Kapitel V
„Sie sollten einmal in der Küche nach dem Rechten sehen, Nastasja Petrowna!“ sagt sie, nachdem sie den Fürsten hinausbegleitet hat. „Ich habe so eine Ahnung, daß dieser entsetzliche Nikitka das Mittagessen bestimmt verderben wird! Ich glaube sicher, daß er schon betrunken ist.“
Nastasja Petrowna gehorcht. Beim Hinausgehen wirft sie einen mißtrauischen Blick nach Marja Alexandrowna hin und bemerkt an ihr eine ungewöhnliche Aufregung. Statt in die Küche zu gehen und den entsetzlichen Nikitka zu beaufsichtigen, geht Nastasja Petrowna durch den Saal, von dort auf dem Flur nach ihrem Zimmer und von dort in ein dunkles Zimmerchen, eine Art Rumpelkammer, wo allerlei Kasten stehen, alte Kleider hängen und die schmutzige Wäsche des ganzen Hauses, in Bündel gebunden, aufbewahrt wird. Sie schleicht auf den Fußspitzen zu einer verschlossenen Tür, hält den Atem an, bückt sich, sieht durch das Schlüsselloch und horcht. Diese Tür ist eine der drei Türen eben jenes Zimmers, wo jetzt Sinaida und ihre Mutter zurückgeblieben sind; sie ist immer fest verschlossen und zugenagelt.
Marja Alexandrowna ist der Ansicht, daß Nastasja Petrowna eine schlaue, leichtfertige Person sei. Allerdings ist ihr schon manchmal der Gedanke gekommen, daß Nastasja Petrowna sich wohl auch nicht geniere, zu horchen. Aber im gegenwärtigen Augenblicke ist Frau Moskaljowa so beschäftigt und aufgeregt, daß sie ganz vergessen hat, gewisse Vorsichtsmaßregeln zur Anwendung zu bringen. Sie setzt sich auf einen Lehnstuhl und blickt Sinaida bedeutsam an. Sinaida fühlt, daß der Blick ihrer Mutter auf sie gerichtet ist, und ein unangenehmes, peinliches Gefühl zieht ihr das Herz zusammen.
„Sinaida!“
Sinaida wendet ihr blasses Gesicht langsam zu ihr hin und hebt ihre schwarzen, melancholischen Augen in die Höhe.
„Sinaida, ich beabsichtige, mit dir über eine außerordentlich wichtige Sache zu reden.“
Sinaida wendet sich vollständig zu ihrer Mutter hin, legt die Hände zusammen und steht erwartungsvoll da. Ihr Gesicht nimmt einen ärgerlichen, spöttischen Ausdruck an, was sie indessen zu verbergen sucht.
„Ich möchte dich fragen, Sinaida, welchen Eindruck heute dieser Mosgljakow auf dich gemacht hat.“
„Sie wissen doch schon längst, wie ich über ihn denke“, antwortet Sinaida widerwillig.
„Ja, mon enfant; aber mir scheint, er wird gar zu zudringlich mit seiner Bewerbung.“
„Er sagt, er sei in mich verliebt; da ist seine Zudringlichkeit entschuldbar.“
„Sonderbar: Früher warst du nicht so gern bereit, ihn zu entschuldigen. Im Gegenteil fielst du immer über ihn her, wenn ich von ihm zu sprechen anfing.“
„Ebenso ist es sonderbar, daß Sie ihn immer verteidigt haben und durchaus wollten, ich sollte ihn heiraten, und jetzt die erste sind, die über ihn herfällt.“
„Ja, beinahe ist es so. Ich leugne es nicht, Sinaida: Ich hätte dich gern als Mosgljakows Frau gesehen. Es war mir schmerzlich, deinen steten Kummer und deine Leiden zu sehen, die ich zu verstehen imstande bin (was du auch immer von mir denken magst!), und die mir den Schlaf meiner Nächte rauben. Ich war schließlich zu der Überzeugung gelangt, daß nur eine erhebliche Veränderung in deinem Leben dich retten kann! Und diese Veränderung muß die Ehe sein. Wir sind nicht reich und können zum Beispiel keine Reise ins Ausland unternehmen. Die hiesigen Esel wundern sich, daß du dreiundzwanzig Jahre alt und noch nicht verheiratet bist, und erfinden Histörchen darüber. Aber kann ich dich denn so einem hiesigen Rat oder unserm Fiskal Iwan Iwanowitsch zur Frau geben? Gibt es etwa hier Männer für dich? Mosgljakow ist ja freilich ein Hohlkopf, aber doch immer noch besser als die andern. Er ist aus guter Familie, hat eine angesehene Verwandtschaft und besitzt hundertfünfzig Seelen; das ist doch besser als von Ränken und Bestechungsgeldern und Gott weiß was für Dingen zu leben; deshalb hatte ich denn auch mein Augenmerk auf ihn gerichtet. Aber ich versichere dich, wirkliches Gefallen habe ich nie an ihm gefunden. Ich bin überzeugt, daß der Allerhöchste selbst mich gewarnt hat. Und sollte Gott dir jetzt etwas Besseres schicken, oh, wie gut wäre es dann, daß du ihm noch nicht dein Wort gegeben hast! Du hast ihm doch wohl heute nichts Bestimmtes gesagt, Sinaida?“
„Wozu diese gekünstelten Wendungen, Mama, wenn sich doch die ganze Sache in wenigen Worten erledigen läßt?“ erwiderte Sina gereizt.
„Gekünstelte Wendungen, Sinaida, gekünstelte Wendungen! Wie kannst du so etwas zu deiner Mutter sagen! Aber was wundere ich mich? Du hast ja schon längst kein Vertrauen mehr zu deiner Mutter! Du hältst mich schon längst nicht für deine Mutter, sondern für deine Feindin.“
„Ach, hören Sie doch auf, Mama! Wir werden uns doch nicht um einen Ausdruck streiten! Verstehen wir einander denn nicht mehr? Ich meine, wir haben doch Zeit genug gehabt, um uns verstehen zu lernen.“
„Aber du kränkst mich, mein Kind! Du willst nicht glauben, daß ich gern alles, schlechthin alles tue, um dir eine gesicherte Existenz zu schaffen.“
Sinaida blickte ihre Mutter spöttisch und ärgerlich an.
„Wollen Sie mich am Ende diesem Fürsten zur Frau geben, um mir eine gesicherte Existenz zu schaffen?“ fragte sie mit einem sonderbaren Lächeln.
„Ich habe kein Wort davon gefragt; aber da du es erwähnt hast, so will ich sagen: Wenn es sich so machte, daß du den Fürsten heiratetest, so wäre das dein Glück, und nicht etwa eine Torheit.“
„Ich aber finde, daß es geradezu ein Unsinn ist!“ rief Sinaida heftig. „Ein Unsinn, ein Unsinn! Ich finde auch, Mama, daß Sie sich gar zu sehr poetischen Schwärmereien hingeben; Sie sind eine Dichterin, im vollen Sinne dieses Wortes; so nennen die Leute Sie hier ja auch. Sie haben beständig allerlei Pläne im Kopfe. Die Unmöglichkeit und Torheit derselben schreckt Sie nicht ab. Schon als der Fürst noch hier saß, ahnte es mir, daß Ihnen dies durch den Kopf ging. Als Mosgljakow seine Dummheiten hinredete und sagte, man müsse diesem alten Manne eine Frau geben, da las ich alle Jahre Gedanken auf Ihrem Gesichte. Ich möchte darauf wetten, daß Sie daran denken und gerade in dieser Absicht das Gespräch mit mir angefangen haben. Aber da Ihre unaufhörlichen Projekte in betreff meiner Person anfangen, mir tödlich langweilig zu werden und mich zu peinigen, so bitte ich Sie, davon zu mir kein Wort zu reden, hören Sie wohl, Mama, kein Wort; und es wäre mir lieb, wenn Sie das nicht vergessen wollten!“ Sie konnte vor Zorn kaum atmen.
„Du bist ein Kind, Sinaida, ein reizbares, krankes Kind!“ antwortete Marja Alexandrowna mit gerührter Stimme, der man die nahen Tränen anhörte. „Du sprichst mit mir respektlos und kränkst mich. Keine andere Mutter würde das ertragen, was ich von dir täglich ertrage! Aber du bist gereizt, du bist krank, du leidest; ich aber bin eine Mutter und vor allen Dingen eine Christin. Es ist meine Pflicht zu dulden und zu verzeihen. Aber ein Wort, Sinaida: Wenn ich nun wirklich an eine solche Verbindung gedacht hätte, warum hältst du denn das für Unsinn? Meiner Ansicht nach hat Moskgljakow noch nie vernünftiger gesprochen als vorhin, wo er darlegte, daß der Fürst sich notwendig verheiraten müsse — natürlich aber nicht mit dieser Schlumpe Nastasja. Was er hiervon sagte, war Faselei.“
„Hören Sie mal, Mama! Sagen Sie geradeheraus: fragen Sie mich danach nur so aus Neugier oder in ernster Absicht?“
„Ich frage nur: Warum erscheint dir das als solcher Unsinn?“
„Ach, wie gräßlich! Was ist mir doch für ein widerwärtiges Schicksal beschieden!“ rief Sinaida und stampfte vor Empörung mit dem Fuße auf die Erde. „Nun, dann will ich Ihnen sagen, warum, wenn Sie es noch nicht wissen: Von allen andern Absurditäten will ich gar nicht einmal reden, aber den Umstand auszunutzen, daß der alte Mann geistesschwach geworden ist, ihn zu betrügen, ihn, den Krüppel, zu heiraten, um ihm das Geld abzunehmen, und dann täglich und stündlich seinen Tod herbeizuwünschen, das ist meiner Ansicht nach nicht nur Unsinn, sondern überdies so gemein, so grundgemein, daß ich Sie zu einem solchen Gedanken nicht beglückwünschen kann, Mama!“
Es trat ein Stillschweigen ein, das etwa eine Minute lang dauerte.
„Sinaida! Denkst du wohl noch an das, was vor zwei Jahren geschehen ist?“ fragte Marja Alexandrowna auf einmal.
Sinaida zuckte zusammen.
„Mama!“ sagte sie in strengem Tone, „Sie haben mir damals feierlich versprochen, das niemals zu erwähnen.“ „Jetzt aber, mein Kind, bitte ich dich feierlich um die Erlaubnis, nur ein einziges Mal dieses Versprechen außer acht lassen zu dürfen, das ich bisher stets gehalten habe. Sinaida! Die Zeit ist gekommen, wo wir uns miteinander völlig aussprechen müssen. Diese zwei Jahre des Schweigens waren schrecklich! So kann es nicht weitergehen …! Ich bin bereit, dich auf meinen Knien darum zu bitten, daß du mir erlauben möchtest zu reden. Hörst du wohl, Sinaida, deine leibliche Mutter fleht dich auf ihren Knien an! Und gleichzeitig gebe ich dir mein feierliches Wort, das Wort einer unglücklichen Mutter, die von einer abgöttischen Liebe zu ihrer Tochter erfüllt ist, daß ich niemals, unter keiner Bedingung, unter keinen Umständen, selbst nicht, wenn es sich um die Rettung meines Lebens handeln sollte, später noch einmal davon reden werde. Dies wird das letztenmal sein; aber jetzt ist es unumgänglich notwendig!“
Marja Alexandrowna rechnete auf eine volle Wirkung dieser Worte.
„So sprechen Sie denn!“ erwiderte Sinaida, die merklich blaß geworden war.
„Ich danke dir, Sinaida. Vor zwei Jahren kam zu deinem inzwischen verstorbenen kleinen Bruder Dmitri ein Lehrer …“
„Aber wozu diese feierliche Einleitung, Mama! Wozu alle diese Schönrednerei, alle diese Einzelheiten, die doch ganz unnötig und nur peinlich und uns allen beiden hinlänglich bekannt sind?“ unterbrach Sinaida sie voll Ärger und Widerwillen.
„Der Grund ist der, mein Kind, daß ich, deine Mutter, mich jetzt genötigt sehe, mich dir gegenüber zu rechtfertigen! Der Grund ist der, daß ich dir diese ganze Sache von einem völlig anderen Gesichtspunkte aus darstellen will und nicht von jenem fehlerhaften Gesichtspunkte aus, von dem du sie anzusehen gewohnt bist. Der Grund ist endlich der, daß ich dir ein leichteres Verständnis der Schlußfolgerung ermöglichen möchte, die ich aus alledem zu ziehen beabsichtige. Glaube nicht, mein Kind, daß ich mit deinem Herzen mein Spiel treiben will! Nein, Sinaida, du wirst an mir eine wahre Mutter finden und wirst vielleicht, von Tränen überströmt, zu meinen Füßen, zu den Füßen der ‚gemeinen Person‘, wie du mich soeben genannt hast, selbst um die Versöhnung bitten, die du bisher so lange und mit solchem Hochmute abgelehnt hast. Nun weißt du, warum ich alles aussprechen will, Sinaida, alles, ganz von Anfang an; sonst werde ich schweigen!“
„So sprechen Sie denn!“ sagte Sinaida noch einmal; sie verwünschte von ganzem Herzen das Bedürfnis ihrer Mutter, schöne Reden zu halten.
„Ich fahre fort, Sinaida: Dieser Kreisschullehrer, fast noch ein Knabe, macht auf dich einen mir ganz unbegreiflichen Eindruck. Ich rechnete zu sehr auf deine gesunde Vernunft, auf deinen edlen Stolz und hauptsächlich auf seine Geringwertigkeit (denn ich muß doch alles sagen), als daß ich hätte argwöhnen sollen, es könnte sich zwischen euch etwas anspinnen. Und plötzlich kommst du zu mir und erklärst mir mit aller Entschiedenheit, du hättest die Absicht, ihn zu heiraten! Sinaida! Das traf mein Herz wie ein Dolchstich! Ich schrie auf und verlor die Besinnung. Aber du hast das alles ja im Gedächtnisse! Natürlich hielt ich es für notwendig, meine ganze Macht anzuwenden, die du Tyrannei nanntest. Bedenke nur: Ein blutjunger Mensch, ein Küstersohn, der monatlich zwölf Rubel Gehalt bekommt und ein paar elende Gedichte zusammengesudelt hat, die aus Mitleid in der ‚Lesebibliothek‘ abgedruckt worden sind, und der nur von diesem verdammten Shakespeare zu reden versteht, dieser Knabe sollte dein Mann werden, Sinaida Moskaljowas Mann! Das war ja ganz im Stile der Hirtinnen in Florians Schäferromanen! Verzeih mir, Sinaida, aber schon die bloße Erinnerung bringt mich ganz außer mir! Ich gebe ihm eine abschlägige Antwort; aber keine Macht der Erde vermag dich zurückzuhalten. Dein Vater zwinkert natürlich nur mit den Augen und versteht nicht einmal, was ich ihm auseinandersetze. Du setzt den Verkehr mit diesem jungen Menschen fort, hast sogar Rendezvous mit ihm, und was das Allerschrecklichste ist, du entschließt dich sogar dazu, mit ihm in einen Briefwechsel zu treten. Schon beginnen allerlei Gerüchte sich in der Stadt zu verbreiten. Man versetzt mir Stiche durch Anspielungen; die Leute freuen sich schon und posaunen die Sache nach Leibeskräften aus, und auf einmal gehen alle meine Prophezeiungen auf das vollkommenste in Erfüllung. Ihr geratet über irgend etwas in Streit; er erweist sich als ein deiner durchaus unwürdiger Bube (einen Mann kann ich ihn nicht nennen!) und droht dir, deine Briefe in der Stadt bekanntzumachen. Bei dieser Drohung gerätst du, voller Empörung, außer dir und gibst ihm eine Ohrfeige. Ja, Sinaida, auch dieser Umstand ist mir bekannt! Ich weiß alles, alles! Der Unglückliche zeigt noch an demselben Tage einen deiner Briefe dem Taugenichts Sauschin, und eine Stunde darauf befindet sich dieser Brief schon in den Händen meiner Todfeindin Natalja Dmitrijewna. Noch an demselben Abend macht der verrückte Mensch, von Reue ergriffen, einen ungeschickten Versuch, sich zu vergiften. Kurz, es entsteht eine gräßliche Skandalgeschichte! Diese Schlumpe Nastasja kommt ganz erschrocken mit der furchtbaren Nachricht zu mir gelaufen: Der Brief befinde sich schon eine ganze Stunde lang in Natalja Dmitrijewnas Händen; in zwei Stunden werde die ganze Stadt von deiner Schande wissen! Ich überwinde mich und falle nicht in Ohnmacht; aber wie tief hattest du mein Herz verwundet, Sinaida! Dieses schamlose Frauenzimmer, diese gräßliche Nastasja, fordert zweihundert Rubel Silber und verspricht, dafür den Brief zurückzuverschaffen. Ich laufe selbst in leichten Schuhen durch den Schnee zu dem Juden Bumstein und versetze bei ihm meinen Halsschmuck, ein Andenken von meiner seligen Mutter! Zwei Stunden darauf ist der Brief in meinen Händen. Nastasja hat ihn gestohlen. Sie hat die Schatulle, in die er eingeschlossen war, erbrochen, und deine Ehre ist gerettet; es sind keine Beweisstücke da! Aber in welcher Aufregung habe ich um deinetwillen jenen schrecklichen Tag verlebt! Gleich am andern Tage bemerkte ich zum ersten Male in meinem Leben einige graue Haare auf meinem Kopfe, Sinaida! Du selbst hast jetzt über das Benehmen dieses jungen Menschen ein richtiges Urteil gewonnen. Du gibst jetzt selbst, vielleicht mit einem bitteren Lächeln, zu, daß es der Gipfel der Unvernunft gewesen wäre, ihm dein Schicksal anzuvertrauen. Aber seitdem quälst und marterst du dich, mein Kind; du kannst ihn nicht vergessen oder, richtiger gesagt, nicht ihn (er ist immer deiner unwürdig gewesen), sondern das Traumbild deines vergangenen Glückes. Dieser Unglückliche liegt jetzt auf dem Sterbebette; man sagt, er habe die Schwindsucht; aber du mit deiner Engelsgüte willst dich, solange er noch lebt, nicht verheiraten, um ihm nicht das Herz zu zerreißen; denn er quält sich immer noch mit Eifersucht, obgleich ich davon überzeugt bin, daß er dich nie in echter, edler Weise geliebt hat! Als er von Mosgljakows Bewerbung gehört hatte, da hat er (das weiß ich) Spionage betrieben, hat heimlich hergeschickt und Erkundigungen eingezogen. Du hast Mitleid mit ihm, mein Kind; ich habe deine Gefühle erraten, und Gott weiß, mit wie bitteren Tränen ich mein Kissen benetzt habe! …“
„Aber so lassen Sie doch das alles weg, Mama!“ unterbrach Sinaida sie in unbeschreiblicher Qual. „Ihr Kissen war wohl dabei sehr notwendig“, fügte sie spöttisch hinzu. „Geht es denn gar nicht ohne Pathos und Phrasen?“
„Du glaubst mir nicht, Sinaida! Sei nicht so feindlich gegen mich gesinnt, mein Kind! Meine Augen sind in diesen zwei Jahren nicht trocken geworden; aber ich habe meine Tränen vor dir verborgen und versichere dir, daß ich selbst mich im Laufe dieser Zeit in vielen Stücken umgewandelt habe! Ich habe für deine Gefühle schon vor längerer Zeit Verständnis erlangt und gestehe, daß ich nun erst die ganze Größe deines Kummers begriffen habe. Kann man mir einen Vorwurf daraus machen, liebes Kind, daß ich diese Zuneigung als eine romantische Schwärmerei betrachtet habe, hervorgerufen durch diesen verdammten Shakespeare, der seine Nase überall da hineinstecken muß, wo man ihn nicht braucht? Welche Mutter kann wegen meiner damaligen Angst, wegen der von mir ergriffenen Maßregeln, wegen der Strenge meines Urteils den Stab über mich brechen? Aber jetzt, jetzt, wo ich zwei Jahre lang gesehen habe, wie du leidest, jetzt verstehe und würdige ich deine Gefühle. Glaube mir, daß ich dich vielleicht weit besser verstehe, als du dich selbst verstehst. Ich bin überzeugt, daß du nicht ihn liebst, diesen absonderlichen Knaben, sondern deine goldenen Zukunftsträumereien, dein verlorenes Glück, deine hohen Ideale. Ich habe selbst geliebt und vielleicht stärker als du. Ich habe selbst gelitten; auch ich habe meine hohen Ideale gehabt. Und darum: Wer kann mir jetzt einen Vorwurf machen, und vor allen Dingen, kannst du mir etwa einen Vorwurf deswegen machen, weil ich der Ansicht bin, daß die Verbindung mit dem Fürsten die beste Rettung, das einzig Notwendige für dich in deiner jetzigen Lage ist?“
Sinaida hatte mit Verwunderung diese lange Tirade angehört; sie wußte ganz genau, daß ihre Mama diesen Ton nie ohne Ursache anschlug. Aber die letzte, unerwartete Schlußfolgerung versetzte sie doch in größtes Erstaunen. „Also haben Sie wirklich im Ernste vor, mich diesem Fürsten zur Frau zu geben?“ rief sie und sah ihre Mutter erstaunt, beinah erschrocken an. „Also waren das Ihrerseits nicht bloße Phantasien, vage Projekte, sondern Ihre feste Absicht? Also hatte ich richtig geraten? Und … und … inwiefern ist denn diese Heirat für mich eine Rettung und eine Notwendigkeit in meiner jetzigen Lage? Und … und … in welchem Zusammenhange steht denn das alles mit dem, was Sie jetzt eben erwähnt haben … mit dieser ganzen Geschichte? … Ich verstehe Sie absolut nicht, Mama!“
„Ich aber wundere mich, mon ange, wie du das alles nicht verstehen kannst!“ rief Marja Alexandrowna, die nun ihrerseits lebhaft wurde. „Erstens schon allein dies, daß du in eine andere Gesellschaft, in eine andere Welt übergehst! Du wirst für immer diesen widerwärtigen Krähwinkel verlassen, der für dich voll schrecklicher Erinnerungen ist, wo du keinen wirklichen Freund hast, wo man dich verleumdet hat, wo alle diese Tratschweiber dich wegen deiner Schönheit hassen. Du kannst sogar noch in diesem Frühjahr ins Ausland fahren, nach Italien, nach der Schweiz, nach Spanien, Sinaida, nach Spanien, wo die Alhambra ist und der Guadalquivir, und nicht das hiesige häßliche Flüßchen mit dem unanständigen Namen …“
„Aber erlauben Sie, Mama, Sie reden so, als ob ich schon verheiratet wäre oder wenigstens der Fürst mir schon einen Antrag gemacht hätte!“
„Darüber beunruhige dich nicht, mein Engel; ich weiß, was ich rede. Aber erlaube mir fortzufahren! Das erste habe ich bereits gesagt; jetzt kommt das zweite: Ich verstehe, mein Kind, mit welchem Widerwillen du diesem Mosgljakow deine Hand geben würdest …“
„Ich weiß auch ohne Ihre Worte, daß ich ihn niemals heiraten werde!“ antwortete Sinaida heftig, und ihre Augen blitzten.
„Und wenn du wüßtest, wie sehr ich deinen Widerwillen verstehe, liebes Kind! Es ist schrecklich, vor Gottes Altar einem Manne Liebe zu schwören, den man nicht lieben kann! Es ist schrecklich, jemandem anzugehören, den man nicht einmal zu achten imstande ist! Er aber verlangt deine Liebe; zu diesem Zwecke will er dich heiraten; ich merke das an der Art, wie er nach dir hinsieht, wenn du dich abwendest. Und wie schwer ist es, sich zu verstellen! Ich selbst habe das fünfundzwanzig Jahre lang durchgemacht. Dein Vater hat mich unglücklich gemacht. Er hat mir, das kann ich wohl sagen, meine ganze Jugend verdorben, und wie oft hast du meine Tränen gesehen!“
„Papa ist auf dem Gute; bitte, sagen Sie nichts Schlechtes von ihm!“ sagte Sinaida.
„Ich weiß, du nimmst ihn immer in Schutz. Ach, Sinaida! Mir hat das Herz geblutet, als ich aus Berechnung deine Verheiratung mit Mosgljakow wünschte. Aber bei dem Fürsten brauchst du dich nicht zu verstellen. Es versteht sich von selbst, daß du ihn nicht heben kannst … mit wirklicher Liebe, und er selbst ist auch gar nicht in der Lage, eine solche Liebe fordern zu können …“
„Mein Gott, was ist das für Unsinn! Aber ich versichere Ihnen, daß Sie sich von Anfang an getäuscht haben, gleich von vornherein, in der Hauptsache! So mögen Sie denn wissen, daß ich überhaupt nicht heiraten will, niemanden; ich will ledig bleiben! Sie haben mir zwei Jahre lang deswegen zugesetzt, weil ich mich nicht verheirate. Nun, Sie werden sich damit eben abfinden müssen. Ich will nicht; das genügt. Und dabei wird es bleiben!“
„Aber mein Herzchen, liebste Sinaida, um Gottes willen, werde nur nicht heftig, bevor du mich zu Ende gehört hast! Was hast du nur für ein hitziges Köpfchen, wirklich! Wenn du mir gestatten willst, dir die Sache von meinem Gesichtspunkte aus zu zeigen, so wirst du mir sofort zustimmen. Der Fürst wird noch ein, höchstens zwei Jahre leben, und meiner Ansicht nach ist es besser, eine junge Witwe als eine alte Jungfer zu sein, ganz zu geschweigen davon, daß du nach seinem Tode eine Fürstin, frei, reich und unabhängig sein wirst! Mein liebes Kind, du blickst vielleicht verächtlich auf alle diese Spekulationen — Spekulationen auf seinen Tod! Aber ich bin eine Mutter, und welche Mutter wird mir meine weitblickende Fürsorge zum Vorwurfe machen? Und noch eins: Wenn du in deiner engelhaften Güte diesen jungen Menschen immer noch bemitleidest, ihn dermaßen bemitleidest, daß du dich nicht einmal verheiraten willst, solange er noch lebt (wie ich vermute), so bedenke doch, daß du durch eine Heirat mit dem Fürsten ihn gleichsam wieder zum Leben erweckst, ihm eine große Freude bereitest! Wenn er auch nur eine Spur von gesunder Vernunft besitzt, so wird er doch natürlich begreifen, daß Eifersucht auf den Fürsten ein Ding der Unmöglichkeit, etwas Lächerliches sein würde; er wird begreifen, daß du aus Berechnung, unter dem Druck der Notwendigkeit geheiratet hast. Schließlich wird er begreifen … das heißt, ich will einfach sagen, daß du nach dem Tode des Fürsten dich wieder verheiraten kannst, mit wem du willst …“
„Also ganz einfach: Ich soll den Fürsten heiraten, ihn ausplündern und dann auf seinen Tod spekulieren, um den Geliebten zu heiraten. Sie suchen Ihren Zweck auf eine schlaue Weise zu erreichen! Sie wollen mich verfuhren, indem Sie mir vorschlagen … Ich verstehe Sie, Mama, ich verstehe Sie vollkommen! Sie können sich doch schlechterdings nicht enthalten, edle Gefühle herauszukehren, sogar bei einer garstigen Sache. Hätten Sie doch lieber einfach und geradezu gesagt: ‚Sinaida, es ist eine Gemeinheit; aber sie bringt Vorteil; darum willige ein!‘. Das wäre wenigstens aufrichtiger gewesen.“
„Aber, mein Kind, warum willst du die Sache denn durchaus von diesem Gesichtspunkte aus ansehen, von dem Gesichtspunkte des Betruges, der Hinterlist und der Selbstsucht? Du hältst meine Spekulationen für eine Gemeinheit und für einen Betrug? Aber ich bitte dich bei allem, was heilig ist, wo steckt denn da ein Betrug, was ist daran für eine Gemeinheit? Betrachte dich doch nur im Spiegel: Du bist so schön, daß man gar wohl für dich ein Königreich hingeben kann! Und da bringst du, du, eine solche Schönheit, dem alten Manne deine besten Lebensjahre zum Opfer! Du wirst wie ein schöner Stern seinen Lebensabend erleuchten; du wirst dich wie grüner Efeu um sein Alter schlingen, du, und nicht diese Brennessel, dieses widerwärtige Frauenzimmer, das ihn behext hat und ihm gierig den Lebenssaft aussaugt! Sind etwa sein Geld und sein Fürstentitel mehr wert als du? Wo steckt da Betrug und Gemeinheit? Du weißt selbst nicht, was du redest, Sinaida!“
„Diese Dinge müssen doch wohl viel wert sein, wenn ich um ihretwillen einen Krüppel heiraten soll! Betrug bleibt immer Betrug, Mama, mag der Zweck sein, welcher er will!“ „Nicht doch, liebe Sinaida, nicht doch! Man kann die Sache sogar von einem hohen, sogar vom christlichen Gesichtspunkte aus ansehen, mein Kind! Du hast einmal in einem Augenblicke der Ekstase zu mir gesagt, du wolltest Barmherzige Schwester werden. Dein Herz hat viel gelitten und sich verhärtet. Du sagtest (ich weiß das noch), dein Herz könne nicht mehr lieben. Wenn du nicht mehr an Liebe glaubst, so wende deine Gefühle einem anderen, höheren Gegenstande zu, tue das aufrichtig wie ein Kind, mit vollem Glauben und voller Hingebung — und Gott wird dich segnen. Dieser alte Mann hat ebenfalls viel gelitten; er ist unglücklich; er wird befeindet; ich kenne ihn schon mehrere Jahre und habe immer eine besondere Zuneigung zu ihm empfunden, eine Art Liebe, gerade als ob mir etwas geahnt hätte. Sei seine Freundin, sei seine Tochter, sei nötigenfalls sogar sein Spielzeug — wenn schon alles herausgesagt werden soll! Aber erwärme sein Herz, und du wirst das um Gottes und der Tugend willen tun! Er ist komisch; beachte das nicht! Er ist nur ein halber Mensch; habe Mitleid mit ihm: Du bist eine Christin! Überwinde dich selbst; solche Taten erfordern Selbstüberwindung. Nach unserer Auffassung ist es eine schwere Aufgabe, im Krankenhause Wunden zu verbinden, und wir ekeln uns, die verdorbene Lazarettluft einzuatmen. Aber es gibt Engel Gottes, die das ausfuhren und Gott für ihren Beruf preisen. Das wäre eine Arznei für dein krankes Herz, ein Beruf, eine Großtat — dadurch würdest du deine Wunden heilen. Wo ist da Egoismus, wo ist da Gemeinheit? Aber du glaubst mir nicht! Du denkst vielleicht, ich verstelle mich, wenn ich von Pflicht und Großtaten rede. Du kannst es nicht verstehen, daß ich, eine eitle Weltdame, ein Herz und Gefühle und moralische Grundsätze haben kann. Nun gut, glaube mir nicht, kränke deine Mutter; aber gib zu, daß ihre Worte vernünftig sind und den Weg zur Rettung zeigen! Stelle dir meinetwegen vor, daß nicht ich zu dir rede, sondern ein anderer; schließe die Augen, drehe dich nach der Ecke zu; bilde dir ein, daß eine unsichtbare Stimme zu dir spricht …! Du nimmst hauptsächlich daran Anstoß, daß dies alles um des Geldes willen geschehen soll, als ob es eine Art Verkauf oder Kauf wäre. So verzichte doch meinetwegen auf das Geld, wenn dir das Geld so verhaßt ist! Behalte nur so viel, wie notwendig ist, für dich und verteile alles übrige unter die Armen! Hilf zum Beispiel wenigstens ihm, diesem Unglücklichen auf dem Sterbebette!“
„Er wird keine Hilfe annehmen“, sagte Sinaida leise, als ob sie für sich spräche.
„Er wird sie nicht annehmen; aber seine Mutter wird sie annehmen“, antwortete Marja Alexandrowna triumphierend; „sie wird sie ohne sein Wissen annehmen. Du hast vor einem halben Jahre deine Ohrringe verkauft, die deine Tante dir geschenkt hatte, und ihr geholfen; ich weiß das. Ich weiß, daß die alte Frau Wäsche für die Leute wäscht, um ihren unglücklichen Sohn zu unterhalten.“
„Er wird bald keiner Hilfe mehr bedürfen!“ „Ich weiß auch, worauf du damit hindeutest“, fiel Marja Alexandrowna ein, und eine Begeisterung, eine wirkliche Begeisterung erfaßte sie; „ich weiß, wovon du redest. Es heißt, er habe die Schwindsucht und werde bald sterben. Aber wer sagt das denn eigentlich? Ich habe neulich Kallist Stanislawitsch expreß nach ihm gefragt: Ich interessierte mich für ihn, weil ich ein Herz habe, Sinaida. Kallist Stanislawitsch antwortete mir, die Krankheit sei allerdings gefährlich; aber er sei bis jetzt noch der Überzeugung, daß der Kranke nicht die Schwindsucht, sondern nur eine andere ziemlich starke Brustaffektion habe. Frage ihn selbst! Er sprach sich mir gegenüber zuversichtlich dahin aus, daß unter veränderten Verhältnissen, besonders bei einem Wechsel des Klimas und der äußeren Eindrücke, der Kranke genesen könne. Er sagte mir, in Spanien (das habe ich auch schon früher gehört und sogar gelesen), da gebe es eine merkwürdige Insel, ich glaube, Malaga (jedenfalls hat sie denselben Namen wie ein Wein), wo nicht nur Brustkranke, sondern sogar richtige Schwindsüchtige bloß durch das Klima vollständig wiederhergestellt würden; und es begäben sich viele Leute expreß zur Kur dorthin, selbstverständlich nur hohe Herren oder wohl auch Kaufleute, aber nur sehr reiche. Schon allein diese zauberhafte Alhambra, diese Myrthen, diese Zitronenbäume, diese Spanier auf ihren Maultieren! Schon das allein wird auf eine poetisch veranlagte Natur einen gewaltigen Eindruck machen. Du meinst, er werde deine Hilfe, dein Geld zu dieser Reise nicht annehmen? So täusche ihn, wenn er dir leid tut! Eine Täuschung zum Zwecke der Rettung eines Menschenlebens ist verzeihlich. Mach ihm Hoffnung; versprich ihm selbst deine Liebe; sag ihm, du werdest ihn heiraten, sobald du werdest Witwe sein! Man kann alles in der Welt auf eine edle Art sagen. Deine Mutter wird dich nichts Unedles lehren, Sinaida; du tust das zur Rettung seines Lebens, und daher ist alles entschuldbar! Du wirst ihn durch die Hoffnung neu beleben; er wird selbst anfangen, auf seine Gesundheit zu achten, die Kur innezuhalten, auf die Ärzte zu hören. Er wird sich bemühen, die Gesundheit wiederzuerlangen, um glücklich zu werden. Wenn er genesen ist, dann wirst du, wenn du ihn auch nicht heiratest, ihn doch wenigstens gesund gemacht, ihn gerettet, ihn ins Leben zurückgerufen haben! Und schließlich kann man ihm ja auch eine gewisse Sympathie zuwenden! Vielleicht hat ihn dann das Schicksal belehrt und zum Besseren umgewandelt, und wenn er wirklich deiner würdig sein wird, dann kannst du ihn ja meinetwegen auch heiraten, sobald du Witwe geworden bist. Du kannst, wenn du ihn kuriert hast, ihm eine Stellung in der Welt verschaffen, ihm eine gute Karriere ermöglichen. Deine Verheiratung mit ihm wird dann eher entschuldbar sein als jetzt, wo sie geradezu unmöglich ist. Was würde euch beide erwarten, wenn ihr euch jetzt zu einem so unsinnigen Schritte entschlösset? Allgemeine Verachtung, Armut, Durchprügeln von Schulbuben (denn das ist mit seinem Amte notwendig verbunden), wechselseitiges Vorlesen von Shakespeare, lebenslängliches Wohnen in Mordassow und endlich sein naher, unvermeidlicher Tod. Wenn du ihm dagegen wieder zur Gesundheit verhilfst, so ermöglichst du ihm ein nützliches, sittliches gutes Leben; und wenn du ihm verzeihst, so wird er dich vergöttern. Ihn quält jetzt die Reue über seine damalige häßliche Handlung; aber wenn du ihm die Möglichkeit zu einem neuen Leben gibst und ihm verzeihst, so bringst du ihn dahin, wieder zu hoffen und sich mit sich selbst zu versöhnen. Er kann in den Staatsdienst treten und dort aufrücken. Und schließlich, selbst wenn er nicht wieder gesund werden sollte, so wird er als ein Glücklicher sterben, versöhnt mit sich selbst, in deinen Armen (denn du selbst kannst in diesen Augenblicken bei ihm sein), überzeugt davon, daß du ihn liebst und ihm verziehen hast, im Schatten der Myrthen und Zitronenbäume, unter dem dunkelblauen exotischen Himmel! O Sinaida! Das alles hast du in der Hand! Alle Vorteile sind auf deiner Seite — und alles das dadurch, daß du den Fürsten heiratest.“
Marja Alexandrowna war zu Ende. Es trat ein ziemlich langes Stillschweigen ein. Sinaida befand sich in unbeschreiblicher Aufregung.
Wir unternehmen es nicht, Sinaidas Gefühle zu schildern; wir können sie nicht erraten. Aber es scheint, daß Marja Alexandrowna den richtigen Weg zu ihrem Herzen gefunden hatte. Da sie nicht wußte, in welchem Zustande sich das Herz ihrer Tochter jetzt befand, so hatte sie alle möglichen Situationen, in denen es sich befinden konnte, durchprobiert und zuletzt gemerkt, daß sie auf den richtigen Weg gekommen war. Sie hatte die kranksten Stellen an Sinaidas Herzen mit rauher Hand berührt und natürlich nach ihrer Gewohnheit nicht umhin gekonnt, edle Gefühle herauszukehren, durch die sich Sinaida allerdings nicht verblenden ließ. „Aber was schadet es, daß sie mir nicht glaubt“, hatte Marja Alexandrowna gedacht, „wenn ich sie nur zum eigenen Nachdenken bringen kann! Wenn ich ihr nur recht geschickt das andeuten kann, wovon ich nicht geradezu sprechen darf!“ So hatte sie gedacht und ihr Ziel erreicht. Sie hatte die gewünschte Wirkung hervorgebracht. Sinaida hatte gespannt zugehört. Ihre Wangen glühten, ihre Brust wogte.
„Hören Sie, Mama“, sagte sie endlich in entschlossenem Tone, obgleich die Blässe, die ihr Gesicht plötzlich überzog, deutlich zeigte, wieviel ihr dieser Entschluß kostete. „Hören Sie, Mama …“
Aber ein plötzliches Geräusch, das vom Vorzimmer her hörbar wurde, und eine scharfe, kreischende Stimme, die nach Marja Alexandrowna fragte, zwangen Sinaida innezuhalten. Marja Alexandrowna sprang auf.
„Ach, mein Gott!“ rief sie, „da führt mir der Teufel diese schwatzhafte Elster, die Frau Oberst, her! Und dabei habe ich sie vor vierzehn Tagen beinahe aus dem Hause gejagt!“ fügte sie fast in Verzweiflung hinzu. „Aber … aber es ist unmöglich, sie jetzt abzuweisen! Unmöglich! Sie hat gewiß irgendwelche Neuigkeiten; sonst würde sie es nicht wagen, sich bei mir zu zeigen. Das ist wichtig, Sinaida! Ich muß wissen, was sie bringt. Wir dürfen jetzt nichts unbeachtet lassen! — Aber wie dankbar bin ich Ihnen für Ihren Besuch!“ rief sie, der Eintretenden entgegeneilend. „Wie lieb von Ihnen, sich meiner zu erinnern, teuerste Sofja Petrowna! Welch eine ent-zük-ken-de Überraschung!“
Sinaida lief aus dem Zimmer.