Kapitel XV
Wenn das Schicksal einmal jemanden mit Unglück heimsucht, so folgt auch Schlag auf Schlag ohne Ende. Das ist schon längst beobachtet worden. An der Schmach und Schande, von der Marja Alexandrowna am vorhergehenden Tag betroffen worden war, war es noch nicht genug! Nein! Das Schicksal hatte noch Ärgeres, Schlimmeres für sie in Bereitschaft.
Schon vor zehn Uhr morgens verbreitete sich auf einmal in der ganzen Stadt ein seltsames und fast unglaubliches Gerücht, das von allen mit der boshaftesten Schadenfreude aufgenommen wurde, daß heißt in der Weise, wie wir gewöhnlich jede außerordentliche Skandalgeschichte aufnehmen, die sich mit einem von unseren Bekannten zuträgt. »Bis zu einem solchen Grade sich von Scham und Gewissen loszusagen!« wurde von allen Seiten gerufen; »bis zu einem solchen Grade sich zu erniedrigen; bis zu einem solchen Grade alle Bande zu zerreißen!« und so weiter, und so weiter. Was sich aber zugetragen hatte, war folgendes. Früh morgens, es war eben erst sieben Uhr, kam ein armes, klägliches altes Weib in Verzweiflung und Tränen in Marja Alexandrownas Haus gelaufen und bat das Stubenmädchen, so schnell wie möglich das gnädige Fräulein zu wecken, nur das gnädige Fräulein, und zwar heimlich, damit Marja Alexandrowna es ja nicht merke. Sinaida kam, blaß und erschrocken, sogleich zu der Alten herausgelaufen. Diese fiel vor ihr nieder, küßte ihr die Füße, benetzte sie mit Tränen und flehte sie an, ohne Verzug mit ihr zu ihrem kranken Wassili zu kommen, der die ganze Nacht über so krank, so krank gewesen sei, daß er diesen Tag nicht mehr überleben werde. Die Alte sagte schluchzend zu Sinaida, Wassili selbst ließe sie zu sich rufen, um in seiner Todesstunde von ihr Abschied zu nehmen; er beschwöre sie bei allen heiligen Engeln, bei allem, was früher gewesen sei; und wenn sie nicht komme, so werde er in Verzweiflung sterben. Sinaida entschloß sich sogleich dazu, mitzugehen, obwohl die Erfüllung einer solchen Bitte offenbar allen früheren boshaften Gerüchten über eine zutage gekommene Korrespondanz, über ihr skandalöses Benehmen und so weiter zur Bestätigung dienen mußte. Ohne ihrer Mutter etwas davon zu sagen, warf sie einen Mantel um und lief sogleich mit der alten Frau durch die ganze Stadt nach einer der ärmlichsten Vorstädte Mordassows, nach einer ganz einsamen Straße, wo ein altes, schief gewordenes, halb in die Erde gesunkenes Häuschen stand, mit einer Art von Ritzen statt der Fenster und rings von hohen Schneewehen umgeben.
In diesem Häuschen, in einem kleinen, niedrigen, dumpfigen Stübchen, in dem der gewaltige Ofen die Hälfte des ganzen Raumes einnahm, lag auf einem aus unangestrichenen Brettern zusammengeschlagenen Bette, auf einer Matratze, die so dünn war wie ein Eierkuchen, ein junger Mann, mit einem alten Mantel zugedeckt. Sein Gesicht war blaß und ausgemergelt; die Augen glänzten krankhaft; die Arme waren dünn und hart wie Stöcke; er atmete mühsam und heiser. Es war ihm anzusehen, daß er einmal schön gewesen sein mußte; aber die Krankheit hatte die feinen Züge seines hübschen Gesichtes zerstört, welches schrecklich und kläglich anzuschauen war, wie das Gesicht eines jeden Schwindsüchtigen oder, richtiger gesagt, Sterbenden. Seine alte Mutter, die ein ganzes Jahr lang, beinah bis zur letzten Stunde, auf die Genesung ihre Wassili gewartet hatte, sah nun endlich ein, daß er nicht mehr lange leben werde. Sie stand jetzt neben seinem Bette, von Gram gebeugt, mit gefalteten Händen, ohne Tränen, sah ihn an und konnte sich an ihm nicht sattsehen und vermochte, obgleich sie es wußte, dennoch nicht zu begreifen, daß nach einigen Tagen ihren Wassili, ihr Goldkind, dort auf dem Armenkirchhof die gefrorene Erde unter den Schneewehen bedecken werde.
Aber Wassili blickte in diesem Augenblicke nicht nach ihr hin. Sein ganzes abgemagertes Märtyrergesicht atmete jetzt Seligkeit. Er sah endlich diejenige vor sich, von der er ganze zwei Jahre lang geträumt hatte, im Wachen und im Schlafe, in den langen, schmerzerfüllten Nächten seiner Krankheit. Er verstand, daß sie ihm verziehen hatte, da sie wie ein Engel Gottes in seiner Todesstunde bei ihm erschienen war. Sich über ihn beugend drückte sie ihm die Hände, weinte, lächelte ihm zu, blickte ihn wieder mit ihren wundervollen Augen an, und — und alles Frühere, unwiederbringlich Verlorene, erstand in der Seele des Sterbenden von neuem. Das Leben flammte noch einmal in seinem Herzen auf, und es schien, als wollte es in dem Augenblicke, wo es ihn verließ, den Dulder empfinden lassen, wie schwer es sei, von ihm zu scheiden.
»Sinaida«, sagte er, »liebe Sinaida! Weine nicht über mich, gräme dich nicht, sei nicht traurig, erinnere mich nicht daran, daß ich bald sterben werde. Ich werde dich ansehen, so wie ich dich jetzt ansehe, und werde fühlen, daß unsere Seelen wieder vereinigt sind, daß du mir verziehen hast; ich werde wieder deine Hände küssen wie früher und werde vielleicht sterben, ohne den Tod zu merken! Du bist mager geworden, liebe Sinaida! Du mein Engel, mit welcher Herzensgüte du mich jetzt ansiehst! Erinnerst du dich wohl noch, wie du früher gelacht hast? Erinnerst du dich wohl noch … Ach, Sinaida, ich bitte dich nicht um Verzeihung; ich will das Geschehene nicht einmal erwähnen; denn, liebe Sinaida, wenn auch du mir vielleicht verziehen hast, so werde doch ich selbst mir niemals verzeihen. Es hat lange Nächte gegeben, Sinaida, schlaflose, schreckliche Nächte, und in diesen Nächten habe ich hier auf diesem Bette gelegen und nachgedacht, lange und viel hin und her gedacht, und ich bin schon längst zu der Erkenntnis gelangt, daß es für mich das beste ist, wenn ich sterbe, weiß Gott, das beste! … Ich tauge nicht zum Leben, liebe Sinaida!«
Sinaida weinte und drückte stumm seine Hände, als wollte sie ihm dadurch das Weiterreden wehren.
»Warum weinst du, mein Engel?« fuhr der Kranke fort. »Weinst du deswegen, weil ich sterbe, nur deswegen? Aber alles übrige ist ja schon längst gestorben, schon längst begraben! Du bist klüger als ich, du hast ein reineres Herz, und daher weißt du schon längst, daß ich ein schlechter Mensch bin. Kannst du mich denn noch lieben? Und wie schwer ist es mir geworden, den Gedanken zu ertragen, daß du es weißt, daß ich ein schlechter, hohler Mensch bin! Aber wieviel Eigenliebe dabei war, vielleicht auch Eigenliebe von edler Art … ich weiß es nicht! Ach, meine Teure, mein ganzes Leben war ein phantastische Träumerei. Ich habe mich immer meinen phantastischen Träumereien überlassen, aber ich habe nicht gelebt; ich bin stolz gewesen und habe den großen Haufen verachtet; aber worauf bin ich den Menschen gegenüber stolz gewesen? Ich weiß es selbst nicht. Auf meine Herzensreinheit, auf den Adel meiner Gefühle? Aber das war ja alles nur in meinen Träumereien vorhanden, Sinaida, wenn wir Shakespeare lasen; aber wenn es zum Handeln kam, dann zeigte ich, wie es mit meiner Herzensreinheit und mit dem Adel meiner Gefühle stand …«
»Hör auf!« sagte Sinaida, »hör auf! … Da ist alles unrichtig; du marterst dich ohne Grund!«
»Warum willst du, daß ich aufhöre, Sinaida? Ich weiß, du hast mir verziehen, mir vielleicht schon längst verziehen; aber du hast über mich zu Gericht gesessen und erkannt, was ich für ein Mensch bin; das ist es, was mich quält. Ich bin deiner Liebe unwürdig, Sinaida! Du bist auch im Handeln ehrenhaft und hochherzig gewesen; du bist vor deine Mutter hingetreten und hast ihr gesagt, du werdest mich heiraten und keinen anderen, und du hättest dein Wort gehalten; denn bei dir stehen die Taten nicht im Widerspruch zu den Worten. Aber ich, ich! Als es zum Handeln kam … Weißt du wohl, Sinaida, daß ich damals nicht einmal begriff, was du mir für ein Opfer brächtest, wenn du mich heiratetest! Nicht einmal dafür hatte ich Verständnis, daß du, wenn du mich heiratetest, vielleicht Hungers sterben würdest. Ja, dieser Gedanke kam mir überhaupt nicht! Ich dachte nur, du würdest mich, den großen Dichter (natürlich den großen Dichter, der ich zu werden hoffte), heiraten, und wollte die Gründe nicht gelten lassen, die du zur Unterstützung deiner Bitte um Aufschub der Hochzeit aufführtest; ich quälte dich, tyrannisierte dich, machte dir Vorwürfe, verachtete dich, und es kam schließlich dahin, daß ich dir mit einer Veröffentlichung jenes Briefes drohte. Ich war in diesem Augenblicke nicht einmal ein richtiger Schurke. Ich war einfach ein jämmerlicher Kerl! Oh, wie mußtest du mich verachten! Nein, es ist gut, daß ich sterbe! Es ist gut, daß du mich nicht geheiratet hast! Ich hätte nichts von deinem Opfer begriffen; ich hätte dich gequält, dich wegen unserer Armut gepeinigt; ja, nach einer Reihe von Jahren hätte ich dich vielleicht sogar als ein Hemmnis meines Lebens gehaßt. Aber jetzt ist es besser! Jetzt haben wenigstens meine bitteren Tränen mein Herz gereinigt. Ach, liebe Sinaida! Liebe mich, wenn auch nur ein klein bißchen, so wie du mich früher liebtest! Wenn auch nur in dieser letzten Stunde … Ich weiß ja, daß ich deiner Liebe nicht würdig bin, aber … aber … o du mein Engel!«
Während dieser ganzen Rede hatte Sinaida, die selbst schluchzte, ihn mehrmals am Weiterreden zu hindern versucht. Aber er hatte nicht auf sie gehört; es quälte ihn das Verlangen, sich ganz auszusprechen, und er hatte fortgefahren zu reden, wiewohl nur mühsam, keuchend, mit heiserer, fast versagender Stimme.
»Wenn du mir nicht begegnet wärest und mich nicht lieb gewonnen hättest, so wärest du am Leben geblieben!« sagte Sinaida. »Ach, warum, warum sind wir zusammengekommen!«
»Nein, meine Teure, nein, mache dir keine Vorwürfe deswegen, weil ich sterbe«, fuhr der Kranke fort. »Ich allein bin an allem schuld! Und wieviel Eitelkeit und Romantik war dabei! Hat man dir das Nähere über die Dummheit erzählt, die ich damals beging, Sinaida? Siehst du, es war hier vor etwa drei Jahren ein Untersuchungsgefangener, ein Bösewicht und Mörder; aber als er nun verurteilt war und körperlich gezüchtigt werden sollte, da erwies er sich als der kleinmütigste Mensch. Da er wußte, daß an einem Kranken die Züchtigung nicht vollstreckt wird, so verschaffte er sich Branntwein, schüttete Schnupftabak hinein und trank es aus. Er bekam davon ein so heftiges, so andauerndes Bluterbrechen, daß es ihm die Lungen ruinierte. Er wurde ins Lazarett gebracht und starb nach einigen Monaten an der Schwindsucht. Nun, siehst du, mein Engel, an diesen Gefangenen erinnerte ich mich gleich an jenem Tage … nun, du weißt schon, nach der Geschichte mit dem Briefe … und ich beschloß, mich ebenso umzubringen: aber was meinst du wohl, weshalb ich gerade die Schwindsucht wählte? Warum erhängte oder ertränkte ich mich nicht? Hatte ich Furcht vor einem schnellen Tode? Vielleicht auch das, — aber ich habe immer die Vorstellung, liebe Sinaida, als ob es bei mir auch damals nicht ohne süße romantische Dummheiten abging! Ich hatte immer den Gedanken: wie schön wird es sein, wenn ich als Schwindsüchtiger sterbend auf meinem Bette liegen werde und du dich quälen und martern wirst, weil du an meiner Schwindsucht schuld seiest; du wirst selbst mit dem Bekenntnis deiner Schuld zu mir kommen und vor mir auf die Knie fallen. Ich werde dir verzeihen und in deinen Armen sterben … Das ist dumm, liebe Sinaida, sehr dumm; nicht wahr?«
»Denke nicht an diese Dinge!« sagte Sinaida. »Sprich nicht davon! Ein solcher Mensch bist du nicht … laß uns lieber an anderes zurückdenken, an unsere schöne, glückliche Zeit!«
»Es ist mir ein bitterer Schmerz, meine Teure; darum rede ich davon. Zwei Jahre lang habe ich dich nicht gesehen! Jetzt möchte ich meine ganze Seele offen vor dich hinlegen! Diese ganze Zeit über, von damals an, bin ich ja völlig allein gewesen, und ich glaube, es ist keine Minute gewesen, wo ich nicht an dich gedacht hätte, mein Engel, mein Augapfel! Und weißt du was, liebe Sinaida? Wie gerne hätte ich etwas getan, mich irgendwie so verdient gemacht, daß ich dich gezwungen hätte, deine Meinung über mich zu ändern. Bis auf die letzte Zeit hatte ich nicht geglaubt, daß ich sterben würde; ich war ja nicht sogleich bettlägerig geworden, ich ging noch lange mit kranker Brust umher. Und wie viele lächerliche Pläne ich hatte! Ich phantasierte zum Beispiel davon, auf einmal ein großer Dichter zu werden, in den ‚Vaterländischen Aufzeichnungen‘ ein solches Gedicht erscheinen zu lassen, wie bisher noch keines auf der Welt existiert hat. Ich gedachte, in diesem Gedichte alle meine Gefühle auszuströmen, meine ganze Seele, so daß, wo du auch sein möchtest, ich immer bei dir wäre und dich unaufhörlich durch meine Werke an mich erinnerte; und meine schönste Träumerei war die: du würdest endlich nachdenklich werden und sagen: ‚Nein, er ist doch kein so schlechter Mensch, wie ich gedacht habe!‘ Das war dumm, liebe Sinaida, sehr dumm, nicht wahr?«
»Nein, nein, Wassili, nein!« sagte Sinaida.
Sie warf sich an seine Brust und küßte seine Hände.
»Und wie eifersüchtig ich die ganze Zeit über gewesen bin! Ich glaube, ich wäre gestorben, wenn ich von deiner Hochzeit gehört hätte! Ich habe heimlich zu dir geschickt und ausspionieren lassen, was du tatest … sie« (er wies durch eine Kopfbewegung auf seine Mutter hin) »hat das immer besorgt. Du hast diesen Mosgljakow doch nicht geliebt, liebe Sinaida? O mein Engel! Wirst du auch an mich denken, wenn ich werde gestorben sein? Ich weiß, daß du es tun wirst; aber die Jahre werden vergehen, und dein Herz wird erkalten, und es wird Winter in deiner Seele werden, und du wirst mich vergessen, liebe Sinaida!«
»Nein, nein, niemals! Ich werde auch nicht heiraten … Du bist der erste, den ich liebgewonnen habe; ich werde dich lebenslänglich lieben …«
»Alles stirbt, liebe Sinaida, alles, sogar die Erinnerungen. Auch unsere edlen Gefühle sterben. An ihre Stelle tritt die Vernunft. Darüber darf man nicht murren! Genieße das Leben, Sinaida, lebe lange, lebe glücklich! Liebe auch einen andern, wenn er dir gefällt; einen Toten kannst du ja doch nicht lieben! Nur vergiß mich nicht; denke wenigstens mitunter an mich; an das Schlechte denke nicht zurück, verzeihe das Schlechte; es hat ja in unserer Liebe doch auch Gutes gegeben, liebe Sinaida! O die goldenen, unwiederbringlichen Tage! … Höre, mein Engel, ich habe immer die Abendzeit, die Stunde des Sonnenunterganges geliebt. Erinnere dich meiner ab und zu in dieser Stunde! O nein, nein! Warum muß ich sterben? O wie gern möchte ich jetzt ein neues Leben beginnen! Gedenke, meine Teure, gedenke, gedenke jener Zeit! Damals war Frühling, und die Sonne schien so hell, die Blumen blühten, rings um uns war gleichsam ein Feiertag … Aber jetzt! Sieh hin, sieh hin!«
Und der Arme wies mit seiner abgezehrten Hand nach dem befrorenen trüben Fenster. Dann ergriff er Sinaidas Hände, drückte sie an seine Augen und schluchzte bitterlich. Das Schluchzen sprengte fast seine gequälte Brust.
Den ganzen Tag über litt er, härmte sich und weinte. Sinaida tröstete ihn, so gut sie konnte; aber sie selbst war vor Seelenschmerz dem Tode nahe. Sie sagte, sie werde ihn nie vergessen und nie einen andern so lieben, wie sie ihn geliebt habe. Er glaubte es ihr, lächelte und küßte ihr die Hände; aber die Erinnerungen an die Vergangenheit hatten nur die Wirkung, seine Seele zu quälen und zu martern. So verging der ganze Tag. Unterdessen hatte die erschrockene Marja Alexandrowna wohl zehnmal zu Sinaida geschickt und sie bitten lassen, sie möchte doch nach Hause zurückkehren und ihr Renommee bei der Gesellschaft nicht vollständig verderben. Endlich, als es schon dunkel wurde, entschloß sie sich, vor Angst fast kopflos, selbst zu Sinaida hinzugehen. Sie ließ ihre Tochter in die andere Stube rufen und flehte sie beinah fußfällig an, »ihrem Herzen doch diesen letzten, schlimmsten Dolchstoß zu ersparen“. Sinaida, ganz krank, mit glühendem Kopfe, hörte die Bitten ihrer Mutter an, ohne sie zu verstehen. Marja Alexandrowna ging endlich wieder fort, voller Verzweiflung, da Sinaida sich vorgenommen hatte, in dem Hause des Sterbenden zu übernachten. Die ganze Nacht über wich sie nicht von seinem Bette. Aber der Zustand des Kranken verschlimmerte sich immer mehr. Ein neuer Tag brach an; aber es war keine Hoffnung mehr, daß der Dulder ihn bis zu Ende erleben werde. Die alte Mutter war wie eine Irrsinnige; sie ging umher, als ob sie nichts begriffe, und reichte ihrem Sohne die Arzneien; dieser wollte sie jedoch nicht mehr nehmen. Sein Todeskampf dauerte lange. Er konnte nicht mehr reden, und nur unzusammenhängende, heisere Laute brachen aus seiner Brust hervor. Bis zum letzten Momente sah er immer nach Sinaida hin, suchte sie immer mit seinen Blicken, und als es ihm schon dunkel um die Augen wurde, tastete er immer noch mit unsicherer, irrender Hand nach der ihrigen, um sie in der seinigen zu drücken. Unterdessen verging der kurze Wintertag. Und als endlich der letzte scheidende Strahl der Sonne das befrorene einzige Fensterchen der kleinen Stube vergoldete, da flog die Seele des Dulders aus dem entkräfteten Körper diesem Strahle nach. Als die Mutter den Leichnam ihres heißgeliebten Wassili vor sich liegen sah, schlug sie die Hände zusammen, schrie auf und warf sich an die Brust des Toten.
»Du arglistige Schlange, du bist es gewesen, die ihn behext hat!« schrie sie in ihrer Verzweiflung Sinaida zu. »Du hast ihn mir entrissen, du Verfluchte; du hast ihn zugrunde gerichtet, du Übeltäterin!«
Aber Sinaida hörte nichts mehr. Sie stand wie denkunfähig neben dem Toten. Endlich beugte sie sich über ihn, bekreuzte ihn, küßte ihn und ging mechanisch aus der Stube hinaus. Ihre Augen brannten, der Kopf war ihr schwindlig. Die qualvollen Empfindungen und die zwei fast schlaflosen Nächte hatten sie beinahe des Verstandes beraubt. Sie hatte das unklare Gefühl, daß ihre ganze Vergangenheit sich gewissermaßen von ihrem Herzen losriß und ein neues, finsteres, unheildrohendes Leben begann. Aber sie war noch nicht zehn Schritte gegangen, als Mosgljakow wie aus der Erde gewachsen vor ihr stand; er schien absichtlich an dieser Stelle auf sie gewartet zu haben.
»Sinaida Afanasjewna«, begann er flüstern; er schien sich vor etwas zu fürchten und blickte sich eilig nach allen Seiten um; denn es war noch ziemlich hell; »Sinaida Afanasjewna, ich bin allerdings ein Esel! Das heißt, eigentlich bin ich jetzt kein Esel mehr; denn, sehen Sie, ich habe mich doch anständig benommen. Aber doch bereue ich, daß ich ein Esel war … Ich bin, glaube ich, etwas verwirrt, Sinaida Afanasjewna; aber … Sie werden es entschuldigen; das hat verschiedene Gründe …«
Sinaida sah ihn an, fast ohne sich dessen bewußt zu sein, und setzte schweigend ihren Weg fort. Da auf dem hohen Holztrottoir zwei Personen nebeneinander nur knapp Platz hatten, Sinaida aber nicht aus der Mitte wegtrat, so sprang Pawel Alexandrowitsch vom Trottoir hinunter und lief unten neben ihr her, wobei er ihr fortwährend ins Gesicht blickte.
»Sinaida Afanasjewna«, fuhr er fort, »ich habe über die Sache nachgedacht, und wenn Sie selbst wollen, so möchte ich meinen Heiratsantrag erneuern. Ich bin sogar bereit, alles zu vergessen, Sinaida Afanasjewna, den ganzen schmählichen Vorgang zu vergessen und zu verzeihen, aber nur unter einer Bedingung: solange wir noch hier sind, muß alles geheim bleiben. Sie fahren von hier möglichst bald weg, und ich heimlich Ihnen nach; wir lassen uns irgendwo an einem abgelegenen Orte trauen, so daß kein Mensch etwas davon erfährt, und reisen dann sofort nach Petersburg, meinetwegen mit Relaispferden; Sie können also nur einen kleinen Koffer mitnehmen … was meinen Sie dazu? Sind Sie einverstanden, Sinaida Afanasjewna? Antworten Sie so schnell wie möglich! Ich kann nicht warten; man könnte uns zusammen sehen.«
Sinaida gab ihm keine Antwort und sah ihn nur an, aber mit einem solchen Blicke, daß er sogleich alles verstand, den Hut abnahm, sich verbeugte und bei der ersten Straßenkreuzung seitwärts abbog.
»Wie geht das zu?« dachte er. »Vorgestern abend war sie noch so gerührt und legte sich die Schuld an allem bei? Da sieht man, daß ein Tag nicht wie der andere ist!«
Unterdessen jagten in Mordassow die Ereignisse einander nur so. Es begab sich etwas recht Tragisches. Der Fürst, der von Mosgljakow in ein Gasthaus gebracht worden war, erkrankte noch in derselben Nacht, und zwar recht gefährlich. Die Einwohner von Mordassow erfuhren dies am nächsten Morgen. Kaliist Stanislawitsch wich fast nicht vom Bette des Kranken. Am Abend wurde ein Konsilium aller Mordassower Ärzte veranstaltet. Die Einladungen dazu waren an sie in lateinischer Sprache ergangen. Aber trotz des Lateins verlor der Fürst schon ganz das Gedächtnis, phantasierte, bat Kailist Stanislawitsch, ihm ein gewisses Lied zu singen, und redete von irgendwelchen Perücken; manchmal schien er über etwas zu erschrecken und fing an zu schreien. Die Ärzte sprachen ihre Ansicht dahin aus, der Fürst habe von der Mordassower Gastfreundschaft eine Magenentzündung bekommen, die auf irgendeine Weise (wahrscheinlich so en passant) auch in den Kopf gelangt sei. Auch eine gewisse seelische Erschütterung stellten sie nicht in Abrede. Sie schlossen ihr Gutachten mit der Bemerkung, der Fürst sei schon seit längerer Zeit zum Sterben disponiert gewesen und werde daher unfehlbar sterben. In dem letzten Punkte hatten sie sich nicht geirrt; denn der arme alte Mann starb wirklich am folgenden Tage im Gasthause. Das versetzte die Einwohner von Mordassow in Aufregung. Niemand hatte erwartet, daß die Sache eine so ernste Wendung nehmen werde. Sie stürzten in Scharen nach dem Gasthofe hin, wo der noch nicht zurechtgemachte Leichnam lag, erörterten den Fall, disputierten miteinander, schüttelten die Köpfe und fällten schließlich ein scharfes Verdammungsurteil über ‚die Mörderinnen des unglücklichen Fürsten‘, worunter sie natürlich Marja Alexandrowna und ihre Tochter verstanden. Alle hatten die Empfindung, daß dieser Vorfall, schon allein wegen seines skandalösen Charakters, eine unangenehme Publizität gewinnen könne, vielleicht sogar in ferneren Gegenden bekannt werden würde, und was nicht sonst noch alles geredet und geschwatzt wurde. Während dieser ganzen Zeit war Mosgljakow in geschäftiger Tätigkeit, rannte hastig nach allen Seiten und wurde zuletzt ganz schwindlig. In diesem Seelenzustande hatte er sich befunden, als er mit Sinaida zusammentraf. In der Tat war seine Lage eine schwierige. Er selbst hatte den Fürsten in die Stadt gebracht; er selbst hatte ihn dann in das Gasthaus transportiert; aber jetzt wußte er nicht, was er mit der Leiche anfangen, wie und wo er sie begraben lassen und wem er Mitteilung machen sollte. Sollte er die Leiche nach Duchanowo schaffen? Überdies galt er als Neffe. Die Befürchtung, man könnte ihm die Schuld an dem Tode des verehrten alten Herrn beimessen, brachte ihn zum Zittern. »Am Ende wird die Geschichte gar noch in Petersburg bekannt, in den Kreisen der höchsten Gesellschaft!« dachte er, vor Schreck zusammenfahrend. Von den Mordassowern konnte er keinerlei Rat erhalten; alle hatten auf einmal vor irgend etwas Bange bekommen, zogen sich von der Leiche zurück und ließen Mosgljakow in trauriger Vereinsamung zurück. Aber auf einmal änderte sich die ganze Szene. Am nächsten Tage kam früh morgens ein Fremder in die Stadt gefahren. Von diesem Fremden sprach sofort ganz Mordassow, aber nur heimlich und flüsternd, und als er durch die Hauptstraße zum Gouverneur fuhr, da beobachtete man ihn durch alle Ritzen und Fenster. Sogar Pjotr Michailowitsch selbst schien es mit der Angst zu bekommen und nicht zu wissen, wie er sich dem Ankömmling gegenüber zu verhalten habe. Der Fremde war der ziemlich bekannte Fürst Schtschepetilow, ein Verwandter des Verstorbenen, fast noch ein junger Mensch, etwa fünfunddreißig Jahre alt, mit Oberstenepauletts und Achselschnüren. Alle Beamten ergriff eine ganz besondere Furcht vor diesen Achselschnüren. Der Polizeimeister zum Beispiel verlor vollständig die Fassung; er erschien zwar persönlich, um seine Aufwartung zu machen, aber mit sehr ängstlichem Gesichte. Es wurde sogleich bekannt, daß Fürst Schtschepetilow aus Petersburg kam und unterwegs nach Duchanowo herangefahren war. Da er in Duchanowo niemanden vorgefunden hatte, war er seinem Onkel nach Mordassow nachgefahren, wo er bei der Nachricht von dem Tode des alten Mannes und bei all den Gerüchten über die näheren Umstände seines Todes wie vom Donner gerührt war. Pjotr Michailowitsch war sogar einigermaßen verlegen, als er ihm die notwendigen Mitteilungen machte, und auch alle Leute in Mordassow machten gewissermaßen schuldbewußte Gesichter. Überdies hatte der Ankömmling eine recht strenge, unzufriedene Miene, obgleich man hätte meinen sollen, daß die Erbschaft keinen Grund zur Unzufriedenheit bot. Er nahm die Sache sofort selbst und persönlich in die Hand; Mosgljakow aber räumte unverzüglich in schmählicher Weise das Feld vor dem richtigen und sich nicht nur selbst so nennenden Neffen und verschwand, niemand wußte wohin. Der Ankömmling ordnete an, es solle die Leiche des Verstorbenen sofort nach dem Kloster geschafft und dort auch das Totenamt abgehalten werden. Alle seine Befehle gab er in kurzer, trockener, strenger, aber durchaus taktvoller, anständiger Form. Am folgenden Tage versammelte sich die ganze Einwohnerschaft der Stadt im Kloster, um dem Totenamte beizuwohnen. Unter den Damen hatte sich das sinnlose Gerücht verbreitet, Marja Alexandrowna werde persönlich in der Kirche erscheinen, vor dem Sarge niederknien und laut um Verzeihung bitten; all das müsse nach dem Gesetze so sein. Selbstverständlich stellte sich das alles als Unsinn heraus, und Marja Alexandrowna erschien nicht in der Kirche. Wir haben vergessen zu sagen, daß, gleich nachdem Sinaida nach Hause zurückgekehrt war, ihre Mama sich noch an demselben Abend entschlossen hatte, mit ihr nach dem Gute zu fahren, da sie es für unmöglich erachtete, länger in der Stadt zu bleiben. Dort horchte sie unruhig von ihrem abgelegenen Winkel aus auf die in der Stadt umlaufenden Gerüchte, schickte Leute aus, um über den Ankömmling Erkundigungen einzuziehen, und befand sich die ganze Zeit über in fieberhafter Aufregung. Der Weg von dem Kloster nach Duchanowo führte in einer Entfernung von weniger als einer Werst an Marja Alexandrownas ländlichem Hause vorbei, und daher konnte sie bequem die lange Prozession beobachten, die sich nach dem Totenamte vom Kloster nach Duchanowo hinbewegte. Der Sarg wurde auf einem hohen Leichenwagen gefahren; hinter ihm zog sich die lange Reihe der Equipagen hin, die dem Verstorbenen das Geleite bis dahin gaben, wo der Weg zur Stadt abbog. Und noch lange blieb auf dem weißbeschneiten Felde der schwarze, düstere Leichenwagen sichtbar, wie er sich langsam, mit geziemender Würde dahinbewegte. Aber Marja Alexandrowna mochte dieses Schauspiel nicht lange betrachten und trat vom Fenster zurück.
Eine Woche darauf siedelte sie mit ihrer Tochter und mit Afanassi Matwejewitsch nach Moskau über, und einen Monat später erfuhr man in Mordassow, daß Marja Alexandrownas bei der Stadt gelegenes Gut und ihr Stadthaus verkauft würden. So verlor Mordassow für alle Zeit eine Dame mit dem höchsten comme il faut! Auch bei dieser Gelegenheit ging es nicht ohne üble Nachrede ab. Zum Beispiel wurde behauptet, das Gut werde mitsamt Afanassi Matwejewitsch verkauft … Es verging ein Jahr und noch ein Jahr, und man vergaß Marja Alexandrowna fast vollständig. Leider geht es in der Welt immer so zu! Es wurde übrigens erzählt, sie habe sich ein anderes Gut gekauft und sei in eine andere Gouvernementsstadt gezogen, wo sie selbstverständlich auch schon alle unter ihre Herrschaft gebracht habe; Sinaida sei immer noch unverheiratet, und Afanassi Matwejewitsch … Aber es hat keinen Zweck, diese Gerüchte wiederzugeben; all das ist sehr unzuverlässig.
* * *
Drei Jahre sind vergangen, seit ich die letzte Zeile der ersten Abteilung der Mordassower Chronik niedergeschrieben habe, und wer hätte gedacht, daß ich noch einmal Anlaß haben würde, mein Manuskript wieder aufzuschlagen und zu meiner Erzählung noch eine Mitteilung hinzuzufügen. Aber zur Sache! Ich beginne mit Pawel Alexandrowitsch Mosgljakow. Nachdem er aus Mordassow verschwunden war, hatte er sich direkt nach Petersburg begeben, wo er denn auch glücklich das Amt erhielt, das man ihm schon lange versprochen hatte. Bald aber hatte er alle Mordassower Ereignisse vergessen, sich auf der Wassiljewski-Insel und am Galeerenhafen in den Strudel des lebemännischen Treibens gestürzt, dem Jeu gefrönt, geflirtet, war nicht ‚hinter seiner Zeit zurückgeblieben‘, hatte einen Heiratsantrag gemacht, noch einmal eine abschlägige Antwort hinunterschlucken müssen und, noch ehe er sie recht verdaut hatte, infolge der Leichtfertigkeit seines Charakters und aus Langeweile sich um eine Stelle bei einer Expedition bemüht, die nach einem der fernsten Gebiete unseres weitausgedehnten Vaterlandes abgehen sollte, um dort eine Revision vorzunehmen, oder zu irgendwelchem andern Zwecke, genau weiß ich das nicht. Die Expedition durchquerte glücklich alle Wälder und Einöden und erschien endlich nach langer Reise in der Hauptstadt jenes fernen Gebietes bei dem Generalgouverneur. Dies war ein hochgewachsener, hagerer, ernstblickender General, ein alter, in Schlachten verwundeter Krieger, mit zwei Ordenssternen auf der Brust und mit einem weißen Ordenskreuze am Halse. Er empfing die Expedition zeremoniös und würdevoll und lud alle Mitglieder derselben zu sich zu einem Balle ein, der bei ihm gerade an diesem Abende anläßlich des Namenstages der Frau Generalgouverneur stattfand. Pawel Alexandrowitsch war darüber sehr erfreut. Angetan mit seinem eleganten Petersburger Kostüm, in dem er einen großen Effekt zu machen hoffte, trat er ungeniert in den großen Saal, wurde aber sogleich beim Anblicke der vielen dicken Epauletts und der ordengeschmückten Beamtenuniformen etwas bescheidener. Es war erforderlich, daß er der Frau Generalgouverneur, über die er schon gehört hatte, daß sie jung und sehr schön sei, seine Verbeugung machte. In stutzerhafter Manier trat er zu ihr hin und wurde plötzlich starr vor Staunen. Vor ihm stand Sinaida, in einem prachtvollen Ballkleide, mit Brillanten geschmückt, stolz und hochmütig. Sie erkannte Pawel Alexandrowitsch gar nicht. Ihr Blick glitt nachlässig über sein Gesicht hin und wandte sich sofort einem andern Herrn zu. Verblüfft trat Mosgljakow zur Seite und stieß in dem Schwarme auf einen schüchternen jungen Beamten, der zum erstenmal auf einen Ball beim Generalgouverneur geraten war und sich dort sehr unbehaglich fühlte. Pawel Alexandrowitsch machte sich unverzüglich daran, ihn auszufragen, und erfuhr von ihm höchst interessante Dinge. Er erfuhr, daß der Generalgouverneur schon vor zwei Jahren geheiratet habe, als er aus dem ‚fernen Gebiete‘ nach Moskau gereist sei, und daß er ein sehr reiches Mädchen aus einem vornehmen Hause zur Frau genommen habe. Die Generalin sei sehr schön, ja man könne sagen eine Schönheit allerersten Ranges; aber sie benehme sich sehr stolz und tanze nur mit Generälen; auf diesem Balle seien im ganzen neun teils ortsangehörige, teils von auswärts zugereiste Generäle anwesend, mit Einschluß der Wirklichen Staatsräte; die Generalin habe auch eine Mutter, die mit ihr zusammen lebe; diese Mutter habe in Moskau vor ihrer Übersiedlung zu den höchsten Gesellschaftskreisen gehört und sei sehr klug; aber auch sie ordne sich bedingungslos dem Willen ihrer Tochter unter, und der Generalgouverneur selbst könne sich an seiner Gemahlin gar nicht satt sehen. Mosgljakow ließ ein Wort über Afanassi Matwejewitsch fallen; aber von dem hatte man in diesem ‚fernen Gebiete‘ keinerlei Kenntnis. Nachdem Mosgljakow wieder etwas Mut gefaßt hatte, wanderte er durch die Zimmer und erblickte bald auch Marja Alexandrowna, welche, prächtig geputzt, sich mit einem teuren Fächer Luft zufächelte und mit einem hohen Beamten in lebhaftem Gespräche begriffen war. Um sie herum drängte sich eine Anzahl von Damen, die sich um ihre Gunst bemühten, und Marja Alexandrowna schien gegen alle äußerst liebenswürdig zu sein. Mosgljakow wagte es, sich vorzustellen. Marja Alexandrowna zuckte anscheinend ein wenig zusammen, faßte sich aber sofort wieder, fast in demselben Augenblicke. Sie geruhte in liebenswürdiger Weise, Pawel Alexandrowitsch wiederzuerkennen, fragte ihn, was er in Petersburg für Bekanntschaften gemacht habe, und warum er nicht im Auslande sei. Von Mordassow sagte sie keine Silbe, als ob dieser Ort überhaupt nicht auf der Welt wäre. Schließlich nannte sie noch den Namen eines hochangesehenen Petersburger Fürsten und erkundigte sich nach dessen Gesundheit, obgleich Mosgljakow von diesem Fürsten keine Ahnung hatte; dann aber wandte sie sich sachte zu einem herantretenden hohen Würdenträger mit parfümiertem grauem Haare und hatte einen Augenblick darauf den vor ihr stehenden Pawel Alexandrowitsch vollständig vergessen. Mit einem sarkastischem Lächeln und mit dem Hute in der Hand kehrte Mosgljakow in den großen Saal zurück. Da er sich aus irgendwelchem Grunde für gekränkt, ja für beleidigt hielt, so beschloß er nicht zu tanzen. Eine grimmige, zerstreute Miene und ein beißendes, mephistophelisches Lächeln wichen den ganzen Abend über nicht von seinem Gesichte. Er lehnte sich malerisch an eine Säule (eine besondere Fügung hatte es gewollt, daß der Saal mit Säulen ausgestattet war), stand während des ganzen Balles, mehrere Stunden lang, auf einem Fleck und verfolgte Sinaida mit seinen Blicken. Aber ach, alle seine Kunststücke, alle seine besonderen Posen, seine enttäuschte Miene und so weiter und so weiter, alles war vergeblich. Sinaida bemerkte ihn schlechterdings nicht. Rasend vor Ingrimm, mit schmerzenden Füßen vom langen Stehen und hungrig, da er in seiner Eigenschaft als Verliebter und Dulder nicht zum Souper bleiben konnte, kehrte er endlich in sein Logis zurück, ganz abgemattet und mit einem Gefühle, als hätte ihn jemand durchgeprügelt. Lange Zeit mochte er sich nicht schlafen legen, sondern dachte an längst vergessene Dinge. Am anderen Morgen bot sich für eines der Expeditionsmitglieder die Möglichkeit, sich mit einem besonderen Auftrage abkommandieren zu lassen, und Mosgljakow erbat sich mit großem Genusse diesen Auftrag. Er wurde seelisch wieder ordentlich frisch, als er aus der Stadt hinausfuhr. Auf der grenzenlosen, einsamen Fläche lag der Schnee wie ein blendend weißes Tuch. Nur ganz am äußersten Horizonte waren dunkle Wälder wahrnehmbar.
Die feurigen Pferde jagten dahin und warfen mit den Hufen den Schneestaub in die Höhe. Das Glöckchen klang hell. Pawel Alexandrowitsch wurde nachdenklich und versank dann in Träumereien; dann aber schlummerte er ein und schlief recht ruhig. Er erwachte erst auf der dritten Station, frisch und gesund und mit ganz anderen Gedanken.