9. Der Teufel — Iwan Fjodorowitschs Alptraum
Ich bin kein Arzt; trotzdem fühle ich, daß der Augenblick gekommen ist, wo ich dem Leser etwas über die Krankheit Iwan Fjodorowitschs sagen muß. Ich will vorgreifend nur das eine sagen: Er befand sich jetzt, an diesem Abend, im Vorstadium eines Nervenfiebers, das seinen schon lange zerrütteten, aber der Krankheit hartnäckig widerstehenden Organismus schließlich endgültig überwältigte. Obwohl ich von Medizin nichts verstehe, wage ich doch die Vermutung auszusprechen, daß er es vielleicht tatsächlich durch eine gewaltige Anstrengung seines Willens fertiggebracht hatte, die Krankheit eine Zeitlang aufzuhalten, natürlich in der Hoffnung, ihrer ganz Herr zu werden. Er hatte gewußt, daß er krank war, aber er hatte sich heftig dagegen gesträubt, in dieser Zeit krank zu sein, in den bevorstehenden verhängnisvollen Augenblicken seines Lebens, in denen er persönlich erscheinen, seine Erklärungen kühn und entschieden abgeben und »sich vor sich selbst rechtfertigen« mußte. Er war übrigens einmal zu dem aus Moskau eingetroffenen Arzt gegangen, den Katerina Iwanowna einem bereits erwähnten überraschenden Einfall zufolge hatte kommen lassen. Nachdem dieser ihn angehört und untersucht hatte, war er zu der Ansicht gelangt, daß bei Iwan sogar eine Art Zerrüttung des Gehirns vorlag, und hatte sich gar nicht über ein gewisses Geständnis gewundert, das jener ihm, wenn auch widerstrebend, gemacht hatte! »Halluzinationen sind bei Ihrem Zustand sehr wohl möglich«, hatte der Arzt gesagt! »Man müßte sie allerdings erst genau konstatieren … Überhaupt ist jedoch unbedingt notwendig, daß Sie sich sofort einer ernsthaften Kur unterziehen, sonst könnte die Sache schlimm werden,« Aber Iwan Fjodorowitsch hatte diesen vernünftigen Rat nicht befolgt und verschmäht, sich ins Bett zu legen und sich auszukurieren! »Ich kann ja noch gehen, vorläufig habe ich noch Kraft. Wenn ich zusammenbreche, dann ist es etwas anderes; dann mag mich kurieren, wer da will!« hatte er gesagt und sich über alle Bedenken hinweggesetzt. Und so saß er jetzt da, selbst beinahe schon überzeugt, daß er im Fieber phantasierte, und starrte, wie bereits erwähnt, hartnäckig auf einen gewissen Gegenstand auf dem Sofa an der gegenüberliegenden Wand. Dort sah er jemand sitzen. Derjenige mußte auf eine unerklärliche Weise hereingekommen sein, denn er war noch nicht im Zimmer gewesen, als es Iwan Fjodorowitsch, von Smerdjakow zurückkehrend, betreten hatte. Es war ein Herr, oder besser gesagt, ein russischer Gentleman, nicht mehr jung, »qui frisait la cinquantaine«, wie die Franzosen sagen, mit nicht allzu viel Grau in dem dunklen, ziemlich langen und noch dichten Haar und dem keilförmig geschnittenen Bärtchen. Er trug ein braunes Jackett, das offensichtlich von dem besten Schneider gearbeitet, aber bereits abgetragen war; es mochte vor ungefähr drei Jahren angefertigt sein, war inzwischen jedoch völlig aus der Mode gekommen: Schon seit zwei Jahren trug von den wohlhabenden Herren der besseren Gesellschaft niemand mehr so ein Kleidungsstück. Die Wäsche und die lange, schalartige Krawatte waren wie bei allen eleganten Gentlemen; aber die Wäsche war, wenn man genauer hinsah, etwas unsauber und die breite Krawatte etwas abgewetzt. Die karierten Beinkleider des Gastes saßen vorzüglich, waren allerdings wieder zu hell und zu eng, wie man sie nicht mehr trug; ebenso entsprach auch der weiche weiße Hut, den er mitgebracht hatte, nicht der Jahreszeit. Kurz, der Herr machte den Eindruck einer ziemlich unbemittelten Anständigkeit. Er schien zu der Gattung der einstmals im Müßiggang dahinlebenden Gutsbesitzer zu gehören, wie sie zur Zeit der Leibeigenschaft herrlich und in Freuden lebten. So einer hat die vornehme Welt und die gute Gesellschaft kennengelernt, hat dort früher einmal Beziehungen gehabt und sie vielleicht sogar bis jetzt aufrechterhalten, ist aber infolge eines fidelen Lebens in der Jugend und infolge der Aufhebung der Leibeigenschaft allmählich verarmt und hat sich in einen vagabundierenden besseren Schmarotzer verwandelt, der bei seinen guten alten Bekannten gnädig aufgenommen wird wegen seines verträglichen Charakters und weil er immerhin doch ein anständiger Mensch ist, dem man sogar in Gesellschaft vornehmer Gäste einen Platz am Tisch anweisen kann, wenn auch nur einen bescheidenen Platz. Solche verträglichen Schmarotzer können meist gut erzählen und beim Kartenspiel ihren Mann stehen, lassen sich jedoch höchst ungern mit irgendwelchen Aufträgen behelligen. Sie sind gewöhnlich alleinstehende Leute, Junggesellen oder Witwer, haben vielleicht auch Kinder; aber ihre Kinder werden immer irgendwo in der Ferne erzogen, bei irgendwelchen Tanten, von denen der Gentleman in anständiger Gesellschaft kaum spricht, als ob er sich einer solchen Verwandtschaft ein bißchen schäme. Von seinen Kindern entwöhnt er sich allmählich ganz; er erhält von ihnen nur ab und zu zum Namenstag und zu Weihnachten Gratulationsbriefe, die er manchmal sogar beantwortet. Der Gesichtsausdruck des unerwarteten Gastes war nicht eigentlich gutmütig, doch verträglich und zeigte die Bereitwilligkeit zu einem entsprechend den Umständen liebenswürdigen Benehmen. Eine Uhr trug er nicht, wohl aber eine Schildpattlorgnette an schwarzem Band. Am Mittelfinger der rechten Hand prangte ein schwerer goldener Ring mit einem billigen Opal. Iwan Fjodorowitsch schwieg ärgerlich und wollte kein Gespräch beginnen. Der Gast wartete und saß wirklich da wie ein Schmarotzer, der soeben von oben, aus dem ihm angewiesenen Zimmer, zum Tee heruntergekommen ist, um dem Hausherrn Gesellschaft zu leisten, aber demütig schweigt, weil er sieht, daß der Hausherr mit seinen Gedanken beschäftigt ist und mit finsterem Gesicht etwas überlegt; doch ist er zu jedem liebenswürdigen Gespräch bereit, sobald nur der Hausherr ein solches beginnen will. Auf einmal schien sein Gesicht eine plötzliche Unruhe auszudrücken.
»Hör mal …«, sagte er zu Iwan Fjodorowitsch,«Entschuldige, ich möchte dich nur an etwas erinnern. Du warst mit der Absicht zu Smerdjakow gegangen, etwas über Katerina Iwanowna zu erfahren, bist aber weggegangen, ohne etwas über sie gehört zu haben. Du hast es gewiß vergessen …«
»Ach ja!« rief Iwan unwillkürlich, und sein Gesicht nahm einen finsteren, besorgten Ausdruck an! »Ja, ich habe es vergessen … Übrigens ist das jetzt ganz egal, ich habe alles auf morgen verschoben«, murmelte er vor sich hin! »Aber du brauchtest das nicht zu sagen«, wandte er sich gereizt an den Gast! »Es wäre mir sicherlich gleich selber eingefallen, weil ich mich ohnehin gerade darüber geärgert habe. Warum drängst du dich vor? Ich soll dir wohl glauben, daß du mich erst darauf gebracht hast und es mir nicht von selber eingefallen ist?«
»Bitte, glaube es nicht!« erwiderte der Gentleman freundlich lächelnd! »Was ist denn das für ein Glaube, zu dem man gezwungen wird? Außerdem helfen zum Glauben keine Beweise, und materielle am wenigsten. Thomas glaubte nicht deswegen, weil er den auferstandenen Christus gesehen hatte, sondern weil er schon vorher den Wunsch gehabt hatte zu glauben. Da sind zum Beispiel die Spiritisten, ich habe sie sehr gern … Stell dir vor, sie meinen, sie seien dem Glauben förderlich, weil ihnen die Teufel aus dem Jenseits die Hörner zeigen. ‚Das ist‘, sagen sie, ‚sozusagen schon ein materieller Beweis für das Vorhandensein jener Welt.‘ Das Jenseits und materielle Beweise, o weh! Und schließlich, selbst wenn die Existenz des Teufels bewiesen ist, so bleibt doch unbekannt, ob auch die Existenz Gottes bewiesen ist. Ich will in eine idealistische Gesellschaft eintreten und ihnen Opposition machen. ‚Ich bin Realist‘, werde ich sagen. ‚Und nicht Materialist, hehe!‘ «
»Hör mal!« sagte Iwan Fjodorowitsch und stand plötzlich vom Tisch auf, »ich bin jetzt wie im Fieber … Und ich habe auch wirklich Fieber … Schwatz du, was du willst, mir ist es gleich! Du wirst mich nicht in Harnisch bringen wie das vorige Mal. Ich schämte mich nur wegen einer Sache … Ich will im Zimmer auf und ab gehen … Ich sehe dich manchmal nicht und höre nicht einmal deine Stimme, wie das vorige Mal, doch ich errate immer, was du schwatzt — denn ich selbst bin es, der da spricht, und nicht du! Ich weiß nur nicht, habe ich das vorige Mal geschlafen, oder habe ich dich in wachem Zustand gesehen? Jetzt werde ich ein Handtuch mit kaltem Wasser befeuchten und mir auf den Kopf legen, vielleicht wirst du dann verschwinden.‘«
Iwan Fjodorowitsch ging in die Ecke, nahm ein Handtuch, tat, wie er gesagt hatte, und begann mit dem feuchten Handtuch auf dem Kopf im Zimmer auf und ab zu gehen.
»Es gefällt mir, daß wir uns beide so ohne weiteres gleich duzen«, hob der Gast an.
»Dummkopf!« versetzte Iwan lachend! »Wie werde ich denn Sie zu dir sagen! Ich bin jetzt vergnügt, nur in den Schläfen fühle ich einen Schmerz … Und am Scheitel … Bitte, philosophiere bloß nicht wie das vorige Mal! Wenn du dich nicht fortscheren kannst, plaudere über etwas Lustiges! Erzähl Klatschgeschichten! Du bist ein Schmarotzer, also erzähle auch Klatschgeschichten! So ein Aufdringling ist doch nicht loszuwerden! Aber ich fürchte mich nicht vor dir. Ich werde deiner Herr werden. Man wird mich nicht ins Irrenhaus bringen!«
»C'est charmant: ein Schmarotzer! Da bin ich ja gerade in meiner richtigen Gestalt! Was bin ich denn auf der Erde anderes als ein Schmarotzer? Apropos, ich höre dich an und wundere mich ein bißchen. Wahrhaftig, du fängst offenbar allmählich an, mich tatsächlich für ein wirkliches Wesen zu halten und nicht nur für ein Gebilde deiner Phantasie, wozu du mich das vorige Mal hartnäckig erklärt hast.«
»In keinem Augenblick halte ich dich für die reale Wahrheit!« rief Iwan zornig! »Du bist eine Lüge, du bist meine Krankheit, du bist ein Gespenst. Ich weiß nur nicht, wodurch ich dich vernichten könnte, und sehe, daß ich dich eine Weile werde dulden müssen. Du bist meine Halluzination. Du bist eine Verkörperung meines Ichs, doch nur einer Seite desselben … Eine Verkörperung meiner Gedanken und Gefühle, aber der bösesten und dümmsten. In dieser Hinsicht könntest du sogar interessant für mich sein, wenn ich nur Zeit hätte, mich mit dir abzugeben …«
»Erlaube, daß ich dich widerlege! Denk einmal an vorhin unter der Laterne, als du Aljoscha angeschrien hast: ‚Du hast es von ihm erfahren! Woher hast du erfahren, daß er zu mir kommt?‘ Damit hast du mich gemeint. Also ein kleines, ganz kleines Augenblickchen hast du doch geglaubt, daß ich tatsächlich existiere«, sagte der Gentleman mit einem sanften Lachen.
»Ja, das war eine physische Schwäche … Doch ich konnte nicht an dich glauben. Ich weiß nicht, habe ich das vorige Mal geschlafen oder bin ich umhergelaufen? Ich habe dich damals vielleicht nur im Traum gesehen und gar nicht in wachem Zustand …«
»Aber warum warst du vorhin so heftig zu ihm, ich meine, zu Aljoscha? Er ist ein liebenswürdiger Mensch!«
»Schweig von Aljoscha! Wie kannst du es wagen, du Knechtsseele!« erwiderte Iwan, lachte jedoch bereits wieder.
»Du schimpfst, lachst aber dabei, das ist ein gutes Zeichen. Du bist übrigens heute viel liebenswürdiger zu mir als das vorige Mal. Und ich verstehe warum: dieser große Entschluß …«
»Schweig von dem Entschluß!« schrie Iwan wütend.
»Ich verstehe, ich verstehe, c'est noble, c'est charmant! Du gehst morgen hin, um deinen Bruder zu verteidigen und dich selbst zu opfern … c'est chevaleresque ..,«
»Schweig, sonst werd' ich dir Fußtritte versetzen!«
»Darüber werde ich mich zum Teil freuen, dann habe ich meine Absicht nämlich erreicht. Wenn du mir Fußtritte versetzt, glaubst du an meine Realität, denn einer Vision versetzt man keine Fußtritte. Scherz beiseite — mir ist es ja egal: schimpf, wenn du Lust dazu hast! Aber besser wäre es doch, wenn du ein bißchen höflicher wärst, selbst mir gegenüber. ‚Dummkopf, Knechtsseele‘ — na, was sind das für Ausdrücke!«
»Wenn ich dich beschimpfe, beschimpfe ich mich selbst!« antwortete Iwan wieder lachend! »Du bist ich, ich selber, nur mit einer anderen Visage. Du sagst genau das, was auch ich schon denke, und bist nicht imstande, mir etwas Neues zu sagen!«
»Wenn ich mit dir in den Gedanken übereinstimme, macht mir das nur Ehre«, entgegnete der Besucher; dieses Kompliment brachte er in würdiger Form heraus.
»Aber du wählst immer meine häßlichen und vor allem meine dummen Gedanken. Du bist dumm und gemein. Du bist furchtbar dumm. Nein, ich kann dich nicht ertragen! Was soll ich machen, was soll ich machen!« rief Iwan zähneknirschend.
»Mein Freund, ich möchte trotzdem ein Gentleman sein und als solcher behandelt werden«, begann der Gast in einem Anfall von schmarotzerhaftem und von vornherein zur Nachgiebigkeit bereitem gutmütigem Ehrgefühl! »Ich bin arm, aber … Ich will nicht sagen, daß ich sehr ehrenhaft wäre, doch gilt es in der Gesellschaft gewöhnlich als feststehend, daß ich ein gefallener Engel bin. Weiß Gott, ich kann mir nicht vorstellen, wie ich jemals ein Engel sein konnte. Wenn ich es aber wirklich einmal gewesen sein konnte, so ist das schon so lange her, daß es keine Sünde ist, das vergessen zu haben. Jetzt lege ich nur Wert auf den Ruf eines anständigen Menschen und lebe, wie es sich gerade trifft, indem ich mich bemühe, den Leuten angenehm zu sein. Ich liebe die Menschen aufrichtig — oh, man hat mich in vieler Hinsicht verleumdet! Wenn ich zeitweilig zu euch übersiedle, dann fließt hier mein Leben wie etwas Wirkliches dahin, und das gefällt mir am allermeisten. Auch ich selbst leide ja, ebenso wie du, an einer Vorliebe für das Phantastische, und darum liebe ich euren irdischen Realismus. Hier bei euch ist alles klar abgegrenzt, hier gibt es Formeln und eine Mathematik, während bei uns alles Ähnlichkeit mit unbestimmten Gleichungen hat! Ich gehe hier umher und überlasse mich meinen Träumereien. Ich liebe es, mich meinen Träumereien zu überlassen. Außerdem werde ich auf der Erde abergläubisch — bitte, lach nicht: daß ich abergläubisch werde, gefällt mir ja gerade. Ich nehme hier alle eure Gewohnheiten an. Ich habe Geschmack daran gefunden, in die öffentliche Badestube zu gehen und mich in Gesellschaft von Kaufleuten und Popen mit heißem Dampf abzubrühen. Mein Traum ist, mich zu verkörpern in einer siebenpudschweren Kaufmannsfrau, aber endgültig, unwiderruflich, und alles zu glauben, woran sie glaubt. Mein Ideal ist, in die Kirche zu gehen und eine Kerze aufzustellen, reinen Herzens, wahrhaftig. Dann würden meine Leiden ein Ende haben. Auch habe ich bei euch Geschmack daran gefunden, allerlei Kuren auf mich zu nehmen. Im Frühling kamen die Pocken; ich ging hin und ließ mich im Armenhaus impfen — wenn du wüßtest, wie zufrieden ich an jenem Tag war: Ich spendete zehn Rubel für die slawischen Brüder! Aber du hörst ja gar nicht zu! Weißt du, du bist heute wohl nicht recht bei Laune?« Der Gentleman schwieg ein Weilchen! »Ich weiß, du bist gestern zu diesem Arzt gegangen … Nun, wie steht es mit deiner Gesundheit? Was hat dir der Arzt gesagt?«
»Dummkopf!« erwiderte Iwan schroff.
»Dafür bist du um so klüger. Du schimpfst schon wieder? Ich frage ja nicht aus Teilnahme, sondern bloß so. Meinetwegen, antworte nicht! Jetzt gibt es wieder viel Rheumatismus …«
»Dummkopf!« sagte Iwan noch einmal.
»Das ist wohl dein Lieblingswort? Ja, ich hatte im vorigen Jahr so einen Rheumatismus aufgefangen, daß ich noch heute daran denke.«
»Der Teufel hat Rheumatismus?«
»Warum denn nicht, wenn ich mich doch manchmal in jemand verkörpere. Wenn ich mich verkörpere, dann nehme ich auch die Folgen auf mich. Der Satan sum et nihil humanum a ine alienum puto.«
»Wie war das, wie? Der Satan sum et nihil humanum — das ist nicht dumm für den Teufel!«
»Freut mich, daß ich endlich einmal deinen Geschmack getroffen habe.«
»Aber das hast du ja nicht von mir übernommen«, sagte Iwan und blieb plötzlich wie überrascht stehen! »Das ist mir nie in den Kopf gekommen: Sonderbar …«
»C'est du nouveau, n'est-ce pas? Diesmal will ich ehrlich verfahren und es dir erklären. Paß auf. Im Schlaf — und besonders bei Alpdrücken, zum Beispiel infolge einer Magenverstimmung oder aus sonst einem Grund — träumt der Mensch manchmal so kunstvolle Dinge, so eine komplizierte, reale Wirklichkeit, Ereignisse oder sogar eine listig zusammengeknüpfte Welt von Ereignissen, mit unerwarteten Details, angefangen von euren höchsten Offenbarungen bis hinab zum letzten Knopf am Vorhemd, daß selbst ein Leo Tolstoi es nicht so genau schildern könnte und dabei träumen das manchmal Leute, die gar nicht mit großer Phantasie begabt, sondern ganz gewöhnliche Leute sind, Beamte, Feuilletonschreiber, Popen … Manches ist geradezu ein Rätsel. So hat mir sogar ein Minister gestanden, daß ihm seine besten Ideen immer im Schlaf kommen. Na, und so ist es auch jetzt. Ich bin zwar nur deine Halluzination, aber ich rede, wie das auch im Traum der Fall ist, originelle Dinge, die dir bisher nicht in den Kopf gekommen sind, so daß ich nicht mehr bloß deine Gedanken wiederhole. Und dabei bin ich doch nur dein Traumgebilde, weiter nichts.«
»Du lügst. Deine Absicht ist gerade, mir einzureden, daß du ein selbständiges Wesen bist und nicht mein Traumgebilde — und da behauptest du jetzt selber, du wärst das letztere.«
»Mein Freund, heute habe ich eine besondere Methode angewandt, ich werde dir das nachher erläutern … Warte mal, wo war ich stehengeblieben? Ja, wie ich mich damals erkältet hatte, aber nicht bei euch, sondern noch dort …«
»Wo dort? Sag mal, wirst du noch lange bei mir bleiben? Kannst du denn gar nicht verschwinden?« rief Iwan fast verzweifelt. Er hörte auf umherzugehen, setzte sich auf das Sofa, stützte wieder die Ellenbogen auf den Tisch und preßte den Kopf mit den Händen zusammen. Er riß sich das nasse Handtuch ab und warf es ärgerlich von sich; es hatte offenbar nicht geholfen.
»Dein Nervensystem ist zerrüttet«, bemerkte der Gentleman ungeniert und lässig, doch durchaus liebenswürdig! »Du ärgerst dich über mich, weil ich mich habe erkälten können, und dabei hat es sich doch auf die natürlichste Weise von der Welt zugetragen. Ich wollte mich damals eilig zu einer diplomatischen Soiree bei einer hochgestellten Petersburger Dame begeben, die den Ehrgeiz hatte, Frau Minister zu werden. Na, ich hatte schon Frack, weiße Halsbinde und Handschuhe an, befand mich aber noch Gott weiß wo und mußte, um zu euch auf die Erde zu kommen, noch den Weltenraum durchfliegen. Gewiß, das dauert nur einen Augenblick, obwohl auch ein Lichtstrahl von der Sonne ganze acht Minuten braucht — aber stell dir das vor: Ich in Frack und ausgeschnittener Weste! Geister erfrieren zwar nicht, doch da ich mich bereits verkörpert hatte … Kurz, ich war leichtsinnig und machte mich auf den Weg. Aber dort im Weltenraum, im Äther, in diesem ‚Wasser über der Feste‘, da ist so eine Kälte, was sage ich, Kälte! Kälte kann man das schon nicht mehr nennen. Kannst du dir das vorstellen — hundertfünfzig Grad unter Null! Es gibt da ein bekanntes Späßchen der Bauernmädchen: Bei dreißig Grad Kälte fordern sie einen Unerfahrenen auf, an einem Beil zu lecken, die Zunge friert sofort an, und der Dumme reißt sich dann unter starkem Bluten die Haut ab. So ist das schon, wenn nur dreißig Grad sind; bei hundertfünfzig Grad braucht man, glaube ich, nur einen Finger an das Beil zu legen, und er ist wie weggeblasen … Falls es dort ein Beil geben sollte …«
»Kann es denn dort ein Beil geben?« unterbrach ihn Iwan Fjodorowitsch zerstreut und angewidert.
Er sträubte sich mit aller Kraft dagegen, seinen Fiebertraum für Wahrheit zu halten und endgültig ins Delirium zu geraten.
»Ein Beil?« fragte der Gast erstaunt zurück.
»Na ja, was wird da aus dem Beil?« schrie Iwan Fjodorowitsch in wütendem, hartnäckigem Eigensinn.
»Was im Weltenraum aus einem Beil wird? Quelle idée! Wenn es weiter von der Erde weggerät, wird es, glaube ich, um die Erde herumfliegen, ohne selber zu wissen, weshalb, nach Art eines Trabanten. Die Astronomen werden Aufgang und Untergang des Beils berechnen, und Gatzuk wird es in seinen Taufkalender eintragen. Das ist alles.«
»Du bist dumm, du bist schrecklich dumm!« sagte Iwan störrisch! »Lüg bitte etwas klüger, sonst werde ich nicht mehr zuhören. Du willst mich durch Realismus überrumpeln und mir einreden, daß du existierst. Ich will aber nicht glauben, daß du existierst! Und ich werde es nicht glauben!«
»Aber ich lüge ja nicht, es ist alles Wahrheit. Leider ist die Wahrheit meist nicht gerade geistreich. Du erwartest, wie ich sehe, von mir etwas Großes und vielleicht auch etwas Schönes. Das ist sehr schade, denn ich gebe nur, was ich kann …«
»Philosophier nicht, du Esel!«
»Was ist daran schon Philosophie, wenn meine ganze rechte Seite gelähmt war, so daß ich ächzte und stöhnte? Ich war bei der ganzen medizinischen Fakultät. Diagnosen stellen können die Herren vortrefflich; alle Momente der Krankheit zählen sie einem an den Fingern auf — bloß zu heilen verstehen sie sie nicht. Da war auch so ein begeisterter junger Student, der sagte: ‚Wenn Sie nun auch sterben, so werden Sie doch wenigstens genau wissen, an welcher Krankheit Sie gestorben sind!‘ Und dann ihre Manier, die Kranken zu Spezialisten zu schicken! ‚Wir‘, sagen sie, ‚stellen nur die Diagnose. Dann müssen Sie zu dem und dem Spezialisten fahren, der wird Sie kurieren.‘ Der Arzt von früher, der alle Krankheiten kurierte, ist heutzutage total verschwunden, sage ich dir; jetzt gibt es nur Spezialisten, und die zeigen sich immer in den Zeitungen an. Wenn dir die Nase weh tut, schicken dich die Ärzte nach Paris. ‚Dort‘, sagen sie, ‚ist ein europäischer Spezialist, der Nasen kuriert.‘ Du kommst nach Paris, und er untersucht die Nase. ‚Ich kann Ihnen‘, sagt er, nur das rechte Nasenloch heilen, linke Nasenlöcher behandle ich nicht, das ist nicht meine Spezialität. Fahren Sie, sobald ich Ihr rechtes Nasenloch geheilt habe, nach Wien, dort wird ein besonderer Spezialist Ihr linkes Nasenloch heilen.‘ Was soll man da machen? Ich nahm meine Zuflucht zu volkstümlichen Mitteln! Ein deutscher Arzt riet mir, mich in der Badestube auf der Schwitzbank mit Honig und Salz einzureiben. Ich ging auch hin, bloß um noch einmal ins Bad zu kommen, und schmierte mich von oben bis unten voll, aber ohne irgendwelchen Nutzen. In meiner Verzweiflung schrieb ich an den Grafen Mattei, einen bekannten Homöopathen in Mailand; der schickte mir ein Buch und Tropfen — wollte Gott, daß sie mir genützt hätten. Und denke dir: Hoffsches Malzextrakt hat mir geholfen! Ich kaufte mir zufällig welches, trank anderthalb Flaschen aus und hätte tanzen können, der Schmerz war weg! Ich beschloß, unter allen Umständen eine Danksagung in den Zeitungen drucken zu lassen, denn das Gefühl der Dankbarkeit war in mir rege geworden. Doch stell dir vor, da passierte eine neue wunderliche Geschichte — bei keiner Redaktion nahm man meine Danksagung an! ‚Es wird sich zu reaktionär ausnehmen‘, sagten sie. ‚Kein Mensch glaubt mehr daran, le diable n'existe point. Lassen Sie doch die Danksagung anonym drucken.‘ Na, was ist das für eine Danksagung, wenn kein Name daruntersteht! Ich scherzte noch mit den Kontoristen. ‚An Gott zu glauben‘, sagte ich, ‚das ist in unserem Jahrhundert allerdings reaktionär. Aber ich bin ja der Teufel, an mich darf man glauben.‘ — ‚Wir verstehen‘, erwiderten sie. ‚Wer glaubt denn nicht an den Teufel? Aber es geht trotzdem nicht. Es könnte unserem Blatt schaden, weil es nicht seiner Richtung entspricht … Oder sollen wir es als Scherz bringen?‘ Na, als Scherz, dachte ich, wäre es nicht sonderlich geistreich. So wurde es eben nicht gedruckt. Und ob du es glaubst oder nicht — das ist mir ein dauernder Schmerz geblieben. Meine besten Gefühle, wie zum Beispiel die Dankbarkeit, sind mir einzig und allein durch meine soziale Stellung verboten.«
»Bist du schon wieder ins Philosophieren geraten?« knirschte Iwan haßerfüllt.
»Gott behüte mich davor! Doch es ist manchmal einfach unmöglich, sich nicht zu beklagen. Ich bin ein arg verleumdeter Mensch. Da sagst du mir alle Augenblicke, ich sei dumm. Daran sieht man, daß du noch jung bist. Mein Freund, der Verstand ist nicht das einzige, worauf es ankommt! Ich habe von Natur ein gutes, fröhliches Herz, ich habe sogar verschiedene kleine Lustspiele verfaßt. Du scheinst mich wohl für einen alt gewordenen Chlestakow zu halten, und doch ist mein Schicksal viel ernster. Durch irgendeine urewige Bestimmung, die ich nie habe begreifen können, ist es zu meinem Beruf gemacht worden, zu ‚verneinen‘, während ich doch von Herzen gut und zum Verneinen gänzlich unfähig bin. ‚Nein‘, heißt es, ‚geh hin und verneine! Ohne Verneinung ist keine Kritik möglich, und was wäre ein Journal ohne eine Abteilung Kritik? Ohne die Kritik gäbe es ja in der Welt nichts weiter als Hosiannarufe. Aber für das Leben reicht das bloße Hosiannarufen nicht aus; das Hosianna muß erst durch den Schmelzofen der anzweifelnden Prüfung hindurchgegangen sein‘ — na, und in dieser Art weiter. Ich mische mich übrigens in diese ganze Geschichte nicht ein; ich habe die Welt nicht geschaffen, ich trage nicht die Verantwortung dafür. Na, und da hat man irgendeinen Sündenbock herausgesucht, ihn gezwungen, in der ‚Abteilung Kritik‘ zu schreiben — und so hat man Leben erzielt. Wir durchschauen diese Komödie. Ich zum Beispiel verlange ganz einfach und direkt meine Vernichtung. ‚Nein‘, heißt es, ‚lebe weiter, denn ohne dich würde alles aufhören. Wenn alles auf der Erde vernünftig wäre, würde sich nichts ereignen. Ohne dich würde es keine Ereignisse geben, es ist aber notwendig, daß es Ereignisse gibt!‘ So unterdrücke ich denn meinen Verdruß und tue meinen Dienst, damit es Ereignisse gibt, und schaffe auf Befehl Unvernünftiges. Die Menschen halten diese ganze Komödie für etwas Ernstes, trotz ihres unbestreitbaren Verstandes. Darin besteht halt ihre Tragödie. Sie leiden nun zwar, doch dafür leben sie ja auch. Sie haben ein wirkliches Leben, nicht nur ein eingebildetes — denn gerade im Leiden besteht das Leben. Ohne Leiden wäre das Leben ohne jeden Genuß; alles würde sich in ein einziges endloses Gebet verwandeln — das wäre gewiß fromm, aber auch ein bißchen langweilig. Na und ich? Ich leide, trotzdem lebe ich nicht. Ich bin das x in einer unbestimmten Gleichung. Ich bin ein Phantom des Lebens, ein Phantom, das alle Enden und Anfänge verloren und schließlich selbst vergessen hat, wie es sich nennen soll. Du lachst … Nein, du lachst nicht, du ärgerst dich wieder. Du ärgerst dich in einem fort, du möchtest, daß alles nur Verstand ist. Doch ich wiederhole, ich würde dieses ganze überirdische Leben und alle Titel und Ehren dafür hingeben, wenn ich mich in einer siebenpudschweren Kaufmannsfrau verkörpern und dem lieben Gott Kerzen in der Kirche aufstellen könnte!«
»Also glaubst auch du nicht mehr an Gott?« sagte Iwan, gehässig lächelnd.
»Wie soll ich dir darauf antworten — falls du überhaupt im Ernst fragst …«
»Gibt es einen Gott oder nicht?« schrie Iwan wieder hartnäckig.
»Ah, also du fragst im Ernst? Mein Täubchen, bei Gott, ich weiß es nicht. Da habe ich ein großes Wort ausgesprochen.«
»Du weißt es nicht, und doch siehst du Gott? Nein, du bist kein selbständiges Wesen, du bist ich! Du bist ich und weiter nichts! Du bist ein Dreck, du bist meine Phantasie!«
»Wenn es dir recht ist, wollen wir sagen: Ich gehöre derselben philosophischen Richtung an wie du — das wäre eine gerechte Ausdrucksweise. Je pense, donc je suis, das weiß ich bestimmt. Alles übrige jedoch, was um mich ist, alle diese Welten, Gott und sogar der Satan selbst — von alledem ist für mich nicht bewiesen, ob es selbständig existiert oder nur eine Emanation von mir ist, eine folgerichtige Entwicklung meines urewig und persönlich existierenden Ichs … Ich breche lieber ab, weil du wahrscheinlich gleich aufspringen wirst, um mich zu prügeln.«
»Du solltest lieber irgendeine Anekdote erzählen!« sagte Iwan gequält.
»Eine Anekdote hätte ich schon, und sogar eine, die zu unserem Thema paßt, das heißt, es ist eigentlich keine Anekdote, sondern mehr so eine Legende. Du wirfst mir Unglauben vor, wenn du sagst: ‚Du siehst, und dennoch glaubst du nicht.‘ Aber, mein Freund, es geht nicht nur mir so, bei uns sind jetzt alle ganz konfus geworden, und das infolge eurer Wissenschaften. Solange es noch die Atome gab und die fünf Sinne und die vier Elemente, na, da hielt alles so leidlich zusammen. Atome gab es ja auch schon im Altertum. Doch als man bei uns erfuhr, daß ihr das ‚chemische Molekül‘ entdeckt hättet und das ‚Protoplasma‘ und Gott weiß was noch, da kniffen sie bei uns die Schwänze zwischen die Beine. Es begann ein wüstes Treiben, besonders Aberglaube, Klatscherei, Klatscherei gibt es ja auch bei uns, soviel wie bei euch, sogar noch ein bißchen mehr und dann noch Denunziation — bei uns gibt es ja auch eine Abteilung, wo gewisse Mitteilungen entgegengenommen werden … Also nun diese absonderliche Legende. Sie stammt noch aus unserem Mittelalter, nicht aus eurem Mittelalter, sondern aus unserem, und selbst bei uns glaubt an sie niemand außer den siebenpudschweren Kaufmannsfrauen, das heißt wieder nicht euren, sondern unseren Kaufmannsfrauen. Alles was es bei euch gibt, gibt es auch bei uns! Ich enthülle dir damit aus Freundschaft eines unserer Geheimnisse, obwohl das verboten ist. Diese Legende handelt vom Paradies. Es war einmal, wird erzählt, bei euch hier auf Erden so ein Denker und Philosoph, der ‚alles verneinte. Gesetze, Gewissen und Glauben‘, vor allem aber das zukünftige Leben. Er starb und dachte, nun ginge es geradewegs in Finsternis und Tod hinein, doch da stand vor ihm — das zukünftige Leben. Er war darüber sehr erstaunt und ungehalten. ‚Das widerspricht‘, sagte er, ‚meinen Überzeugungen.‘ Dafür wurde er nun auch verurteilt … Das heißt, entschuldige bitte, ich gebe ja nur wieder, was ich gehört habe, es ist eben nur eine Legende … Siehst du, er wurde also dazu verurteilt, in der Finsternis eine Quadrillion Kilometer zu gehen, bei uns rechnet man ja jetzt auch nach Kilometern; und wenn er mit dieser Quadrillion fertig war, sollten ihm die Pforten des Paradieses geöffnet und ihm sollte alles verziehen werden …«
»Was gibt es denn in eurer Welt sonst noch für Qualen außer dieser Quadrillion?« unterbrach ihn Iwan mit einer seltsamen Lebhaftigkeit.
»Was es sonst für Qualen gibt? Ach, frag lieber nicht danach! Früher war es damit noch einigermaßen leidlich bestellt, aber jetzt sind immer mehr die seelischen Qualen aufgekommen, die ‚Gewissensbisse‘ und all dieser Quatsch. Das ist auch so eine Neuerung von euch, eine Folge der ‚Milderung eurer Sitten‘. Na, und wer hat dabei profitiert? Profitiert haben nur die Gewissenlosen, denn was hat so einer für Gewissensbisse, wenn er überhaupt kein Gewissen hat? Gelitten haben dafür die anständigen Leute, bei denen sich noch Gewissen und Ehrgefühl erhalten haben … Ja, so ist das mit Reformen auf unvorbereiteter Grundlage, zumal wenn sie eine Kopie fremder Einrichtungen sind: Es kommt weiter nichts als Schaden dabei heraus! Wir hätten lieber das gute alte Höllenfeuer behalten sollen … Nun, dieser zu einer Quadrillion Kilometer Verurteilte stand ein Weilchen da, blickte vor sich hin und legte sich dann quer über den Weg. ‚Ich werde nicht gehen‘, sagte er; ‚aus Prinzip werde ich nicht gehen!‘ Nimm die Seele eines gebildeten russischen Atheisten und mische sie mit der Seele des Propheten Jonas, der drei Tage und drei Nächte im Bauch des Walfisches schmollte — da hast du den Charakter dieses Denkers, der sich quer über den Weg gelegt hatte.«
»Worauf hatte er sich denn da gelegt?«
»Na, es wird schon etwas dagewesen sein, worauf er liegen konnte. Machst du dich auch nicht darüber lustig?«
»Ein famoser Kerl!« rief Iwan, noch immer mit derselben seltsamen Lebhaftigkeit. Er hörte jetzt mit überraschendem Interesse zu! »Nun weiter! Liegt er noch da?«
»Das ist es ja eben, daß er nicht mehr daliegt. Er hat fast tausend Jahre dagelegen, dann stand er auf und fing an zu gehen.«
»So ein Esel!« rief Iwan. Er lachte nervös, doch es machte den Eindruck, als dachte er angestrengt über etwas nach! »Ist es nicht ganz egal, ob er ewig daliegt oder eine Quadrillion Werst geht? Daran hat er ja wohl eine Billion Jahre zu gehen?«
»Sogar viel mehr. Ich habe keinen Bleistift und kein Papier zur Hand, sonst ließe sich das ausrechnen. Aber er ist ja schon längst mit seiner Wanderung fertig, und eben da beginnt die Anekdote.«
»Was? Mit seiner Wanderung fertig? Wo hat er denn die Billion Jahre hergenommen?«
»Du denkst immer nur an unsere heutige Erde! Die heutige Erde hat sich ja selbst vielleicht billionenmal wiederholt; sie wurde altersschwach, vereiste, barst, fiel auseinander, zersetzte sich in ihre Elementarbestandteile, dann war sie wieder Wasser unter und über der Feste, dann wieder ein Komet, dann eine Sonne, dann wurde sie aus einer Sonne wieder eine Erde — diese Entwicklung hat sich vielleicht schon unzählige Male wiederholt, und immer auf dieselbe Weise, bis aufs Tüpfelchen. Eine geradezu unanständig langweilige Geschichte …«
»Nun, und was ist dann geschehen, als er mit seiner Wanderung fertig war?«
»Sobald man ihm die Pforten des Paradieses geöffnet hatte und er eingetreten und noch nicht zwei Sekunden drin war, und zwar nach der Uhr, obgleich sich seine Uhr meiner Ansicht nach unterwegs längst in ihre Bestandteile hätte auflösen müssen, kurz, er war also noch nicht zwei Sekunden drin, da rief er, für diese zwei Sekunden könne man nicht nur eine Quadrillion, sondern eine Quadrillion Quadrillionen Kilometer gehen, ja selbst wenn diese Zahl noch zur quadrillionsten Potenz erhoben würde! Kurz, er sang Hosianna und übertrieb das dermaßen, daß von den dort Anwesenden einige mit etwas vornehmerer Denkweise ihm anfangs nicht einmal die Hand geben mochten: Er war allzu eifrig zu den Konservativen übergegangen. Ein echt russischer Charakter! Ich wiederhole, es ist eine Legende; ich gebe sie so wieder, wie ich sie gehört habe. Du siehst also, was für Begriffe dort bei uns über diese Dinge gang und gäbe sind.«
»Jetzt habe ich dich ertappt!« rief Iwan mit einer fast kindlichen Freude, als hätte er sich nun mit Sicherheit an etwas erinnert. Diese Anekdote über die Quadrillion Werst habe ich selbst erfunden! Ich war damals siebzehn Jahre alt und besuchte das Gymnasium. Ich habe diese Anekdote damals erfunden und einem Mitschüler namens Korowkin erzählt; es war in Moskau. Diese Anekdote ist so charakteristisch, daß ich sie von nirgendwoher nehmen konnte. Ich hatte sie beinahe vergessen, doch jetzt ist sie mir unwillkürlich wieder ins Gedächtnis gekommen — mir selbst, hörst du, nicht du hast sie mir erzählt! Wie einem eben tausend Dinge manchmal unwillkürlich ins Gedächtnis kommen, sogar wenn man zum Schafott geführt wird … Im Traum ist sie mir eingefallen. Und du, du bist dieser Traum! Du bist ein Traum und existierst nicht!«
»Nach der Heftigkeit zu urteilen, mit der du mich verneinst«, erwiderte der Gentleman lachend, »bin ich überzeugt, daß du an mich glaubst.«
»Durchaus nicht! Nicht wie eins zu hundert glaube ich!«
»Aber wie eins zu tausend glaubst du. Die homöopathischen Bruchteile sind vielleicht gerade besonders kräftig. Gestehe, daß du glaubst, na, dann eben wie eins zu zehntausend …«
»Nicht eine Sekunde!« rief Iwan hitzig! »Übrigens würde ich ganz gern an dich glauben!« fügte er auf einmal seltsam hinzu.
»Aha! Das ist ja doch ein Geständnis! Aber ich bin gut, ich werde dir auch hier behilflich sein. Weißt du was? Ich habe dich ertappt, nicht du mich! Ich habe dir absichtlich deine eigene Anekdote erzählt, die du schon vergessen hattest, damit du den Glauben an mich endgültig verlierst.«
»Du lügst! Der Zweck deines Erscheinens ist, mich davon zu überzeugen, daß du existierst.«
»Ganz richtig. Aber das Schwanken, die Unruhe, der Kampf zwischen Glauben und Unglauben, das ist ja manchmal für einen gewissenhaften Menschen wie dich so eine Qual, daß er sich am liebsten aufhängen möchte. Gerade weil ich weiß, daß du ein Tröpfchen Glauben an mich besitzt, goß ich dir ein Quantum Unglauben hinzu, indem ich dir diese Anekdote erzählte. Ich führe dich zwischen Glauben und Unglauben unaufhörlich hin und her und habe dabei meine bestimmte Absicht. Das ist meine neue Methode. Sobald du allen Glauben an mich verloren hast, wirst du mir sofort ins Gesicht versichern, daß ich kein Traum bin, sondern wirklich existiere — ich kenne dich doch schon! Dann werde ich mein Ziel erreichen, und mein Ziel ist ein edles. Ich werde in dich nur ein winzig kleines Samenkorn des Glaubens legen; daraus wird eine Eiche wachsen, und zwar eine Eiche von solcher Stärke, daß du wünschen wirst, dich zu ‚den frommen Einsiedlern und den makellosen Frauen‘ zu gesellen; denn im geheimen trägst du danach ein großes Verlangen. Du wirst Heuschrecken essen und in die Wüste ziehen, um deine Seele zu retten!«
»Also du Taugenichts bist auf die Rettung meiner Seele bedacht?«
»Man muß doch wenigstens mal ein gutes Werk tun. Du ärgerst dich, wie ich sehe?«
»Witzbold! Hast du denn schon einmal solche Leute in Versuchung geführt, die Heuschrecken essen und siebzehn Jahre lang in einer öden Wüste beten, so daß richtiges Moos auf ihnen wächst?«
»Mein Täubchen, das ist ja meine Hauptbeschäftigung. Die ganze Welt und alle Welten vergißt man und heftet sich an einen einzigen solchen Menschen, denn das ist ein höchst wertvoller Brillant! Eine einzige solche Seele ist manchmal so viel wert wie ein ganzes Sternbild — wir haben ja unsere eigene Arithmetik. Ein solcher Sieg ist wertvoll! Und manche von ihnen stehen dir weiß Gott an Bildung nicht nach, wenn du es auch vielleicht nicht glaubst. Sie können solche Abgründe des Glaubens und des Unglaubens in einem einzigen Augenblick im Geist schauen, daß manchmal wirklich nur ein Haarbreit zu fehlen scheint, und der Mensch stürzt ‚mit den Beinen nach oben‘ hinab, wie sich der Schauspieler Gorbunow ausdrückt.«
»Na, und der Erfolg? Bist du mit langer Nase abgezogen?«
»Mein Freund«, antwortete der Gast bedachtsam, »mit langer Nase abziehen ist manchmal besser als ganz ohne Nase, wie erst kürzlich ein kranker Marquis (gewiß hatte ihn ein Spezialist behandelt) zu seinem Beichtvater, einem Jesuiten, sagte. Ich war zugegen — es war geradezu entzückend. ‚Geben Sie mir meine Nase wieder!‘ sagte er und schlug sich an die Brust. ‚Mein Sohn‘, erwiderte der schlaue Pater, ‚alles vollzieht sich nach den unerforschlichen Ratschlüssen der Vorsehung, und ein großes Unglück zieht bisweilen einen außerordentlichen, wenn auch unsichtbaren Vorteil nach sich. Wenn ein strenges Schicksal Sie der Nase beraubt hat, so besteht Ihr Vorteil darin, daß nun niemand in Ihrem ganzen Leben mehr zu Ihnen sagen kann, Sie seien mit langer Nase abgezogen.‘ — ‚Frommer Vater, das ist kein Trost!‘ rief der andere verzweifelt. Ich würde im Gegenteil voll Entzücken mein Leben lang täglich mit langer Nase abziehen, wenn sie bei mir nur am richtigen Fleck säße.‘ — ‚Mein Sohn‘, antwortete der Pater seufzend, ‚alle Güter zugleich darf man nicht verlangen, das wäre Aufmucken wider die Vorsehung, die Sie auch hierbei nicht vergessen hat! Denn wenn Sie wie soeben ausrufen, Sie seien mit Freuden bereit, Ihr Leben lang mit langer Nase abzuziehen, so ist auch dieser Ihr Wunsch schon indirekt erfüllt: indem Sie Ihre Nase verloren, sind Sie nämlich gewissermaßen schon mit langer Nase abgezogen …‘ «
»Pfui, wie dumm!« rief Iwan.
»Mein Freund, ich wollte dich nur zum Lachen bringen, aber ich schwöre, das ist echte jesuitische Kasuistik! Und ich schwöre dir weiter, alles dies hat sich buchstäblich so begeben, wie ich es dir erzählt habe. Dieser Fall ist erst kürzlich passiert und hat mir viel Mühe und Arbeit gemacht. Der unglückliche junge Mensch kehrte nach Hause zurück und erschoß sich noch in derselben Nacht; ich blieb bis zum letzten Augenblick ununterbrochen bei ihm … Diese Beichtstühle der Jesuiten bilden aber tatsächlich meine liebste Zerstreuung in traurigen Momenten meines Lebens. Ich will dir noch einen Fall erzählen, ganz neuen Datums. Kommt da zu einem alten Pater eine Blondine aus der Normandie, um die zwanzig. Ein schönes Gesicht, ein Prachtkörper, ein nettes Wesen — man leckt sich unwillkürlich die Lippen. Sie kniet nieder und flüstert durch die Öffnung dem Pater ihre Sünde zu. ‚Aber, meine Tochter, sind Sie wirklich schon wieder gefallen?‘ ruft der Pater. ‚O sancta Maria, was höre ich, nun mit einem anderen! Wie lange soll denn das noch dauern, schämen Sie sich gar nicht?‘ — ‚Ah, mon père‘, antwortet die Sünderin, in Reuetränen zerfließend, ‚ca lui fait tant de plaisir et à moi si peu de peine!‘ Na, stelle dir mal diese Antwort vor! Als ich das hörte, nahm ich einfach Abstand von ihr. Das war ein echter Schrei der Natur, das war, könnte man sagen, besser als die Unschuld selbst! Ich erließ ihr auf der Stelle die Sünde und wollte schon gehen, sah mich jedoch genötigt, wieder umzukehren. Ich hörte, wie der Pater durch die Öffnung hindurch sie auf den Abend zu einem Rendezvous bestellte! Ein alter Mann, ein Kieselstein — und war in einem Augenblick gefallen: Das Recht der Natur hatte gesiegt! Nun? Rümpfst du wieder die Nase, ärgerst du dich wieder? Ich weiß schon nicht mehr, wie ich es dir recht machen kann …«
»Laß mich in Ruhe! Du hämmerst in meinem Gehirn wie ein schwerer Traum, der sich nicht abschütteln läßt«, stöhnte Iwan, gequält von dem Bewußtsein, daß er seiner Vision gegenüber machtlos war! »Du langweilst und quälst mich, du bist mir unerträglich! Ich würde viel darum geben, wenn ich dich wegjagen könnte!«
»Ich wiederhole, mäßige deine Ansprüche! Verlange von mir nicht ‚alles Große und Schöne‘, und du wirst sehen, wie freundschaftlich wir uns miteinander einleben werden«, sagte der Besucher nachdrücklich! »In Wahrheit ärgerst du dich nur deshalb, weil ich nicht in rotem Licht, unter Donner und Blitz und mit versengten Flügeln erschienen bin, sondern in so bescheidener Gestalt. Du fühlst dich gekränkt, erstens in deinen ästhetischen Empfindungen und zweitens in deinem Stolz. ‚Wie konnte nur zu so einem bedeutenden Mann so ein gemeiner Teufel kommen?‘ denkst du. Nein, auch du hast diese romantische Ader, über die schon Belinski so gespottet hat. Was ist da zu machen, junger Mann? Vorhin, als ich mich auf den Weg zu dir machte, eigentlich hatte ich die Absicht, mich zum Scherz in der Gestalt eines Wirklichen Staatsrates a. D. zu präsentieren, der im Kaukasus angestellt war und den Stern des persischen Löwen- und Sonnenordens auf dem Frack hat, aber ich fürchtete mich geradezu, es zu tun — du hättest mich dafür höchstens verprügelt, daß ich mich erdreistete, nur den Löwen- und Sonnenorden an den Frack zu hängen und nicht wenigstens den Polarstern oder den Sirius … Und immerzu sagst du, ich sei dumm. Doch ich erhebe ja auch gar keinen Anspruch darauf, dir an Verstand gleichzukommen. Als Mephistopheles zu Faust kam, da erklärte er von sich, er wolle das Böse, schaffe aber nur das Gute. Nun, mag das sein, wie es ihm beliebt — bei mir ist das genaue Gegenteil der Fall. Ich bin vielleicht der einzige Mensch in der ganzen Natur, der die Wahrheit liebt und aufrichtig das Gute wünscht. Ich war zugegen, als das am Kreuz gestorbene Wort zum Himmel emporstieg und die Seele des zu seiner Rechten gekreuzigten Schächers an seiner Brust hielt; ich hörte das freudige Jauchzen der Hosianna singenden Cherubim und den donnernden Jubelruf der Seraphim, von dem der Himmel und das ganze Weltgebäude erzitterte. Und ich schwöre bei allem, was heilig ist, ich wollte schon in den Chor einstimmen und mit allen Hosianna rufen. Schon stieg der Ruf aus meiner Brust und wollte sich von meinen Lippen losreißen … Ich bin ja, wie du weißt, sehr empfindsam und für künstlerische Dinge sehr empfänglich. Doch die gesunde Vernunft, diese unglücklichste Eigenschaft meines Wesens, hielt mich auch damals in den gebührenden Schranken, und ich ließ den Augenblick vorübergehen! ‚Denn was wäre die Folge meines Hosianna?‘ dachte ich in diesem Moment. Sofort würde alles in der Welt erlöschen, und keine Ereignisse würden mehr eintreten … Und so sah ich mich einzig und allein wegen meiner Amtspflicht und meiner sozialen Stellung genötigt, die gute Regung des Augenblicks in mir zu unterdrücken und bei den Gemeinheiten zu bleiben. Die Ehre, Gutes zu tun, nimmt ein anderer total für sich in Anspruch, und als mein Anteil bleiben nur die Gemeinheiten. Aber ich beneide ihn nicht um die Ehre, auf anderer Leute Kosten zu leben, ich bin nicht ehrgeizig. Warum bin von allen Wesen auf der Welt nur ich allein dazu verurteilt, von allen anständigen Leuten verflucht und sogar mit Fußtritten bedacht zu werden? Denn wenn ich mich verkörpere, muß ich manchmal auch solche Konsequenzen mit in Kauf nehmen. Ich weiß wohl, daß ein Geheimnis dahintersteckt, doch dieses Geheimnis will man mir um keinen Preis enthüllen; ich könnte nämlich, wenn ich gemerkt hätte, um was es sich handelt, womöglich ‚Hosianna!‘ schreien, und dann würde sogleich das unentbehrliche Minus verschwinden und in der ganzen Welt die Vernunft anheben, damit hätte jedoch selbstverständlich alles ein Ende, sogar die Zeitungen und Journale, denn wer würde sie dann noch abonnieren? Ich weiß, am Ende werde auch ich mich aussöhnen und meine Quadrillion Kilometer ablaufen und das Geheimnis erfahren. Aber bis es dahin kommt, schmolle ich und erfülle, meinen Ärger verbeißend, meine Bestimmung: Tausende zugrunde zu richten, damit ein einziger gerettet wird. Wieviel Seelen mußten zum Beispiel zugrunde gerichtet und wieviel ehrenhafte Reputationen verdorben werden, um nur den einen gerechten Hiob zustande zu bringen, mit dem ich seinerzeit so schändlich angeführt wurde! Nein, solange mir das Geheimnis nicht enthüllt ist, existieren für mich zwei Wahrheiten: erstens ihre dort, die mir vorläufig ganz unbekannt ist, und zweitens meine. Und es steht noch dahin, welche die reinere Wahrheit sein wird … Du bist eingeschlafen?«
»Gott bewahre!« stöhnte Iwan wütend! »Alles, was es in meinem Wesen Dummes gibt, längst Abgetanes, in meinem Verstand Wiedergekäutes, wie Aas Weggeworfenes — alles das setzt du mir wieder vor als etwas ganz Neues!«
»Also habe ich es wieder nicht getroffen! Und ich hatte schon gehofft, durch die belletristische Darstellungsweise dein Interesse zu erregen. Dieses Hosianna im Himmel kam doch wirklich nicht übel heraus? Und dann eben dieser sarkastische Ton à la Heine, nicht wahr?«
»Nein, ich bin nie so eine Knechtsseele gewesen. Wie hat meine Seele nur eine Bedientenseele wie dich hervorbringen können?«
»Mein Freund, ich kenne einen ganz reizenden, allerliebsten jungen russischen Herrn, einen jungen Denker und großen Liebhaber von Literatur und geschmackvollen Dingen, den Verfasser eines vielversprechenden Werkes mit der Überschrift: ‚Der Großinquisitor …‘ Allein den hatte ich dabei ins Auge gefaßt!«
»Ich verbiete dir, von dem ‚Großinquisitor‘ zu reden!« schrie Iwan, vor Scham rot geworden.
»Na, und die ‚Geologische Umwälzung‘? Erinnerst du dich? Das ist doch wirklich eine hübsche kleine Dichtung!«
»Schweig, oder ich schlag dich tot!«
»Nun willst du mich gar totschlagen? Nein, entschuldige, ich möchte mich doch aussprechen. Deswegen bin ich ja hergekommen, um dieses Vergnügen auszukosten. Oh, ich liebe die Schwärmereien meiner feurigen, vor Lebensdurst zitternden jungen Freunde! Dort gibt es neue Menschen, sagtest du dir noch im vorigen Frühjahr, als du im Begriff warst, hierherzufahren. Sie beabsichtigen, alles zu zerstören und wieder mit der Menschenfresserei zu beginnen. Die Dummköpfe! Warum haben sie mich nicht um Rat gefragt? Meiner Ansicht nach ist gar kein großes Zerstörungswerk erforderlich: Man braucht bei der Menschheit nur die Gottesidee zu zerstören — das ist der Punkt, an dem man das Werk in Angriff nehmen muß! Damit muß man anfangen — o die armen Blinden, die nichts begreifen! Wenn sich die Menschheit erst Mann für Mann von Gott losgesagt hat, und ich glaube, daß diese Periode ebenso wie die geologischen Perioden eintreten wird, dann wird die ganze frühere Weltanschauung und die ganze frühere Moral von selbst, ohne Menschenfresserei, zusammenstürzen, und etwas ganz Neues wird auf den Plan treten. Die Menschen werden sich zusammentun, um aus dem Leben alles herauszuholen, was das Leben geben kann, aber ausschließlich, um sich auf dieser Welt zu freuen und glücklich zu sein. Der Mensch wird höher und größer werden durch den Geist eines götterhaften, titanischen Stolzes, und der Mensch-Gott wird in Erscheinung treten. Indem der Mensch durch seinen Willen und die Wissenschaft stündlich und in unbegrenztem Maße die Natur besiegt, wird er eben dadurch stündlich einen so hohen Genuß empfinden, daß dieser ihm alle früheren Hoffnungen auf himmlische Genüsse ersetzen wird. Jeder wird erkennen, daß er ganz und gar sterblich ist, ohne Auferstehung, und wird den Tod stolz und ruhig hinnehmen wie ein Gott. Er wird aus Stolz einsehen, daß er keinen Grund hat zu murren, weil das Leben so schnell vergeht, und er wird seinen Bruder nun lieben, ohne Lohn dafür zu erwarten. Er wird seine Liebe auf das kurze Leben beschränken müssen; doch schon allein durch das Bewußtsein, daß sie nur so kurze Zeit dauern kann, wird sie um so viel feuriger sein, als sie früher durch die Hoffnung auf eine ewig währende Fortsetzung im Jenseits abgeschwächt wurde … Na und so weiter und so fort in dieser Art. Allerliebst!«
Iwan saß da, hielt sich mit den Händen die Ohren zu und blickte zu Boden; er begann am ganzen Körper zu zittern. Die Stimme fuhr fort:
»Die Frage ist jetzt die: Hielt mein junger Denker es für möglich, daß eine solche Periode jemals eintritt oder nicht? Wenn sie eintritt, ist alles entschieden, und die Menschheit wird sich endgültig danach einrichten. Da dies jedoch angesichts der eingewurzelten menschlichen Dummheit vielleicht in tausend Jahren noch nicht geschehen wird, darf sich jeder, der jetzt schon die Wahrheit erkennt, auf den neuen Grundlagen ganz nach seinem Belieben einrichten. In diesem Sinn ist ihm ‚alles erlaubt‘. Ja noch mehr: Selbst wenn diese Periode niemals eintreten sollte, wird der neue Mensch, da es Gott und Unsterblichkeit ja nicht gibt, trotzdem ein Mensch-Gott werden dürfen, selbst wenn dies nur ein einziger in der ganzen Welt erreichen sollte — und der wird dann bei seinem neuen Rang jede frühere sittliche Schranke des früheren Knecht-Menschen mit leichtem Herzen überspringen, falls das nötig wird. Für einen Gott existiert kein Gesetz! Wo sich ein Gott hinstellt, da gehört der Platz ihm! Wo ich mich hinstelle, da wird der erste Platz sein … ‚Alles ist erlaubt‘, und damit basta! Das ist ja alles sehr hübsch, doch wenn der junge Denker nun einmal betrügen wollte, wozu brauchte er da noch die Sanktion der Wahrheit, sollte man meinen? Aber so ist unser moderner Russe nun einmal: Ohne Sanktion entschließt er sich nicht einmal zum Betrügen, so sehr hat er die Wahrheit liebgewonnen …«
Während der Gast sprach, hatte er offenbar seine Freude an der eigenen Redekunst; er hob die Stimme immer mehr und musterte Iwan spöttisch, aber er konnte nicht zu Ende sprechen: Iwan ergriff plötzlich ein auf dem Tisch stehendes Glas und warf es mit starkem Schwung nach dem Redner.
»Ah, mais c'est bête enfin!« rief der Besucher, sprang vom Sofa auf und klopfte sich mit den Fingern die angespritzten Teetropfen ab! »Luthers Tintenfaß ist dir eingefallen. Hält der Mensch mich für einen Traum und wirft nach dem Traum mit Gläsern! Das ist Weibermanier! Ich hatte mir schon gedacht, daß du nur so tatest, als hieltest du dir die Ohren zu. Du hast aber doch gehört …«
Auf einmal ließ sich von draußen ein energisches, anhaltendes Klopfen gegen den Fensterrahmen vernehmen. Iwan Fjodorowitsch fuhr auf.
»Weißt du, öffne lieber!« rief der Gast! »Das ist dein Bruder Aljoscha mit einer sehr interessanten, unerwarteten Nachricht, dafür bürge ich dir!«
»Schweig, du Betrüger! Ich habe früher als du gewußt, daß es Aljoscha ist. Ich habe sein Kommen geahnt; und natürlich kommt er nicht ohne Grund; natürlich bringt er eine Nachricht!« rief Iwan außer sich.
»So mach ihm doch auf! Draußen tobt ein Schneesturm, und er ist dein Bruder. Monsieur sait-il le temps qu'il fait? C'est à ne pas mettre un chien dehors ..! »
Das Klopfen dauerte an. Iwan wollte zum Fenster stürzen, aber ihm war, als seien ihm Beine und Arme gefesselt. Er strengte sich aus aller Kraft an, um seine Fesseln zu zerreißen — vergebens. Das Klopfen am Fenster wurde immer stärker und lauter. Endlich zerrissen plötzlich die Fesseln, und Iwan Fjodorowitsch sprang vom Sofa auf. Er blickte verstört um sich. Die beiden Lichter waren fast völlig heruntergebrannt, das Glas, mit dem er eben nach seinem Gast geworfen hatte, stand vor ihm auf dem Tisch, und auf dem Sofa gegenüber saß niemand! Das Klopfen am Fenster dauerte zwar beharrlich fort, doch durchaus nicht so laut, wie es ihm soeben im Traum vorgekommen war, sondern vielmehr sehr maßvoll.
»Das war kein Traum! Nein, ich schwöre es, das war kein Traum — das war Wirklichkeit!« rief Iwan Fjodorowitsch, stürzte zum Fenster und öffnete die Luftklappe! »Aljoscha? Ich habe dir doch verboten herzukommen!« schrie er seinen Bruder zornig an! »Sag in zwei Worten, was willst du? In zwei Worten, hörst du?«
»Vor einer Stunde hat sich Smerdjakow erhängt«, antwortete Aljoscha von draußen.
»Komm an die Haustür, ich mache dir sofort auf!« sagte Iwan und ging, Aljoscha hereinzulassen.