationsaufsehers, die ein Kind an der Brust hatte, bekam darüber einen furchtbaren Schreck; ich glaube, es hat ihr die Milch verschlagen … Ein entzückender Sonnenaufgang! Wissen Sie, dieser Froststaub schimmert ganz purpurn und silbern! Aber ich kümmerte mich um nichts; kurz, ich suchte so schnell wie irgend möglich weiterzukommen. Die Pferde erlangte ich nur durch Kampf; ich nahm sie einem Kollegienrate weg und forderte ihn beinahe zum Duell. Es wurde mir gesagt, eine Viertelstunde vorher sei ein Fürst von der Station abgefahren; er fahre mit eigenen Pferden und sei dort über Nacht geblieben. Ich hörte kaum danach hin, stieg ein und jagte davon, als hätte ich mich von der Kette losgerissen. Etwas Ähnliches kommt in einer Elegie bei Fet vor. Gerade neun Werst von der Stadt, da wo sich der Weg nach dem Kloster Swetosersk abzweigt, sehe ich, daß sich ein erstaunliches Begebnis zugetragen hat. Ein Reiseschlitten von gewaltiger Größe liegt auf der Seite; der Kutscher und zwei Diener stehen ratlos davor, und aus dem auf der Seite liegenden Schlitten dringen herzzerreißende Hilferufe und Schmerzenslaute heraus. Ich wollte zuerst vorbeifahren, denn ich dachte: ‚Meinetwegen kannst du auf der Seite liegen bleiben; du gehörst nicht zu unserm Kirchspiel!‘. Aber es siegte doch die Menschenliebe, die, wie Heine sich ausdrückt, überall ihre Nase hineinsteckt. Ich ließ halten. Ich, mein Semjon und der Postkutscher, auch so eine echt russische Seele, wir eilten zu Hilfe, und auf diese Weise richteten wir zu sechsen endlich die Kutsche wieder auf und stellten sie auf die Beine; nun, Beine hatte sie ja allerdings nicht, sie war auf Kufen. Auch ein paar Bauern, die mit Holz nach der Stadt fuhren, halfen mit und bekamen von mir dafür ein Trinkgeld. Ich dachte, das ist gewiß der Fürst, der vor mir abgefahren ist! Ich sehe hin: Mein Gott, das ist ja er selbst, Fürst Gawrila! Ist das einmal ein Zusammentreffen! Ich rufe ihm zu: ‚Fürst! Onkelchen!‘. Er erkannte mich allerdings beim ersten Blick beinahe nicht; aber dann erkannte er mich sofort beinahe … beim zweiten Blick. Ich muß Ihnen jedoch gestehen, daß er auch jetzt kaum weiß, wer ich eigentlich bin, und mich anscheinend für einen andern hält und nicht für seinen Verwandten. Ich habe ihn vor ungefähr sieben Jahren in Petersburg gesehen; nun, damals war ich selbstverständlich noch ein ganz junger Bursche. Ich meinerseits erinnerte mich seiner sehr gut; er hatte einen starken Eindruck auf mich gemacht; na, aber er, wie sollte er sich meiner erinnern! Ich stellte mich ihm vor; er war entzückt, umarmte mich, zitterte aber dabei am ganzen Leibe vor Schreck und weinte, bei Gott, er weinte, ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen! Ein Wort gab das andere, und ich überredete ihn schließlich, in meinen Schlitten hinüberzusteigen und wenigstens auf einen Tag nach Mordassow zu fahren, um sich wieder zu erholen; er war ohne Widerrede damit einverstanden. Er setzte mir auseinander, er sei auf der Fahrt nach dem Kloster Swetosersk, zu dem Mönchpriester Missail, den er sehr hoch schätze und verehre; Stepanida Matwejewna (wer von uns Verwandten hätte nicht schon von Stepanida Matwejewna gehört? Mich hat sie im vorigen Jahre aus Duchanowo mit dem Ofenbesen weggejagt), diese Stepanida Matwejewna habe einen Brief erhalten, in dem gestanden habe, daß jemand von ihren Angehörigen in Moskau in den letzten Zügen liege: ihr Vater oder ihre Tochter, ich weiß nicht recht wer, und es interessiert mich auch nicht, das zu wissen; vielleicht der Vater mitsamt der Tochter, vielleicht auch noch dazu ein Neffe von ihr, der dort im Departement der alkoholischen Getränke angestellt ist. Tatsache ist jedenfalls dies: Sie war über diese Nachricht so bestürzt, daß sie sich dazu entschloß, sich auf zehn Tage von ihrem Fürsten zu trennen, und nach der Hauptstadt eilte, um sie durch ihre Anwesenheit zu verschönern. Der Fürst saß einen Tag und noch einen Tag zu Hause, probierte Perücken an, pomadisierte sich, färbte sich den Bart, legte sich Karten und befragte vielleicht auch das Bohnenorakel; aber ohne Stepanida Matwejewna konnte er es auf die Dauer zu Hause doch nicht aushalten! Er ließ anspannen und wollte nach dem Kloster Swetosersk fahren. Einer von den Hausleuten, der vor Stepanida Matwejewna auch in ihrer Abwesenheit Angst hatte, wagte zwar gegen die Fahrt Einwendungen zu machen; aber der Fürst beharrte auf seinem Sinne. Gestern nach dem Mittagessen fuhr er von Hause ab, blieb in Igischewo über Nacht, fuhr dann früh morgens von der Station weiter und wäre gerade da, wo sich der Weg zu dem Mönchpriester Missail abzweigt, beinahe mit seiner Schlittenkutsche in eine Schlucht hinabgestürzt. Nachdem ich ihn gerettet hatte, redete ich ihm zu, zu unserer gemeinsamen Freundin, der hochverehrten Marja Alexandrowna, zu fahren; er sagte von Ihnen, Sie seien die bezauberndste Dame, die er jemals kennengelernt habe — und so sind wir denn jetzt hier; der Fürst aber bringt jetzt oben seine Toilette in Ordnung, mit Hilfe seines Kammerdieners, den er nicht vergessen hat mitzunehmen, und den mitzunehmen er niemals und unter keinen Umständen vergessen wird; denn er würde lieber sterben als vor Damen ohne gewisse Zurüstungen oder, richtiger gesagt, Verbesserungen erscheinen. Das ist der ganze Hergang! Eine allerliebste Geschichte!“

»Aber was er für ein Humorist ist, Sinaida!“ rief Marja Alexandrowna nach Anhörung dieses Berichtes; »wie hübsch er das erzählt! Aber hören Sie, Pawel Alexandrowitsch, eine Frage: Setzen Sie mir doch einmal Ihre Verwandtschaft mit dem Fürsten ordentlich auseinander! Sie nennen ihn Onkel?“

»Bei Gott, Marja Alexandrowna, ich weiß nicht, wie ich mit ihm verwandt bin: Ich glaube, was man so nennt, um die sechste Ecke herum. Ich bin nicht schuld daran, daß ich ihn Onkel nenne; schuld an alledem ist vielmehr meine Tante Aglaja Michailowna. Übrigens hat Tante Aglaja Michailowna weiter nichts zu tun, als Verwandtschaften an den Fingern herzuzählen; sie ist es auch gewesen, die mich ordentlich mit Gewalt dazu gebracht hat, im vorigen Jahre zu ihm nach Duchanowo zu fahren. Sie hätte nur selbst hinfahren sollen! Ich nenne ihn ganz einfach Onkelchen, und er läßt es sich gefallen. Da haben Sie unsere ganze Verwandtschaft, soviel ich wenigstens heute davon zu sagen weiß …“

»Aber ich wiederhole doch, daß nur Gott Ihnen den Gedanken eingeben konnte, ihn geradeswegs zu mir zu bringen! Ich zittere, wenn ich mir vorstelle, was mit dem Ärmsten geschehen wäre, wenn er zu jemand anders hingeraten wäre als zu mir. Die Leute hätten ihn hier geradezu in Stücke zerrissen und verschlungen! Sie hätten sich auf ihn gestürzt wie auf eine Goldgrube, wie auf ein Diamantenlager — sie hätten ihn womöglich einfach bestohlen! Sie können sich gar nicht vorstellen, was für gierige, niedrigdenkende heimtückische Menschen es hier gibt, Pawel Alexandrowitsch!“

»Ach, mein Gott, aber zu wem hätte er ihn denn überhaupt bringen sollen als zu Ihnen? Wie können Sie nur so reden, Marja Alexandrowna!“ fiel Nastasja Petrowna ein, die Witwe, die den Tee eingoß. »Zu Anna Nikolajewna hätte er ihn ja doch wohl nicht bringen können, was meinen Sie?“

»Aber, daß er noch immer nicht herunterkommt! Das ist doch seltsam!“ sagt Marja Alexandrowna und stand ungeduldig auf.

»Mein Onkelchen? O, ich glaube, der wird sich oben noch fünf Stunden lang anziehen! Und außerdem hat er, da er gar kein Gedächtnis besitzt, vielleicht schon vergessen, daß er zu Ihnen zu Besuch gekommen ist. Er ist ja ein ganz wunderbarer Mensch, Marja Alexandrowna!“

»Aber ich bitte Sie; was reden Sie! Sagen Sie doch so etwas nicht!“

»Ja, Sie sagen: ‚Was reden Sie!‘ Marja Alexandrowna; aber es ist die reine Wahrheit! Er ist ja zur Hälfte ein Kunstprodukt und kein Mensch! Sie haben ihn vor sechs Jahren gesehen, aber ich vor einer Stunde. Er ist ja eine halbe Leiche! Er ist ja nur die Erinnerung an einen Menschen; man hat ja nur vergessen, ihn zu beerdigen! Er hat ja eingesetzte Augen und Korkbeine und bewegt sich nur durch ein Federwerk; auch reden tut er nur durch ein Federwerk!“

»Mein Gott, was sind Sie doch für ein leichtfertiger Mensch, wenn man Sie so reden hört!“ rief Marja Alexandrowna und nahm eine strenge Miene an. »Sie müßten sich doch schämen, als junger Mensch und als Verwandter so von diesem verehrungswürdigen alten Manne zu sprechen! Ganz zu geschweigen von seiner beispiellosen Herzensgüte“ (hier nahm ihre Stimme den Ton der Rührung an), »so sollten Sie doch nicht vergessen, daß er ein Überrest, sozusagen ein Trümmerstück unserer Aristokratie ist. Mein Freund, mon ami! Ich verstehe vollkommen, daß Ihr leichtfertiges Benehmen die Folge gewisser neuer Ideen ist, die Sie sich zu eigen gemacht haben, und von denen Sie fortwährend sprechen. Aber, mein Gott! Ich bin selbst eine Anhängerin Ihrer neuen Ideen! Ich verstehe vollkommen, daß die Grundlage Ihrer neuen Richtung eine edle und ehrenhafte ist. Ich fühle, daß in diesen neuen Ideen sogar etwas Erhabenes liegt; aber alles dies hindert mich nicht, auch die nächstliegende, sozusagen die praktische Seite der Sache zu sehen. Ich habe in der Welt gelebt, ich habe mehr gesehen als Sie, und schließlich bin ich Mutter, Sie aber sind noch sehr jung. Er ist ein alter Mann, und daher erscheint er uns komisch! Ja, Sie haben das vorigemal sogar gesagt, Sie hätten die Absicht, Ihre Bauern freizulassen, und man müsse doch auch etwas für die neue Zeit tun; und das kommt alles daher, daß Sie übermäßig viel in Ihrem Shakespeare gelesen haben! Glauben Sie mir, Pawel Alexandrowitsch, Ihr Shakespeare hat sein Leben längst hinter sich, und wenn er auferstände, so würde er mit all seinem Verstande von unserem Leben auch nicht das geringste verstehen. Wenn es etwas Ritterliches und Großartiges in unserer zeitgenössischen Gesellschaft gibt, so ist das gerade in der höchsten Gesellschaftsschicht zu finden. Ein Fürst bleibt auch in einem groben Kittel ein Fürst; ein Fürst wird auch in einer elenden Hütte derselbe sein wie in einem Schlosse! Sehen Sie, da hat sich der Mann von Natalja Dmitrijewna ein Haus gebaut, das beinah ein Schloß zu nennen ist, und dennoch ist er nur Natalja Dmitrijewnas Mann und weiter nichts! Und auch Natalja Dmitrijewna selbst bleibt, mag sie sich auch fünfzig Krinolinen anziehen, doch immer die frühere Natalja Dmitrijewna und fügt ihrem Werte nichts hinzu. Auch Sie sind zum Teil ein Repräsentant der höchsten Gesellschaftsschicht, weil Sie aus ihr hervorgegangen sind. Und ich glaube ihr ebenfalls nicht fernzustehen — das ist aber ein schlechter Vogel, der sein eigenes Nest beschmutzt! Indessen, Sie werden das alles später noch besser einsehen als ich, mon cher Paul, und werden Ihren Shakespeare vergessen. Das kann ich Ihnen vorhersagen. Ich bin überzeugt, daß Sie sogar auch jetzt nicht aufrichtig sind und nur um der Mode willen so reden. Aber ich bin ins Plaudern hineingeraten. Bleiben Sie hier unten, mon cher Paul; ich werde nach oben gehen und mich nach dem Fürsten erkundigen. Vielleicht bedarf er irgend etwas, und mit meinen Dienstboten ist ja nichts anzufangen …“

Damit verließ Marja Alexandrowna, in Erinnerung an die Unbrauchbarkeit ihrer Dienstboten, eilig das Zimmer.

»Marja Alexandrowna scheint sich sehr darüber zu freuen, daß der Besuch des Fürsten nicht dieser Modenärrin, der Anna Nikolajewna, zuteil geworden ist. Die hatte immer behauptet, mit ihm verwandt zu sein. Da wird sie gewiß jetzt vor Ärger platzen!“ bemerkte Nastasja Petrowna. Aber es fiel ihr auf, daß sie keine Antwort bekam; sie warf einen Blick nach Sinaida und Pawel Alexandrowitsch hin, erriet sofort, wie die Sache stand, und ging, anscheinend um etwas zu besorgen, hinaus. Indessen entschädigte sie sich dafür auf der Stelle dadurch, daß sie an der Tür stehen blieb und horchte.

Pawel Alexandrowitsch wandte sich sogleich an Sinaida. Er befand sich in schrecklicher Aufregung, und die Stimme zitterte ihm.

»Sinaida Afanasjewna, Sie sind mir doch nicht böse?“ fragte er mit schüchterner, flehender Miene.

»Ihnen böse? Warum sollte ich Ihnen böse sein?“ erwiderte Sinaida, leicht errötend, und hob ihre wundervollen Augen zu ihm auf.

»Weil ich so schnell wieder hergekommen bin, Sinaida Afanasjewna! Ich konnte es nicht länger aushalten; ich konnte nicht noch vierzehn Tage warten … Ich habe sogar von Ihnen geträumt. Ich bin hergeeilt, um mein Schicksal zu erfahren … Aber Sie machen ein finsteres Gesicht; Sie sind mir böse! Soll ich wirklich auch jetzt nichts Bestimmtes erfahren?“

Sinaida hatte tatsächlich die Brauen zusammengezogen. »Ich habe es erwartet, daß Sie wieder davon zu reden anfangen würden“, antwortete sie, indem sie die Augen wieder niederschlug; ihre Stimme klang fest und ernst; aber man hörte es derselben doch an, daß sie sich ärgerte. »Und da dieser Zustand der Erwartung mir sehr peinlich war, so ist es mir lieb, wenn die Sache so schnell wie möglich erledigt wird. Sie fordern wieder eine Antwort, das heißt, Sie bitten um eine solche. Nun gut, ich will sie Ihnen noch einmal wiederholen; denn meine Antwort ist ganz dieselbe wie früher: Warten Sie! Ich wiederhole Ihnen: Ich habe mich noch nicht entschieden und kann Ihnen nicht das Versprechen geben, Ihre Frau zu werden. Ein solches Versprechen kann man nicht mit Gewalt fordern, Pawel Alexandrowitsch. Aber zu Ihrer Beruhigung füge ich hinzu, daß ich Ihren Antrag noch nicht endgültig ablehne. Beachten Sie auch noch dies: Wenn ich Ihnen jetzt die Hoffnung auf eine günstige Entscheidung lasse, so tue ich das einzig und allein, weil mir Ihre Ungeduld und Aufregung leid tun. Ich wiederhole Ihnen, daß ich in meiner Entschließung vollkommen frei bleiben will, und wenn ich Ihnen schließlich sagen sollte, daß ich Ihren Antrag ablehne, so dürfen Sie mir keine Vorwürfe machen, als ob ich Ihnen Hoffnung gemacht hätte. Also das merken Sie sich!“

»Aber was besagt denn das, was besagt denn das?“ rief Mosgljakow in kläglichem Tone. »Ist denn das wirklich eine Hoffnung? Kann ich aus Ihren Worten irgendwelche Hoffnung entnehmen, Sinaida Afanasjewna?“

»Denken Sie an alles, was ich Ihnen gesagt habe, und entnehmen Sie daraus alles, was Ihnen beliebt! Das steht Ihnen frei. Aber ich füge nichts weiter hinzu. Ich gebe Ihnen noch keine abschlägige Antwort; ich sage nur: Warten Sie! Aber ich wiederhole Ihnen: Ich behalte mir das volle Recht vor, Ihren Antrag abzulehnen, wenn mir das gut scheinen sollte. Ich möchte noch eines bemerken, Pawel Alexandrowitsch: Wenn Sie vor dem für die Antwort festgesetzten Termin in der Absicht hergekommen sein sollten, auf Umwegen zu wirken, etwa in der Hoffnung auf fremde Protektion, zum Beispiel auf den Einfluß meiner Mutter, so haben Sie sich in Ihrer Spekulation sehr geirrt. Dann werde ich Ihnen geradezu eine Absage erteilen, hören Sie wohl? Aber jetzt genug davon, und, bitte, erinnern Sie mich bis zur bestimmten Zeit an diese ganze Sache mit keinem Worte!“

Diese ganze Rede sprach sie in trockenem, festem Tone und so fließend, als ob sie sie vorher auswendig gelernt hätte. Pawel Alexandrowitsch fühlte, daß er abgeblitzt war. In diesem Augenblick kehrte Marja Alexandrowna zurück und nach ihr, fast gleichzeitig, Frau Sjablowa.

»Ich glaube, er wird sogleich herunterkommen, Sinaida! Nastasja Petrowna, kochen Sie recht schnell einen Tee!“ Marja Alexandrowna befand sich sogar in einiger Aufregung.

»Anna Nikolajewna hat schon hergeschickt, um Erkundigungen einzuziehen. Ihre Anjutka ist in die Küche gekommen und hat dort gefragt. Die wird sich jetzt ärgern!“ berichtete Nastasja Petrowna und eilte zum Samowar hin. »Was geht mich das an?“ erwiderte ihr Marja Alexandrowna über die Schulter weg. »Als ob ich mich dafür interessierte, was Ihre Anna Nikolajewna denkt! Sie können mir glauben: Ich werde niemanden zu ihr in die Küche schicken. Und ich wundere mich, wundere mich entschieden, warum Sie mich immer für eine Feindin dieser armen Anna Nikolajewna halten, und nicht Sie allein, sondern die ganze Stadt. Ich berufe mich auf Sie, Pawel Alexandrowitsch! Sie kennen uns beide; nun, warum sollte ich ihre Feindin sein? Wegen des Vorranges? Aber an diesem Vorrange ist mir nicht das geringste gelegen. Mag sie doch den ersten Platz einnehmen, mag sie! Ich werde gern die erste sein, die zu ihr hinfährt, um ihr zu ihrem Vorrange zu gratulieren. Und schließlich sind doch alle gegen sie gerichteten Beschuldigungen ungerecht. Ich trete für sie ein; es ist meine Pflicht, für sie einzutreten! Sie wird verleumdet. Warum fallen Sie alle über sie her? Sie ist jung und putzt sich gern; ist das der Grund? Aber meiner Meinung nach ist es doch besser, sich zu putzen, als etwas anderes zu tun, wie zum Beispiel diese Natalja Dmitrijewna, die Dinge treibt, von denen man gar nicht einmal reden kann. Oder weil Anna Nikolajewna fortwährend Besuche macht und nicht zu Hause bleiben kann? Aber, mein Gott! Sie hat keinerlei Bildung genossen, und da fällt es ihr natürlich schwer, zum Beispiel ein Buch aufzuschlagen und sich mit etwas zwei Minuten lang zu beschäftigen. Sie kokettiert und liebäugelt mit jedem, der auf der Straße vorübergeht. Aber warum versichert man ihr denn, daß sie hübsch sei, während sie doch nur ihr weißes Gesicht hat und weiter nichts? Sie bringt die Zuschauer beim Tanzen zum Lachen, das gebe ich zu. Aber warum versichert man ihr denn, sie tanze wundervoll Polka? Sie trägt schauderhafte Coiffüren und Hüte; aber was kann sie dafür, daß ihr Gott keinen Geschmack, sondern dafür ein solches Quantum von Leichtgläubigkeit gegeben hat? Versichern Sie ihr, daß es hübsch aussieht, wenn man sich ein Bonbonpapier ins Haar steckt, und sie wird das tun. Sie ist eine Klatschbase; aber das ist hier der Brauch: Wer klatscht hier nicht? Herr Suschilow mit dem schönen Backenbart besucht sie morgens und abends und womöglich auch noch in der Nacht. Ach, mein Gott! Ihr Mann sollte nicht bis fünf Uhr morgens Karten spielen! Und dazu nehme man noch, daß es hier so viele schlechte Beispiele gibt! Schließlich ist das alles vielleicht auch nur Verleumdung. Kurz, ich werde immer, immer für sie eintreten …! Aber, mein Gott! Da kommt der Fürst! Er ist es, er ist es! Aus Tausenden erkenne ich ihn heraus! Endlich sehe ich Sie wieder, mon prince!“ rief Marja Alexandrowna und eilte dem eintretenden Fürsten entgegen.