Kapitel IV
Beim ersten flüchtigen Blicke werden Sie diesen Fürsten ganz und gar nicht für einen alten Mann halten, und erst wenn Sie ihn näher und genauer ansehen, werden Sie erkennen, daß das eine Art Leiche auf Sprungfedern ist. Alle Mittel der Kunst sind zur Anwendung gebracht, um diese Mumie als Jüngling zu kostümieren. Die Perücke, der Backenbart, der Schnurrbart und die Fliege, sämtlich falsch, aber bewundernswert nachgemacht, zeigen eine prachtvolle schwarze Farbe und bedecken das halbe Gesicht. Das Gesicht ist außerordentlich kunstvoll weiß und rot geschminkt und weist fast gar keine Runzeln auf. Wo sind sie geblieben? Das weiß man nicht. Gekleidet ist er vollständig nach der Mode, als ob er aus einem Modebilde ausgeschnitten wäre. Er trägt eine Art von Visitenanzug oder etwas Ähnliches; ich weiß wahrhaftig nicht, was es eigentlich ist; aber jedenfalls ist es etwas höchst Modernes, Neues, speziell für Morgenvisiten Geschaffenes. Die Handschuhe, die Halsbinde, die Weste, die Wäsche und alles übrige ist von einer blendenden Frische und zeugt von seinem Geschmack. Der Fürst hinkt ein wenig; aber er hinkt so geschickt, als ob auch dies nach den Gesetzen der Mode notwendig wäre. Im einen Auge trägt er ein Monokel, und zwar in eben dem Auge, das selbst von Glas ist. Der Fürst ist von Wohlgerüchen durchtränkt. Beim Sprechen zieht er manche Worte in einer besonderen Weise in die Länge, vielleicht aus Altersschwäche, vielleicht daher, weil seine Zähne sämtlich falsch sind, vielleicht auch um des würdevolleren Eindrucks willen. Gewisse Silben spricht er mit überaus süßem Tone aus; besonders liebt er dabei den Vokale. „Ja“ klingt bei ihm wie „jje“, aber nur noch etwas süßer und weicher. In seinem ganzen Benehmen liegt eine gewisse Lässigkeit, die er sich im Laufe seines ganzen stutzerhaften Lebens angelernt hat. Aber wenn sich etwas von diesem seinen früheren stutzerhaften Leben erhalten hat, so hat es sich nur unbewußt erhalten, in Form einer unklaren Erinnerung, in Form einer dahingestorbenen und begrabenen alten Zeit, die leider keine kosmetischen Mittel, keine Korsetts, keine Parfümeriehändler und keine Perückenmacher wieder ins Leben zurückrufen können. Und darum werden wir am besten tun, wenn wir gleich von vornherein bekennen, daß der alte Herr infolge seines Alters zwar noch nicht den Verstand, wohl aber schon längst das Gedächtnis verloren hat, sich alle Augenblicke verheddert, sich wiederholt und sogar vollständigen Unsinn redet. Es bedarf sogar einer besonderen Kunst, um mit ihm zu reden. Aber Marja Alexandrowna vertraut auf ihre Geschicklichkeit und gerät beim Anblick des Fürsten in unaussprechliches Entzücken.
„Aber Sie haben sich ja gar nicht, nicht im geringsten verändert!“ ruft sie, indem sie beide Hände des Gastes ergreift und ihn auf einen bequemen Lehnstuhl nötigt. „Setzen Sie sich, setzen Sie sich, Fürst! Sechs Jahre lang, volle sechs Jahre lang haben wir uns nicht gesehen, und keinen einzigen Brief, ja nicht eine einzige Zeile habe ich in dieser ganzen Zeit von Ihnen erhalten! Oh, wie schlecht sind Sie gegen mich gewesen, Fürst! Und wie böse war ich auf Sie, mon cher prince! Aber Tee, Tee! Ach mein Gott, Nastasja Petrowna, Tee!“
„Ich dan-ke Ihnen, dan-ke Ihnen und bitte um Ver-zei-hung!“ lispelt der Fürst (wir haben vergessen zu sagen, daß er ein wenig lispelt; aber auch das tut er wie nach einer Vorschrift der Mode). „Ver-zeih-ung! Und denken Sie sich: Noch im vorigen Jahre wollte ich un-be-dingt hierher fahren“, fügt er hinzu, während er das Zimmer durch die Lorgnette betrachtet. „Aber man machte mir Angst: Es hieß, hier sei die Cho-le-ra …“
„Nein, Fürst, bei uns ist keine Cholera gewesen“, sagt Marja Alexandrowna.
„Eine Viehseuche war hier, Onkelchen!“ wirft Mosgljakow dazwischen, der sich gern bemerklich machen möchte. Marja Alexandrowna mißt ihn mit einem strengen Blick.
„Nun ja, eine Vieh-seu-che oder so etwas Ähnliches. So blieb ich denn zu Hause. Nun, wie geht es Ihrem Manne, meine liebe Anna Nikolajewna? Ist er immer noch als Staats-an-walt tätig?“
„Ich möchte darauf wetten, daß Onkelchen eine Verwechslung begeht und Sie für Anna Nikolajewna Antipowa hält!“ ruft der findige Mosgljakow, hält aber sofort inne, da er merkt, daß auch ohne diese Erklärungen Marja Alexandrowna sich schwer gekränkt fühlt.
„Nun ja, ja, für Anna Nikolajewna … ich vergesse immer den Familiennamen … nun ja, Antipowa, richtig, Antipowa“, bestätigt der Fürst.
„Nein, nein, Fürst, Sie irren sich sehr“, sagt Marja Alexandrowna mit einem bitteren Lächeln. „Ich bin gar nicht Anna Nikolajewna, und ich muß gestehen, ich hätte nicht erwartet, daß Sie mich nicht erkennen würden! Sie setzen mich in Erstaunen, Fürst! Ich bin Ihre ehemalige Freundin Marja Alexandrowna Moskaljowa. Erinnern Sie sich noch an Marja Alexandrowna, Fürst?“
„Marja Alexandrowna! Nun sehen Sie einmal an! Und ich dachte gerade, Sie wären (wie war doch der Name?) — nun ja! Anna Wassiljewna … G’est délicieux! Also da bin ich zu einer falschen Stelle hingefahren. Und ich dachte, mein Freund, du bräch-test mich gerade zu dieser Anna Matwejewna. C’est charmant! Aber das begegnet mir häufig … Ich fahre häufig zu einer falschen Stelle hin! Ich bin aber immer zufrieden, immer zufrieden, wie es sich auch treffen mag. Also Sie sind nicht Nastasja Wassiljewna? Das ist interessant …“
„Marja Alexandrowna, Fürst, Marja Alexandrowna! Oh, wie weh Sie mir getan haben! Wie konnten Sie nur Ihre beste Freundin vergessen, Ihre beste Freundin!“
„Nun ja, meine be-ste Freundin … pardon, pardon!“ lispelt der Fürst und betrachtet angelegentlich Sinaida.
„Und das ist meine Tochter Sinaida. Sie kennen sie noch nicht, Fürst, Sie war bei Ihrer vorigen Anwesenheit nicht hier; erinnern Sie sich noch, vor sechs Jahren?“
„Das ist Ihre Tochter! Charmante, charmante!“ murmelt der Fürst, während er Sinaida begehrlich durch die Lorgnette betrachtet. „Mais quelle beauté!“ flüstert er, offenbar sehr überrascht.
„Bitte, nehmen Sie Tee, Fürst!“ sagt Marja Alexandrowna und lenkt die Aufmerksamkeit des Fürsten auf den Diener, einen Knaben in Kosakentracht, der mit einem Präsentierteller in der Hand vor ihm steht. Der Fürst nimmt eine Tasse und betrachtet den Knaben, der volle, rote Bäckchen hat.
„A-a-ah, das ist Ihr Söhnchen?“ sagt er. „Was für ein hübscher Kna-be! U-u-und gewiß auch sehr ar-tig, nicht wahr?“
„Aber, Fürst“, unterbricht ihn Marja Alexandrowna eilig, „ich habe von dem furchtbaren Ereignisse gehört! Ich muß gestehen, ich war ganz fassungslos vor Schreck … Haben Sie sich auch nicht beschädigt? Nehmen Sie sich damit nur recht in acht! So etwas darf man nicht vernachlässigen!“
„Er hat mich umgeworfen! Er hat mich umgeworfen! Mein Kutscher hat mich umgeworfen!“ ruft der Fürst mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit. „Ich dachte schon, es käme der Weltuntergang oder so etwas Ähnliches, und bekam einen solchen Schreck, daß ich (die Heiligen mögen es mir verzeihen!) den Himmel für ein Schaffell ansah! Das hatte ich nicht erwartet, das hatte ich nicht erwartet! Das hatte ich ganz und gar nicht er-war-tet! Und an alledem ist nur mein Kutscher Fe-o-fil schuld! Ich verlasse mich ganz auf dich, mein Freund: Nimm du die Sache in die Hand und untersuche sie ordentlich! Ich bin davon ü-ber-zeugt, daß er es auf mein Leben ab-ge-se-hen hatte.“
„Schön, schön, Onkelchen“, antwortet Pawel Alexandrowitsch, „ich werde alles untersuchen! Aber wissen Sie was, Onkelchen: Verzeihen Sie ihm doch, dem heutigen Tage zu Ehren, ja? Was meinen Sie?“
„Unter keinen Um-stän-den werde ich ihm verzeihen! Ich bin davon überzeugt, daß er es auf mein Leben ab-ge-se-hen hatte! Er und auch noch Lawrenti, den ich zu Hause gelassen hatte. Denken Sie sich nur: Er hat irgendwelche neuen Ideen aufgeschnappt, wissen Sie! Es ist bei ihm so eine Art von Feindschaft gegen die bestehenden Verhältnisse zum Vorschein gekommen … Kurz, er ist ein Kommunist, im vollen Sinne des Wortes! Ich fürchte mich sogar davor, mit ihm zusammenzukommen!“
„Ach, wie wahr ist das, was Sie da gesagt haben, Fürst!“ ruft Marja Alexandrowna aus. „Sie glauben gar nicht, wieviel ich selbst durch die Untauglichkeit der Dienstboten zu leiden habe! Stellen Sie sich das nur vor: Ich habe jetzt zwei meiner Leute gewechselt, und ich muß gestehen, die neuen sind so dumm, daß ich geradezu vom Morgen bis zum Abend mich mit ihnen herumplagen muß. Sie glauben gar nicht, wie dumm sie sind, Fürst!“
„Nun ja, nun ja! Aber ich muß Ihnen gestehen, ich habe es sogar ganz gern, wenn ein Diener ein bißchen dumm ist“, bemerkt der Fürst, der, wie alle alten Leute, sich freut, wenn man sein Geschwätz ehrerbietig anhört. „Einem Diener steht das gut — und es verleiht ihm sogar eine eigene Wür-de, wenn er einfältig und dumm ist. Selbstverständlich nur in gewissen Fäl-len. Er macht dadurch einen statt-li-che-ren Eindruck; sein Gesicht bekommt etwas Fei-er-li-ches; kurz, die Wohlerzogenheit tritt mehr hervor, und von einem Diener verlange ich vor allen Dingen Wohlerzogenheit. Da ist zum Beispiel mein Te-ren-ti. Du erinnerst dich wohl noch an Te-ren-ti, mein Freund? Sowie ich den zum erstenmal ansah, sagte ich sogleich zu ihm: ‚Du mußt Portier werden!‘. Er ist von einer phä-no-me-na-len Dummheit! Er macht ein Gesicht wie ein Hammel, der aufs Wasser blickt! Aber was ist er für eine statt-li-che, fei-er-li-che Erscheinung! Was hat sein Doppelkinn für eine frische, rosige Farbe! Nun, und so mit der weißen Halsbinde und in voller Gala, da macht er wirklich Effekt! Ich habe ihn von Herzen liebgewonnen. Manchmal betrachte ich ihn und kann mich an ihm gar nicht sattsehen: Als wenn er eine Dissertation verfaßte, eine so wichtige Miene macht er. Kurz, er ist der richtige deutsche Philosoph Kant oder, noch richtiger gesagt, ein gemästeter, fetter Truthahn. Er besitzt das vollständige comme il faut für einen Diener …!“
Marja Alexandrowna lacht ganz entzückt und begeistert und klatscht sogar in die Hände. Pawel Alexandrowitsch sekundiert ihr von ganzem Herzen: Er amüsiert sich über den Onkel höchlichst. Auch Nastasja Petrowna lacht. Sogar Sinaida lächelt.
„Aber wieviel Humor, wieviel Heiterkeit, wieviel Witz besitzen Sie, Fürst!“ ruft Marja Alexandrowna. „Was für eine unschätzbare Fähigkeit, die feinsten, komischsten Züge zu bemerken …! Und daß Sie so aus der Gesellschaft verschwunden sind und sich volle fünf Jahre lang von der Welt abgeschlossen haben! Mit einem solchen Talente! Aber Sie könnten ja schriftstellerisch tätig sein, Fürst! Sie könnten ein zweiter Fonwisin oder Gribojedow oder Gogol werden …!“
„Nun ja, nun ja!“ sagt der Fürst sehr zufrieden; „das könnte ich … und wissen Sie, ich bin in früherer Zeit außerordentlich witzig gewesen. Ich habe sogar ein Vau-de-ville für die Bühne geschrieben. Es kamen darin ein paar ent-zük-ken-de Couplets vor! Es ist übrigens nie gespielt worden …“
„Ach, wie nett wäre es, wenn wir es zu lesen bekämen! Und weißt du, Sinaida, das würde sich gerade jetzt sehr gut treffen! Man beabsichtigt nämlich bei uns, eine Theatervorstellung zustande zu bringen, zu einem patriotischen Zwecke, Fürst, zum Besten der Verwundeten … dazu sollten Sie uns Ihr Vaudeville geben!“
„Gewiß! Ich bin sogar bereit, es noch einmal zu schreiben … aber ich habe es vollständig vergessen. Ich erinnere mich jedoch, es kamen darin zwei oder drei derartige Witze vor, daß …“ (der Fürst küßte seine Fingerspitzen). „Überhaupt machte ich, als ich im Aus-lan-de war, geradezu fu-ro-re. Ich besinne mich noch auf Lord Byron. Wir verkehrten miteinander freundschaftlich. Er tanzte auf dem Wiener Kongreß ganz entzückend einen Krakowiak.“
„Lord Byron, Onkelchen! Ich bitte Sie, Onkelchen, was sagen Sie da?“
„Nun ja, Lord Byron. Aber vielleicht war es auch nicht Lord Byron, sondern jemand anders. Richtig, es war nicht Lord Byron, sondern ein Pole! Jetzt erinnere ich mich vollständig. Und ein ganz o-ri-gi-neller Mensch war dieser Pole; er gab sich für einen Grafen aus; aber nachher ergab sich, daß er ein Speisewirt war. Indes den Krakowiak tanzte er ent-zük-kend, und zuletzt brach er sich ein Bein. Ich habe damals auf dieses Begebnis einen Vers gemacht:
Unser Pole tanzte schön, So was hab’ ich nie gesehn.
Aber dann … aber dann, wie es weiterging, daran erinnere ich mich nicht mehr; ich glaube:
Doch als er sich brach das Bein, Ließ er wohl das Tanzen sein …“
„Gewiß wird es so gewesen sein, Onkelchen!“ ruft Mosgljakow, der in immer größere Begeisterung gerät.
„Ich glaube, es war so, mein Freund“, antwortete Onkelchen, „oder wenigstens so ähnlich. Vielleicht war es übrigens auch anders; aber jedenfalls waren es sehr wohlgelungene Verse … Überhaupt habe ich jetzt manches, was ich erlebt habe, vergessen. Das kommt von meinen vielen Beschäftigungen.“
„Aber sagen Sie, Fürst, womit haben Sie sich denn diese ganze Zeit über in Ihrer Einsamkeit beschäftigt?“ fragt Marja Alexandrowna lebhaft interessiert. „Ich habe so oft an Sie gedacht, mon cher prince, daß ich, wie ich offen gestehe, diesmal von Ungeduld brenne, darüber Näheres zu erfahren …“
„Womit ich mich beschäftigt habe? Nun, wissen Sie, es gibt überhaupt viele Be-schäf-ti-gungen. Manchmal erholt man sich ja auch; aber oft, wissen Sie, gehe ich so dahin und stelle mir allerlei Dinge vor …“
„Sie haben gewiß ein außerordentlich starkes Vorstellungsvermögen, Onkelchen?“
„Ja, ein außerordentlich starkes, mein Lieber. Ich stelle mir manchmal solche Dinge vor, daß ich sogar selbst darüber nachher ganz er-staunt bin. Als ich in Kadujew war … A propos! Du bist ja, glaube ich, Vizegouverneur in Kadujew gewesen?“
„Ich, Onkelchen? Aber ich bitte Sie, was reden Sie!“ ruft Pawel Alexandrowitsch.
„Nun denk mal an, mein Freund! Und ich habe dich immer für den Vizegouverneur gehalten, und ich dachte noch: Der hat ja auf einmal ein ganz anderes Ge-sicht bekommen? Jener, weißt du, hatte so ein recht wür-de-volles, kluges Gesicht. Er war ein au-ßer-or-dentlich kluger Mensch, und immer machte er Ge-dich-te, bei allen möglichen Gelegenheiten. Von der Seite gesehen hatte er einige Ähnlichkeit mit Karo-König …“
„Nein, Fürst“, unterbricht ihn Marja Alexandrowna, „ich kann Ihnen bestimmt vorhersagen, daß Sie sich durch ein solches Leben zugrunde richten werden! Wie kann man sich nur fünf Jahre in der Einsamkeit vergraben, ohne einen Menschen zu sehen und ohne etwas zu hören! Aber Sie sind ein verlorener Mensch, Fürst! Fragen Sie, wen Sie wollen, von denen, die Ihnen treu ergeben sind: Jeder wird Ihnen sagen, daß Sie ein verlorener Mensch sind!“
„Wirklich?“ ruft der Fürst.
„Ich versichere Sie; ich rede zu Ihnen als Freundin, wie eine Schwester! Ich sage Ihnen das deswegen, weil Sie mir teuer sind, weil das Andenken der Vergangenheit mir teuer ist! Was hätte ich für Vorteil davon, wenn ich heucheln wollte? Nein, Sie müssen Ihre Lebensweise von Grund aus ändern; sonst werden Sie Ihre Kraft erschöpfen, Sie werden krank werden, Sie werden sterben …“
„Ach, mein Gott! Werde ich wirklich so bald sterben?“ ruft der Fürst erschrocken. „Und denken sie nur, Sie haben es erraten: Mich quälen in hohem Grade meine Hämorrhoiden, besonders seit einiger Zeit. Und wenn ich derartige Anfalle bekommen, dann treten dabei überhaupt ganz wun-der-ba-re Symptome auf; ich werde Sie Ihnen in Ausführlichkeit beschreiben. Erstens …“
„Erzählen Sie das lieber ein andermal, Onkelchen!“ fällt ihm Pawel Alexandrowitsch ins Wort. „Aber jetzt … ist es nicht Zeit, daß wir wegfahren?“
„Nun ja, auch gut, ein andermal. Vielleicht ist es auch nicht besonders interessant, es zu hören. Das sage ich mir jetzt selbst … Aber doch ist es eine höchst merkwürdige Krankheit. Es kommen dabei allerlei Episoden vor. Erinnere mich doch daran, mein Freund, ich werde dir später, am Abend, einen solchen Fall ausführlich erzählen …“
„Aber hören Sie, Fürst, Sie sollten es doch mit einer Kur im Auslande versuchen“, unterbricht ihn Marja Alexandrowna noch einmal.
„Im Auslande? Nun ja, nun ja! Ich werde unter allen Umständen ins Ausland fahren, Ich erinnere mich, als ich in den zwanziger Jahren im Auslande war, da war es dort au-ßer-ordentlich vergnüglich. Ich hätte mich beinah verheiratet, mit einer Vikomtesse, einer Französin. Ich war damals schrecklich verliebt und wollte ihr mein ganzes Leben weihen. Aber am Ende heiratete nicht ich sie, sondern ein anderer. Und was für ein sonderbarer Zufall: Ich hatte mich nur auf zwei Stunden von ihr entfernt, da trug der andere den Sieg davon; es war ein deutscher Baron; er hat später noch eine Zeitlang im Irrenhause gesessen.“
„Aber, cher prince, ich habe davon gesprochen, um Sie darauf aufmerksam zu machen, daß Sie ernstlich auf Ihre Gesundheit bedacht sein müssen. Im Auslande gibt es so tüchtige Ärzte … und außerdem, wieviel hilft nicht schon allein eine Veränderung der Lebensweise! Sie müssen entschieden, wenigstens für einige Zeit, Ihr Duchanowo verlassen.“
„Un-be-dingt! Ich habe diesen Entschluß schon längst gefaßt, und wissen Sie, ich beabsichtige eine hy-dro-pa-thische Kur vorzunehmen.“
„Eine hydropathische Kur?“
„Allerdings. Ich habe mich schon früher einmal hy-dro-pa-tisch behandeln lassen. Ich war damals in einem Badeorte. Dort war eine Moskauer Dame; ich habe ihren Familiennamen vergessen; aber sie war eine höchst poetisch veranlagte Dame; sie mochte etwa siebzig Jahre alt sein. Bei ihr befand sich noch ihre Tochter, eine ungefähr fünfzigjährige Witwe; auf dem einen Auge hatte sie den Star. Die redete ebenfalls fast nur in Versen. Später hatte sie noch ein unangenehmes Er-leb-nis: Sie schlug im Zorn ihr leibeigenes Dienstmädchen tot und wurde deswegen vor Gericht gezogen. Also diese beiden Damen kamen auf den Gedanken, mich mit Wasser zu kurieren. Ich muß gestehen, ich war damals absolut nicht krank; na, aber sie setzten mir zu: ‚Unternehmen Sie die Kur, unternehmen Sie die Kur!‘. Aus Liebenswürdigkeit und Höflichkeit fing ich auch tatsächlich an, Wasser zu trinken; ich dachte: Vielleicht werde ich mich wirklich davon leichter fühlen. Ich trank und trank, trank und trank; ich trank einen ganzen Wasserfall aus, und wissen Sie, diese Hydropathie ist eine sehr nützliche Sache und hat mir außerordentlich viel geholfen, so daß, wenn ich nicht zuletzt krank geworden wäre, ich vollständig gesund sein würde, das kann ich Ihnen versichern …“
„Das ist eine durchaus richtige Schlußfolgerung, Onkelchen. Sagen Sie, Onkelchen, haben Sie sich einmal mit dem Studium der Logik beschäftigt?“
„Mein Gott! Was stellen Sie für Fragen!“ bemerkt Marja Alexandrowna, die ganz empört ist, in strengem Tone. „Jawohl, das habe ich getan, mein Freund; nur ist es schon sehr lange her. Ich habe auch in Deutschland Philosophie studiert und einen ganzen Kursus durchgemacht; aber ich habe gleich damals alles wieder vollständig vergessen. Aber … ich muß Ihnen gestehen … Sie haben mich durch diese Krankheiten so erschreckt, daß ich ganz bestürzt bin. Übrigens, ich komme sogleich wieder zurück …“
„Aber wo wollen Sie denn hin, Fürst?“ ruft Marja Alexandrowna erstaunt.
„Ich komme gleich wieder, gleich … Ich will nur einen neuen Gedanken aufschreiben … au revoir …“
„Nun, wie gefällt er Ihnen?“ ruft Pawel Alexandrowitsch und will sich ausschütten vor Lachen.
Marja Alexandrowna verliert die Geduld.
„Ich verstehe nicht, verstehe absolut nicht, worüber Sie lachen!“ beginnt sie heftig. „Wie kann man nur über einen achtungswerten alten Herrn, einen Verwandten, lachen, sich über jedes Wort, das er spricht, lustig machen und seine engelhafte Herzensgüte so mißbrauchen! Ich habe mich über Ihr Benehmen geschämt, Pawel Alexandrowitsch! Aber sagen Sie doch nur, was denn nach Ihrer Meinung an ihm lächerlich ist! Ich habe nichts Lächerliches an ihm gefunden.“
„Was sagen Sie dazu, daß er keinen Menschen wiedererkennt, und daß er manchmal den reinen Unsinn redet?“
„Aber das ist doch nur eine Folge seiner schrecklichen Lebensweise, seiner furchtbaren fünfjährigen Abgeschlossenheit unter der Aufsicht dieses teuflischen Weibes. Man muß ihn bedauern, aber sich nicht über ihn lustig machen. Er hat sogar mich nicht erkannt; Sie waren selbst Zeuge. Das ist geradezu sozusagen himmelschreiend! Man muß ihn entschieden retten! Wenn ich ihm eine Reise ins Ausland vorschlage, so tue ich das einzig und allein in der Hoffnung, daß er vielleicht dadurch von diesem gemeinen Weibsbilde loskommt!“
„Wissen Sie was? Man müßte ihn verheiraten, Marja Alexandrowna!“ ruft Pawel Alexandrowitsch.
„Sie spotten schon wieder! Sie sind wirklich unverbesserlich, Monsieur Mosgljakow!“
„Nein, Marja Alexandrowna, nein! Diesmal rede ich vollständig im Ernst! Warum sollte man ihn nicht verheiraten? Das ist doch auch eine Idee! C’est une idée comme une autre! Bitte, sagen Sie einmal: Was kann ihm das schaden? Im Gegenteil befindet er sich in einer solchen Lage, daß eine derartige Maßregel ihn nur retten kann! Nach dem Gesetze kann er noch heiraten. Erstens wird er von dieser Hexe (entschuldigen Sie den Ausdruck!) freikommen. Zweitens, und das ist die Hauptsache: Denken Sie sich einmal, daß er sich ein liebes, gutherziges, kluges, sanftes und vor allen Dingen armes Mädchen oder noch besser eine solche Witwe aussucht, eine weibliche Person, die ihn dann wie eine Tochter pflegt und Verständnis dafür besitzt, daß er ihr eine Wohltat erwiesen hat, indem er sie zu seiner Frau machte. Und was könnte für ihn besser sein, als daß ein liebes, treues, edles Wesen immer um ihn ist statt dieses … Weibes? Selbstverständlich muß die Betreffende hübsch sein; denn Onkelchen hat noch immer seine Freude an hübschen weiblichen Wesen. Haben Sie wohl bemerkt, wie er sich an Sinaida Afanasjewna gar nicht sattsehen konnte?“
„Aber wo werden Sie eine solche Braut für ihn finden?“ fragt Nastasja Petrowna, die sehr achtsam zugehört hat.
„Da bringen Sie mich auf einen Gedanken: Sie könnten es ja selbst sein, wenn Sie Lust dazu haben! Gestatten Sie die Frage: Weshalb sollten Sie nicht eine passende Braut für den Fürsten sein? Erstens sind Sie hübsch; zweitens Witwe; drittens adlig; viertens arm (denn Sie sind tatsächlich nicht reich); fünftens sind Sie eine sehr verständige Dame und werden ihn folglich lieben, ihm das Leben behaglich machen, jenes Frauenzimmer mit Schimpf und Schande aus dem Hause jagen, ihn ins Ausland bringen, ihn mit Mannabrei und Konfekt futtern, und alles dies bis zu dem Augenblicke, wo er diese irdische Welt verlassen wird, was nach einem Jahre, vielleicht aber auch schon nach drittehalb Monaten geschehen kann. Dann sind Sie eine Fürstin, Witwe und reich und heiraten zum Lohn für Ihren mutvollen Entschluß einen Marquis oder einen Generalintendanten! C’est joli, nicht wahr?“
„Weiß der Himmel, ich glaube, ich würde mich schon allein aus Dankbarkeit in ihn verlieben, den guten Menschen, wenn er mir nur einen Heiratsantrag machen wollte!“ ruft Frau Sjablowa, und ihre dunklen, ausdrucksvollen Augen blitzen auf. „Aber das ist doch alles nur dummes Zeug!“ „Dummes Zeug? Wenn Sie wollen, wird es Ernst! Bitten Sie mich mal recht schön, und wenn ich es dann nicht noch heute fertigbringe, Sie zu seiner Braut zu machen, dann dürfen Sie mir einen Finger abschneiden! Es ist ja nichts leichter, als Onkelchen zu etwas zu überreden oder zu verleiten! Er sagt immer: ‚Nun ja, nun ja!‘. Sie haben es ja selbst gehört. Wir wollen ihn verheiraten, ohne daß er es selbst merkt. Verhelfen wir ihm immerhin durch Täuschung zu einer Frau; es ist ja doch nur zu seinem Besten, ich bitte Sie …! Sie sollten sich wenigstens für jeden Fall ein bißchen putzen, Nastasja Petrowna!“
Monsieur Mosgljakows Begeisterung für seine Idee geht in eine Art von Fanatismus über. Und was Frau Sjablowa anlangt, so wässert ihr, wie verständig sie auch ist, doch der Mund.
„Ich weiß, auch ohne daß Sie es mir sagen, daß ich heute recht schlumpig aussehe“, antwortet sie. „Ich habe ganz aufgehört, auf mein Äußeres Sorgfalt zu verwenden, und gebe mich schon lange keinen Träumereien mehr hin … Ich sehe wohl wirklich wie eine Köchin aus?“
Diese ganze Zeit über saß Marja Alexandrowna mit einem ganz seltsamen Gesichtsausdrucke da. Ich irre mich nicht, wenn ich sage, daß sie Pawel Alexandrowitschs sonderbaren Vorschlag mit einem gewissen Schreck anhörte und ordentlich die Fassung verlor … Endlich sammelte sie ihre Gedanken wieder.
„All das ist ja zwar sehr schön; aber es ist doch alles töricht und abgeschmackt und vor allen Dingen ganz unpassend!“ wandte sie sich in scharfem Tone an Mosgljakow.
„Aber warum, beste Marja Alexandrowna, warum soll denn das töricht und unpassend sein?“
„Aus vielen Gründen und besonders deshalb, weil Sie sich in meinem Hause befinden und der Fürst mein Gast ist und ich niemandem erlauben werde, den Respekt gegen meinen Gast außer acht zu lassen. Ich fasse Ihre Worte nur als Scherz auf, Pawel Alexandrowitsch. Aber Gott sei Dank, da kommt der Fürst!“
„Da bin ich wieder!“ ruft der Fürst beim Eintritt ins Zimmer. „Es ist erstaunlich, cher ami, wieviel mannigfache Ideen ich heute habe. Zu anderer Zeit (du wirst es vielleicht gar nicht glauben) kommen mir manchmal überhaupt keine in den Kopf. Ich sitze dann oft den ganzen Tag so für mich da.“
„Das kommt wahrscheinlich von dem heutigen Umwerfen mit dem Schlitten her, Onkelchen. Das hat Ihre Nerven erschüttert, und infolgedessen …“
„Auch ich, mein Freund, führe es auf ebendiesen Umstand zurück, und finde dieses Begebnis sogar nütz-lich, so daß ich beschlossen habe, meinem Fe-o-fil zu verzeihen. Weißt du was? Es will mir doch scheinen, daß er mir nicht nach dem Leben getrachtet hat; wie denkst du darüber? Zudem ist er ohnehin schon neulich durch das Abrasieren des Bartes bestraft worden.“
„Durch das Abrasieren des Bartes, Onkelchen! Aber er hat ja einen Bart von der Größe eines deutschen Fürstentumes!“ „Nun ja, von der Größe eines deutschen Fürstentumes. Überhaupt, mein Freund, hast du vollkommen recht mit deinen Schluß-fol-ge-rungen. Aber das ist ein künstlicher Bart. Denken Sie sich nur diesen Zufall: es wird mir auf einmal ein Preiskurant zugeschickt. Es war aus dem Auslande eine neue Sendung Bärte eingegangen, vorzügliche Bärte für Kutscher und für Herren: Kinnbärte sowie Backenbärte, Fliegen, Schnurrbärte und so weiter, und alles von bester Qualität und zu sehr mäßigen Preisen. ‚Na, schön‘, dachte ich, ‚ich werde mir einen Kinnbart kommen lassen, um ihn wenigstens anzusehen, wie er sich macht.‘ Ich ließ mir also einen Kutscherbart kommen, und wirklich: Der Bart nahm sich stattlich aus! Aber es stellte sich heraus, daß Feofils eigener Bart fast noch einmal so groß war. Also da entstand natürlich die schwierige Frage: Sollte ich ihm seinen eigenen abrasieren lassen oder den zur Ansicht übersandten wieder zurückschicken und ihn seinen natürlichen Bart weitertragen lassen? Ich dachte lange darüber nach und entschied mich endlich dafür, daß es das beste sei, wenn er den künstlichen Bart trage.“
„Wahrscheinlich deswegen, weil die Kunst über der Natur steht, Onkelchen?“
„Eben deswegen. Und was für ein Seelenschmerz es für ihn war, als ihm der Bart abrasiert wurde! Als ob mit dem Barte ihm seine ganze Karriere zerstört sei … Aber ist es nicht Zeit, daß wir fahren, mein Lieber?“
„Ich bin bereit, Onkelchen.“
„Aber ich hoffe, Fürst, daß Sie nur zum Gouverneur fahren werden!“ ruft Marja Alexandrowna in großer Aufregung. „Sie gehören jetzt mir, Fürst, und sind den ganzen Tag über ein Mitglied meiner Familie. Ich werde Ihnen natürlich nichts über die hiesige Gesellschaft sagen. Vielleicht wünschen Sie, auch bei Anna Nikolajewna einen Besuch zu machen, und ich bin nicht berechtigt, Ihnen Ihre günstigen Vorstellungen von dieser Dame zu nehmen; außerdem bin ich fest davon überzeugt, daß die Zeit alles ans Licht bringen wird. Aber vergessen Sie eines nicht: daß ich diesen ganzen Tag über Ihre Wirtin, Ihre Schwester, Ihr Mütterchen, Ihre Wärterin bin, und ich muß gestehen, ich zittere um Sie, Fürst! Sie kennen diese Menschen nicht, nein, Sie kennen sie nicht vollständig, wenigstens einstweilen noch nicht …!“
„Verlassen Sie sich auf mich, Marja Alexandrowna! Es wird alles so geschehen, wie ich es Ihnen versprochen habe“, sagt Mosgljakow.
„Ja, Sie! Sie sind ein Windhund! Auf Sie ist kein Verlaß! Ich erwarte Sie zum Mittagessen, Fürst. Wir speisen früh. Und wie sehr bedaure ich, daß mein Mann gerade auf dem Gute ist! Wie sehr würde er sich freuen, Sie wiederzusehen! Er verehrt Sie so sehr und liebt Sie von ganzem Herzen!“
„Ihr Mann? Haben Sie denn auch einen Mann?“ fragt der Fürst.
„Ach, mein Gott! Wie vergeßlich Sie sind, Fürst! Aber Sie haben ja alles Frühere vollständig vergessen, vollständig! Mein Mann, Afanassi Matwejewitsch, erinnern Sie sich wirklich nicht an ihn? Er ist jetzt auf dem Gute; aber Sie haben ihn früher tausendmal gesehen. Erinnern Sie sich nur, Fürst: Afanassi Matwejewitsch! …“
„Afanassi Matwejewitsch! Auf dem Gute; nun denken Sie einmal; mais c’est délicieux! Also haben Sie auch einen Mann? Was für ein seltsamer Zufall! Das ist gerade wie in einem Vaudeville! ‚Ist aus der Tür der Eheherr, So fährt die Frau sogleich nach …‘, entschuldigen Sie, ich habe vergessen, wie es weiterging! Aber die Frau fuhr auch irgendwohin; ich glaube nach Tula oder nach Jaroslawl; kurz, es ist sehr komisch.“
„Ist aus der Tür der Eheherr, fährt die Frau sogleich nach Twen, so heißt es, Onkelchen“, hilft Mosgljakow aus.
„Nun ja, nun ja! Ich danke dir, mein Freund; richtig: ‚nach Twer.‘ Charmant, charmant! So paßt es auch gut zusammen. Du findest immer den Reim, mein Lieber! Ja, ja, es schwebte mir so vor: ‚nach Jaroslawl‘ oder ‚nach Kostroma‘; aber jedenfalls fuhr die Frau auch irgendwohin! Charmant, charmant! Übrigens habe ich ein wenig vergessen, wovon ich angefangen hatte zu reden … Ja! Also dann wollen wir fahren, mein Freund. Au revoir, madame; adieu, ma charmante demoiselle“, fügte der Fürst hinzu, indem er sich an Sinaida wandte und seine Fingerspitzen küßte.
„Kommen Sie also zum Mittagessen, Fürst, zum Mittagessen! Vergessen Sie ja nicht, recht bald zurückzukehren!“ ruft ihm Marja Alexandrowna nach.