2. Das kranke Füßchen
Zuerst eilte er in das Haus von Frau Chochlakowa; er wollte dort möglichst schnell fertig werden und nicht zu spät zu Mitja kommen. Frau Chochlakowa kränkelte seit drei Wochen, ein Fuß war ihr, Gott weiß woher, geschwollen; sie lag zwar nicht gerade im Bett, verbrachte jedoch den Tag in einem reizenden, aber anständigen Negligé auf einer Chaiselongue in ihrem Boudoir. Aljoscha hatte bereits im stillen darüber gelächelt, daß Frau Chochlakowa trotz ihrer Krankheit angefangen hatte, sich ein bißchen zu putzen. Da waren allerlei Coiffüren, Schleifen und Morgenröcke zum Vorschein gekommen, und er durchschaute die Absicht, obwohl er diesen Gedanken als müßig verscheuchte. In den letzten zwei Monaten war, unter den anderen Besuchern, auch der junge Perchotin oft zu Frau Chochlakowa gekommen.
Aljoscha war schon seit vier Tagen nicht dagewesen und wollte schnell geradewegs zu Lisa gehen; denn sie hatte am vorigen Tag das Dienstmädchen mit der dringenden Bitte zu ihm geschickt, er möchte »in einer sehr wichtigen Angelegenheit« unverzüglich zu ihr kommen, was aus gewissen Gründen Aljoschas Interesse erregt hatte. Doch während das Mädchen zu Lisa ging, um ihn anzumelden, hatte Frau Chochlakowa bereits irgendwie von seiner Ankunft erfahren und ließ ihn »nur auf ein Augenblickchen« zu sich bitten. Nach kurzer Überlegung sagte sich Aljoscha, daß es das beste wäre, zunächst den Wunsch der Mutter zu erfüllen; sonst würde sie, solange er bei Lisa saß, alle Augenblicke zu ihnen schicken. Frau Chochlakowa lag, besonders festlich gekleidet, auf der Chaiselongue und befand sich augenscheinlich in einer außerordentlich nervösen Erregung. Sie empfing Aljoscha mit Ausrufen des Entzückens.
»Eine Ewigkeit, eine ganze Ewigkeit habe ich Sie nicht gesehen! Eine ganze Woche nicht, ich bitte Sie! Ach, übrigens waren Sie erst vor vier Tagen hier, am Mittwoch. Sie wollen zu Lise? Ich bin überzeugt, daß Sie direkt zu ihr gehen wollten, auf den Zehen, damit ich es nicht merke. Lieber Alexej Fjodorowitsch, wenn Sie wüßten, wie sie mich beunruhigt! Aber davon nachher! Das ist zwar das Allerwichtigste, aber davon nachher! Lieber Alexej Fjodorowitsch, ich vertraue Ihnen meine Lise vollständig an. Nach dem Tode des Starez Sossima — Gott schenke seiner Seele die ewige Ruhe! — betrachte ich Sie gewissermaßen als seinen Nachfolger im strengen Mönchtum, obwohl Ihr neuer Anzug Sie vorzüglich kleidet. Wo haben Sie hier nur so einen guten Schneider aufgetrieben? Aber nein, das ist nicht die Hauptsache, davon nachher! Verzeihen Sie, daß ich Sie manchmal Aljoscha nenne, ich bin eine alte Frau, mir ist alles erlaubt«, sagte sie, kokett lächelnd! »Aber davon nachher! Die Hauptsache ist, daß ich nicht die Hauptsache vergesse. Bitte, erinnern Sie mich, sobald ich ins Plaudern gerate! Sie brauchen nur zu sagen: ‚Und die Hauptsache?‘ Ach, woher soll ich denn wissen, was jetzt die Hauptsache ist? Seit Lise das Versprechen wieder zurückgenommen hat, ihr kindisches Versprechen, Alexej Fjodorowitsch, Sie zu heiraten, haben Sie natürlich eingesehen, daß das alles nur die kindische Laune eines kranken, gar zu lange an den Rollstuhl gefesselten Mädchens war — Gott sei Dank, jetzt kann sie ja wieder gehen. Dieser neue Arzt, den Katja aus Moskau hat kommen lassen, für Ihren unglücklichen Bruder, der morgen … Nun, wozu sollen wir über morgen sprechen! Ich sterbe schon von dem bloßen Gedanken an morgen! Hauptsächlich vor Neugierde … Kurz, dieser Arzt ist gestern bei uns gewesen und hat Lise gesehen … Ich habe ihm fünfzig Rubel für den Besuch bezahlt. Aber das ist alles nicht das, was ich eigentlich sagen wollte. Sehen Sie, ich bin jetzt schon ganz aus dem Konzept gekommen. Ich habe es zu eilig. Warum habe ich es eigentlich so eilig? Das verstehe ich gar nicht. Überhaupt läßt mein Verständnis für dies und das jetzt erschreckend nach. Alles wirrt sich für mich zu einem unauflöslichen Knäuel. Ich fürchte, daß Sie vor Langeweile einfach aufspringen und gehen. Ach mein Gott, was sitzen wir denn so, ich müßte doch erst mal Kaffee … Julija, Glafira, Kaffee!«
Aljoscha dankte und erklärte rasch, er habe soeben erst Kaffee getrunken.
»Bei wem denn?«
»Bei Agrafena Alexandrowna.«
»Ach … Bei dieser Frauensperson! Sie ist es, die alle zugrunde gerichtet hat, aber ich weiß nicht, es heißt ja, sie sei jetzt eine Heilige geworden, obgleich wohl etwas spät. Das hätte sie lieber früher tun sollen, als es nötig war! Aber jetzt, was hat es jetzt für einen Nutzen? Seien Sie still, seien Sie still, Alexej Fjodorowitsch, ich habe Ihnen so viel zu sagen, daß ich, wie es scheint, überhaupt nicht dazu komme, Ihnen irgend etwas zu sagen. Dieser schreckliche Prozeß! Ich werde unbedingt hinfahren, ich bereite mich darauf vor, ich werde mich im Lehnsessel in den Saal tragen lassen, dort kann ich ja sitzen, ich werde meine Leute mitnehmen. Sie wissen ja, ich gehöre zu den Zeugen. Wie werde ich nur reden, wie werde ich nur reden! Ich weiß nicht, was ich da sagen soll. Man muß ja wohl einen Eid schwören, nicht wahr?«
»Ja, aber ich glaube nicht, daß es Ihnen möglich sein wird, dort zu erscheinen.«
»Ich kann ja sitzen! Ach, Sie bringen mich aus dem Konzept! Dieser Prozeß, diese Tat, und dann gehen alle nach Sibirien, und andere verheiraten sich, und alles geht so schnell, und alles ändert sich, und zuletzt ist nichts mehr übrig, und alle sind alt geworden und blicken in ihr Grab. Na, in Gottes Namen, ich bin müde … Diese Katja, cette charmante personne, hat alle meine Hoffnungen zunichte gemacht! Jetzt wird sie einem Ihrer Brüder nach Sibirien folgen, und Ihr anderer Bruder wiederum wird ihr folgen und in einer benachbarten Stadt leben, und alle werden sich gegenseitig quälen. Mich macht das alles ganz verrückt, besonders aber diese Publizität! In allen Petersburger und Moskauer Zeitungen sind eine Million Artikel darüber gedruckt worden. Ach ja, stellen Sie sich das vor, auch von mir haben sie geschrieben, ich sei eine liebe Freundin Ihres Bruders gewesen! Ich will ja keinen häßlichen Ausdruck gebrauchen, aber stellen Sie sich das vor, stellen Sie sich das vor!«
»Das ist nicht möglich! Wo ist denn das gedruckt worden?«
»Ich werde es Ihnen zeigen. Gestern habe ich es bekommen und gleich gelesen. Sehen Sie, hier in der Zeitung ‚Gerüchte‘, sie kommt in Petersburg heraus. Diese ‚Gerüchte‘ erscheinen erst seit diesem Jahr. Ich bin eine große Freundin von Gerüchten und habe sie abonniert, zu meinem eigenen Unglück! Sehen Sie nur, als was sich diese ‚Gerüchte‘ entpuppt haben! Sehen Sie, hier, an dieser Stelle. Lesen Sie.«
Sie reichte Aljoscha ein Zeitungsblatt, das sie unter ihrem Kopfkissen liegen hatte.
Sie war nicht etwa nur verstimmt, sondern in ihrem Kopf hatte sich vielleicht wirklich alles zu einem wirren Knäuel zusammengeballt. Die Zeitungsmeldung war sehr treffend und mußte auf sie tatsächlich einen recht peinlichen Eindruck machen; doch sie war vielleicht zu ihrem Glück nicht imstande, in diesem Augenblick ihre Gedanken auf einen Punkt zu konzentrieren, und brachte es daher schon eine Minute später fertig, die Zeitung sogar zu vergessen und auf etwas ganz anderes überzugehen. Daß sich die Kunde von dem Prozeß schon überall in Rußland verbreitet hatte, wußte Aljoscha längst — was für tolle Nachrichten und Korrespondenzen hatte er unter anderen, wahren Nachrichten in diesen zwei Monaten schon über seinen Bruder, über die Karamasows im allgemeinen und sogar über sich selbst gelesen! In einer Zeitung war sogar geschrieben worden, er sei nach dem Verbrechen seines Bruders vor Entsetzen Einsiedler geworden und habe sich von der Welt abgeschlossen; in einer anderen Zeitung war diese Meldung als falsch bezeichnet und statt dessen behauptet worden, er habe zusammen mit seinem Starez Sossima die Klosterkasse erbrochen und sei dann mit ihm geflohen. Die Nachricht in der Zeitung »Gerüchte« nun hatte die Überschrift: »Zum Karamasow-Prozeß. Neues aus Skotoprigonewsk« — leider heißt unser Städtchen so, ich habe seinen Namen lange verschwiegen. Der Artikel war nur kurz, und über Frau Chochlakowa war darin nichts direkt gesagt, wie überhaupt alle Namen weggelassen waren. Es wurde nur mitgeteilt, der Verbrecher, zu dessen Aburteilung jetzt dieser aufsehenerregende Prozeß anberaumt sei, ein Hauptmann a. D., ein frecher Wüstling, Müßiggänger und Verteidiger der Leibeigenschaft, habe sich ständig mit Liebschaften abgegeben und einen besonderen Einfluß auf einige »einsame Damen« ausgeübt. Eine derartige Dame, »eine sich langweilende Witwe«, die gern die Jugendliche spiele, obwohl sie schon eine erwachsene Tochter habe, sei so in ihn verliebt gewesen, daß sie ihm zwei Stunden vor dem Verbrechen dreitausend Rubel angeboten habe, unter der Bedingung, daß er sogleich mit ihr in die Goldbergwerke ginge. In der Hoffnung, ungestraft zu bleiben, habe es der Bösewicht jedoch vorgezogen, lieber seinen Vater totzuschlagen und ihm dreitausend Rubel zu rauben, als mit den vierzigjährigen Reizen einer sich langweilenden Dame nach Sibirien zu gehen. Diese humoristische Korrespondenz schloß, wie es sich gehört, mit dem Ausdruck edler Entrüstung über die Unsittlichkeit des Vatermordes und der früheren Leibeigenschaft.
Nachdem Aljoscha den Artikel gelesen hatte, faltete er das Blatt zusammen und gab es Frau Chochlakowa zurück.
»Nun, bin ich das etwa nicht?« schwatzte sie weiter! »Das bin ich, denn ich habe ihn ja eine Stunde vorher auf die Goldbergwerke hingewiesen, und nun heißt es da auf einmal ‚vierzigjährige Reize‘! Habe ich etwa in diesem Sinn davon gesprochen? Das hat er aus Bosheit getan! Möge ihm der Ewige Richter die vierzigjährigen Reize verzeihen, so wie ich sie ihm verzeihe! Aber wissen Sie, wer es war, wer das geschrieben hat? Ihr Freund Rakitin!«
»Das kann schon sein«, erwiderte Aljoscha, »Obgleich ich nichts davon gehört habe.«
»Er ist es, er ist es! Von ‚kann schon sein‘ ist nicht die Rede! Ich habe ihn ja hinausgeworfen … Sie kennen doch wohl diese ganze Geschichte?«
»Ich weiß, daß Sie ihn ersucht haben, Sie künftig nicht mehr zu besuchen, aber weswegen eigentlich, das habe ich, wenigstens von Ihnen, nicht gehört.«
»Also haben Sie es von ihm gehört! Nun, wie ist es? Schimpft er auf mich? Schimpft er sehr?«
»Ja, er schimpft. Aber er schimpft ja auf alle Menschen. Doch aus welchem Grund Sie ihm Ihr Haus verboten haben, habe ich auch von ihm nicht gehört. Überhaupt komme ich jetzt nur selten mit ihm zusammen. Wir sind keine Freunde.«
»Nun, dann will ich Ihnen das alles erzählen, und ich muß es leider so nennen, reuevoll beichten, denn es ist da ein Punkt, in dem ich vielleicht selbst schuldig bin. Nur ein kleines kleines Pünktchen, ein ganz kleines, so daß es vielleicht überhaupt nicht existiert. Sehen Sie, mein Täubchen ..,« Frau Chochlakowa setzte plötzlich eine eigentümlich schalkhafte Miene auf, und um ihre Lippen spielte ein liebenswürdiges und etwas rätselhaftes Lächeln! »Sehen Sie, ich vermutete … Sie verzeihen mir, Aljoscha, ich rede zu Ihnen wie eine Mutter, o nein, im Gegenteil, ich rede zu Ihnen jetzt wie zu meinem Vater, denn der Ausdruck Mutter paßt hier überhaupt nicht her … Nun, ich rede zu Ihnen wie zum Starez Sossima in der Beichte, und das paßt durchaus, ich habe Sie ja auch vorhin einen Einsiedler genannt … Nun also, dieser arme junge Mensch, Ihr Freund Rakitin, o Gott, ich kann ihm einfach nicht böse sein, das heißt, ich bin auf ihn böse, aber nicht sehr, kurz, dieser leichtsinnige junge Mann kam auf einmal, denken Sie sich nur, auf den Einfall, sich in mich zu verlieben. Ich merkte es erst später; zuerst, das heißt ungefähr vor einem Monat, begann er mich häufiger zu besuchen, fast täglich, obwohl wir auch schon früher miteinander bekannt waren. Ich ahnte nichts, dann kam es plötzlich wie eine Erleuchtung über mich, und ich wunderte mich sehr. Sie wissen, daß ich schon vor zwei Monaten angefangen hatte, den hiesigen Beamten Pjotr Iljitsch Perchotin, diesen bescheidenen, liebenswürdigen, soliden jungen Mann, bei mir zu empfangen. Sie sind ja oftmals selbst mit ihm zusammengetroffen. Und nicht wahr, er ist so solide und gesetzt. Er kommt alle drei Tage, nicht täglich, obwohl ich auch dagegen nichts hätte, und ist immer so gut gekleidet, und überhaupt habe ich die jungen Leute gern, solche talentvollen, bescheidenen jungen Leute wie Sie zum Beispiel. Und er hat ja beinahe einen staatsmännischen Verstand, er spricht so allerliebst, und ich werde mich unbedingt, unbedingt für ihn verwenden, das ist ein künftiger Diplomat! Er hat mich an jenem furchtbaren Tag gewissermaßen vom Tode errettet, indem er in der Nacht zu mir kam. Aber Ihr Freund Rakitin kommt immer mit so häßlichen Stiefeln und streckt sie auf dem Teppich aus … Kurz, er begann mir Andeutungen zu machen und drückte mir einmal beim Gehen auffallend fest die Hand. Und kaum hatte er mir die Hand gedrückt, wurde auf einmal mein Fuß schlimm! Rakitin hatte schon früher manchmal Pjotr Iljitsch bei mir getroffen, und immer stichelte und stichelte er gegen ihn und brummte ihn wegen irgend etwas an. Ich sah mir die beiden an, wenn sie aneinandergerieten, und lachte innerlich. Wie ich nun einmal allein dasaß, das heißt nein, ich lag damals schon, wie ich nun einmal allein dalag, da kam Michail Iwanowitsch, und denken Sie sich, er brachte ein eigenes Gedicht mit, nur ganz kurz, auf meinen kranken Fuß, das heißt, er hatte meinen kranken Fuß in Versen besungen. Warten Sie einmal, wie war es doch?
Ach, geschwollen ist das liebe Füßchen,
und die Ärzte suchen es zu heilen …
Oder so ähnlich, ich kann mir Verse absolut nicht merken. Ich habe das Gedicht dort liegen, na, ich werde es Ihnen nachher zeigen, aber es ist reizend, ganz reizend, und wissen Sie, es handelt nicht nur von dem Füßchen, es hat auch einen tieferen Inhalt, mit einer reizenden Idee, nur habe ich sie vergessen, kurz, man hätte es ohne weiteres in ein Album schreiben können. Na, ich lobte es natürlich, und er fühlte sich offenbar durch mein Lob geschmeichelt. Ich war mit dem Loben noch nicht fertig, da trat Pjotr Iljitsch ins Zimmer. Michail Iwanowitschs Gesicht wurde urplötzlich finster wie die Nacht. Ich merkte gleich, daß Pjotr Iljitsch ihm irgendwie in die Quere gekommen war, denn Michail Iwanowitsch hatte wohl gleich im Anschluß an die Verse etwas sagen wollen, das hatte ich schon geahnt, und nun war ihm also Pjotr Iljitsch dazwischengekommen. Ich zeigte das Gedicht sogleich Pjotr Iljitsch, ohne jedoch den Verfasser zu nennen. Aber ich bin überzeugt, daß er ihn sofort erriet, obgleich er es bis auf den heutigen Tag nicht zugibt, aber das tut er absichtlich. Pjotr Iljitsch fing an zu lachen und das Gedicht zu kritisieren. ‚Ganz jämmerliche Verse!‘ sagte er. ‚Die wird wohl irgendein Seminarist verbrochen haben.‘ Und wissen Sie, das sagte er so zornig! Und Ihr Freund, statt darüber zu lachen, wurde auf einmal ganz wütend … O Gott, ich dachte sie würden sich prügeln! ‚Ich‘, sagte er, ‚bin der Verfasser des Gedichts. Ich habe es nur zum Scherz geschrieben, denn ich halte es für unwürdig, Verse zu schreiben. Aber meine Verse sind gut. Ihrem Puschkin will man für sein Lob der Frauenfüßchen ein Denkmal setzen, bei mir ist mit diesem Lob jedoch eine bestimmte Tendenz verbunden. Sie hingegen‘, sagte er, ‚sind ein Verteidiger der Leibeigenschaft. Sie besitzen keine Humanität, Sie haben keinerlei aufgeklärte Gefühle, Sie sind von der neuzeitlichen Entwicklung unberührt geblieben, Sie sind Beamter und nehmen Bestechungen an!‘ Da fing ich an zu schreien und flehte die beiden an. Doch Pjotr Iljitsch, wissen Sie, ist durchaus nicht auf den Mund gefallen, er schlug sofort einen feinen Ton an, sah ihn spöttisch an, hörte zu und entschuldigte sich. ‚Ich habe nicht gewußt‘, sagte er, ‚daß Sie der Verfasser sind. Hätte ich es gewußt, dann hätte ich nicht so geredet, sondern das Gedicht gelobt. Die Dichter sind alle so reizbar …‘ Kurz, lauter solche Spöttereien, unter dem feinsten Tonfall versteckt. Er hat mir nachher selbst gestanden, daß alles nur Spott war, und ich hatte gedacht, er hätte im Ernst gesprochen! So lag ich nun da, wie ich jetzt vor Ihren Augen daliege, und dachte: ‚Schickt es sich oder schickt es sich nicht, daß ich Michail Iwanowitsch zur Strafe dafür die Tür weise, daß er in meinem Haus meinen Gast unanständig angeschrien hat?‘ So lag ich da, hielt die Augen geschlossen und dachte: ‚Schickt es sich, oder schickt es sich nicht?‘ Ich konnte zu keiner Entscheidung kommen und quälte mich und quälte mich, und das Herz klopfte mir: Soll ich schreien oder nicht? Eine Stimme in mir sagte: ‚Schrei!‘ Und eine andere sagte: ‚Schrei nicht!‘ Aber kaum hatte diese andere Stimme das gesagt, da schrie ich auf und fiel in Ohnmacht. Na, natürlich war große Aufregung. Ich erhob mich und sagte zu Michail Iwanowitsch: ‚Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, daß ich Sie nicht mehr in meinem Haus zu empfangen wünsche.‘ Ja, so habe ich ihn vor die Tür gesetzt … Ach, Alexej Fjodorowitsch! Ich weiß selbst, daß ich häßlich gehandelt habe, es war alles nur Verstellung, ich war gar nicht böse auf ihn, mir kam bloß auf einmal in den Kopf, das könnte eine hübsche Szene werden. Aber diese Szene war doch echt und natürlich, denn ich brach sogar in Tränen aus, noch mehrere Tage danach habe ich geweint, aber dann nach dem Mittagessen hatte ich auf einmal alles vergessen. Nun hat er mich schon seit zwei Wochen nicht mehr besucht, und ich dachte: ‚Wird er wirklich gar nicht mehr kommen?‘ Das dachte ich noch gestern, und dann, am Abend, bekam ich diese ‚Gerüchte‘. Ich las sie und stöhnte auf. Wer hat das wohl geschrieben? Das ist er gewesen, er ist damals nach Hause gekommen, hat sich hingesetzt, diesen Artikel geschrieben, ihn eingesandt — und nun ist er gedruckt worden! Unser Zerwürfnis war ja vor zwei Wochen. Aber es ist schrecklich, was ich da alles rede, Aljoscha, und ausgerechnet von dem Wichtigsten rede ich nicht. Ach, man kommt ganz von selbst ins Reden!«
»Es liegt mir heute außerordentlich viel daran, rechtzeitig zu meinem Bruder zu kommen«, bemerkte Aljoscha.
»Richtig, das war es! Sie haben mich an alles erinnert! Hören Sie, was ist das: ein Affekt?«
»Was für ein Affekt?« fragte Aljoscha erstaunt.
»Ein gerichtlicher Affekt. Einer, dessentwegen einem alles verziehen wird. Man mag getan haben, was man will, es wird einem verziehen.«
»Was meinen Sie denn eigentlich?«
»Das will ich Ihnen sagen. Diese Katja … Ach, sie ist so ein liebes Wesen, ich weiß nur nicht, in wen sie eigentlich verliebt ist. Neulich saß sie bei mir, und ich konnte es absolut nicht herausbekommen. Um so weniger, da sie jetzt immer von so
nebensächlichen Dingen redet, kurz, sie spricht immer nur von meiner Gesundheit und von weiter nichts, und sie hat sogar einen eigentümlichen Tonfall angenommen, aber ich habe mir gedacht: ‚Na, laß sie, Gott verzeihe ihr!‘ … Ach ja, nun also dieser Affekt. Sie wissen, daß jener Arzt angekommen ist, der Arzt, der sich auf die Irrsinnigen versteht? Nun, wie sollten Sie das nicht wissen, Sie haben ihn ja selbst hergerufen, das heißt, nicht Sie, sondern Katja! Immer Katja! Also, da ist ein Mensch, der ganz und gar nicht irrsinnig ist, doch auf einmal hat er einen Affekt. Er ist bei vollem Bewußtsein und weiß, was er tut, aber dabei befindet er sich in einem Affekt. Na, wahrscheinlich ist auch Ihrem Bruder Dmitri Fjodorowitsch so ein Affekt passiert. Als die neuen Gerichte eingeführt wurden, hat man auch gleich das mit dem Affekt entdeckt, der ist eine Wohltat der neuen Gerichte. Jener Arzt war also bei mir und fragte mich über den Abend aus, über die Goldbergwerke und so und was er auf mich für einen Eindruck gemacht hat. Natürlich muß er in einem Affekt gewesen sein, er kam und schrie: ‚Geld, Geld, dreitausend Rubel, geben Sie mir dreitausend Rubel!‘ Und dann ging er und verübte den Mord. Ich will nicht morden sagte er sich. Ich will nicht morden! Und auf einmal mordete er doch. Und deswegen wird man ihm die Tat auch verzeihen weil er sich selbst dagegen gesträubt und sie doch begangen hat.«
»Aber er hat den Mord doch gar nicht begangen«, unterbrach Aljoscha sie in etwas scharfem Ton. Unruhe und Ungeduld bemächtigten sich seiner mehr und mehr.
»Ich weiß, den Mord hat dieser alte Grigori begangen …«
»Was? Grigori?« rief Aljoscha.
»Ja der. Grigori ist es gewesen. Als Dmitri Fjodorowitsch ihn niedergeschlagen hatte, lag er zunächst da, dann stand er auf, sah die Tür offen, ging hinein und ermordete Fjodor Pawlowitsch.«
»Aber warum denn?«
»Er hat einen Affekt bekommen. Nachdem er von Dmitri Fjodorowitsch den Schlag über den Kopf erhalten und das Bewußtsein verloren hatte, kam er wieder zu sich, bekam einen Affekt, ging hin und verübte den Mord. Und wenn er selbst sagt, er hätte ihn nicht begangen, so erinnert er sich vielleicht bloß nicht. Aber sehen Sie, weit besser wird es sein, wenn Dmitri Fjodorowitsch den Mord begangen hat! Und so ist es auch gewesen. Ich sage zwar, daß es Grigori war, doch es ist bestimmt Dmitri Fjodorowitsch gewesen, und das ist auch viel, viel besser! Nicht deswegen, weil der Sohn den Vater ermordet hat, so etwas lobe ich nicht, die Kinder sollen ihre Eltern ehren, trotzdem ist es besser, wenn er es gewesen ist, weil Sie dann keinen Grund zu weinen haben, da er den Mord im Unterbewußtsein begangen hat, oder richtiger gesagt, mit Bewußtsein, aber ohne zu wissen, was in ihm vorging … Nein, mögen sie ihm verzeihen, das ist so human, dann wird man auch sehen, welche Wohltat die neuen Gerichte mit sich bringen. Ich hatte das ja gar nicht gewußt, dabei heißt es, diese Einrichtung bestehe schon lange! Als ich es gestern erfuhr, machte das auf mich einen solchen Eindruck, daß ich Sie sogleich rufen lassen wollte. Und später, wenn er freigesprochen ist, dann bringen Sie ihn bitte direkt vom Gericht zu mir zum Mittagessen, ich werde meine Bekannten einladen, und wir werden auf die neuen Gerichte trinken. Ich glaube nicht, daß er gefährlich wird, außerdem werde ich so viele Gäste einladen, daß man ihn gleich hinausführen kann, falls er irgend etwas anrichten sollte. Und später kann er irgendwo in einer anderen Stadt Friedensrichter oder so etwas werden, denn wer selbst Unglück erlebt hat, ist für das Richteramt am besten geeignet.
Vor allem, wer befindet sich jetzt nicht in einem Affekt? Sie, ich, wir alle befinden uns in einem Affekt, dafür gibt es unzählige Beispiele! Da war ein Mensch, der sang gerade ein Liebeslied, auf einmal mißfiel ihm irgend etwas, er nahm eine Pistole und schoß den ersten besten nieder, dann wurde er aber einstimmig freigesprochen. Ich habe das kürzlich gelesen, alle Ärzte haben es bescheinigt. Die Ärzte bescheinigen jetzt so etwas, alle bescheinigen es. Ich bitte Sie, meine Lise befindet sich ebenfalls in einem Affekt, ich habe noch gestern über sie geweint, und auch vorgestern habe ich geweint, und heute bin ich darauf gekommen, daß das bei ihr einfach ein Affekt ist … Ach, Lise macht mir so viel Sorge! Ich glaube, sie ist geistesgestört. Warum hat sie Sie rufen lassen? Hat sie Sie rufen lassen, oder sind Sie von selber gekommen?«
»Sie hat mich rufen lassen, und ich werde jetzt zu ihr gehen«, antwortete Aljoscha und stand entschlossen auf.
»Ach, lieber, lieber Alexej Fjodorowitsch, da ist ja noch das Allerwichtigste!« rief Frau Chochlakowa und brach in Tränen aus! »Gott weiß, daß ich Ihnen Lise von ganzem Herzen anvertraue, und es ist weiter nichts dabei, daß sie Sie ohne Wissen ihrer Mutter hat rufen lassen. Aber Ihrem Bruder Iwan Fjodorowitsch, nehmen Sie mir das nicht übel, kann ich meine Tochter nicht mit so leichtem Herzen anvertrauen, obgleich ich ihn nach wie vor für einen ehrenhaften jungen, Mann halte. Aber denken Sie, er ist bei Lise gewesen und ich habe nichts davon gewußt.«
»Wie? Was? Wann?« fragte Aljoscha erstaunt; er hatte sich nicht wieder gesetzt, sondern hörte stehend zu.
»Ich werde es Ihnen erzählen, gerade deswegen habe ich Sie vielleicht rufen lassen, ach, ich weiß selbst nicht mehr, warum ich Sie eigentlich rufen ließ. Also hören Sie! Iwan Fjodorowitsch ist nach seiner Rückkehr aus Moskau nur zweimal bei mir gewesen, das erstemal, um als Bekannter eine Visite zu machen, das zweitemal, das ist noch nicht lange her, saß Katja bei mir, und da kam er vorbei, weil er das erfahren hatte. Ich verlangte selbstverständlich keine häufigen Besuche von ihm, da ich weiß, wieviel Mühe und Sorge er ohnedies schon hat, vous comprenez, cette affaire et la mort terrible de votre papa, plötzlich erfuhr ich, daß er wieder hier war, aber nicht bei mir, sondern bei Lise, vor nun schon sechs Tagen. Er war gekommen, hatte fünf Minuten gesessen und war wieder weggegangen! Ich erfuhr es erst volle drei Tage danach von Glafira und es frappierte mich nicht wenig! Ich ließ Lise sogleich rufen, aber die fing an zu lachen. ‚Er dachte‘, sagte sie, ‚Sie schliefen, und kam zu mir, um sich nach Ihrem Befinden zu erkundigen.‘ Natürlich war es auch so gewesen. Aber Lise, o Gott, was macht sie mir für Sorgen! Denken Sie sich, einmal, vor vier Tagen, gleich nachdem Sie zum letztenmal hiergewesen und wieder gegangen waren, da bekam sie in der Nacht einen Anfall, sie schrie und kreischte, ganz hysterisch! Warum bekomme ich denn niemals hysterische Anfälle? Dann am folgenden Tag wieder ein Anfall, und dann auch am dritten Tag — und gestern, gestern stellte sich dann dieser Affekt ein. Sie schrie mich auf einmal an: ‚Ich hasse Iwan Fjodorowitsch! Ich verlange, daß Sie ihn nicht mehr empfangen, daß Sie ihm das Haus verbieten!‘ Ich war vor Überraschung ganz starr und erwiderte ihr: ‚Mit welchem Recht könnte ich so einem vortrefflichen jungen Mann das Haus verbieten, noch dazu, wo er so viele Kenntnisse besitzt und solches Unglück hat?‘ Denn alle diese Geschichten, das ist doch ein Unglück und kein Glück, nicht wahr? Sie lachte laut über meine Worte, und zwar so kränkend, wissen Sie. Na, ich freute mich, ich dachte, ich hätte sie zum Lachen gebracht, und die Anfälle würden jetzt vorübergehen, zumal ich selbst beabsichtigte, Iwan Fjodorowitsch wegen seiner sonderbaren heimlichen Besuche das Haus zu verbieten und eine Erklärung von ihm zu verlangen. Aber heute morgen hat sich Lise nach dem Aufwachen über Julija geärgert und sie mit der Hand ins Gesicht geschlagen, denken Sie! Das ist ja ein monströses Verhalten, ich rede meine Dienstmädchen mit ‚Sie‘ an! Und eine Stunde danach hat sie Julija wieder umarmt und ihr die Füße geküßt. Mir ließ sie sagen, sie würde überhaupt nicht mehr zu mir kommen, jetzt nicht und in Zukunft nicht, und als ich mich selbst zu ihr hinschleppte, stürzte sie auf mich zu, küßte mich, weinte und drängte mich unter Küssen, ohne ein Wort zu sagen, geradezu hinaus, so daß ich absolut nichts erfahren habe. Jetzt, lieber Alexej Fjodorowitsch, ruhen alle meine Hoffnungen auf Ihnen, und das Schicksal meines ganzen Lebens liegt in Ihren Händen. Ich bitte Sie, zu Lise zu gehen, von ihr alles herauszubringen, wie nur Sie das verstehen, und dann wieder herzukommen und es mir, der Mutter, zu erzählen. Sie werden das begreifen, ich werde einfach sterben, wenn das so weitergeht, oder ich werde aus dem Haus laufen. Ich kann nicht mehr, ich habe Geduld, aber ich kann sie verlieren, und dann … Dann wird etwas Schreckliches geschehen. Ach, mein Gott, Pjotr Iljitsch, endlich!« rief Frau Chochlakowa, als sie den eintretenden Pjotr Iljitsch Perchotin erblickte, und Ihr ganzes Gesicht erstrahlte plötzlich.
»Sie kommen so spät! Nun, setzen Sie sich, reden Sie, entscheiden Sie über mein Schicksal! Nun, wie steht es mit diesem Rechtsanwalt? Wohin wollen Sie denn, Alexej Fjodorowitsch?«
»Ich will zu Lisa.«
»Ach ja! Also vergessen Sie nicht, worum ich Sie gebeten habe! Davon hängt mein Schicksal ab, mein Schicksal!«
»Gewiß, ich werde es nicht vergessen, wenn es irgend möglich ist … Ich habe mich so schon verspätet«, murmelte Aljoscha, sich schnell zurückziehend.
»Nein, kommen Sie bestimmt wieder zu mir! Bestimmt, nicht ‚wenn es möglich ist‘, sonst ist das mein Tod!« rief ihm Frau Chochlakowa nach. Aljoscha aber hatte das Zimmer bereits verlassen.