6. Erster Besuch bei Smerdjakow
Eigentlich war es seit seiner Rückkehr aus Moskau schon das drittemal, daß Iwan Fjodorowitsch zu Smerdjakow ging, um mit ihm zu sprechen. Zum erstenmal nach der Katastrophe hatte er ihn gleich am Tag seiner Ankunft gesehen und gesprochen; dann hatte er ihn noch einmal, zwei Wochen später, besucht. Doch nach diesem zweiten Treffen stellte er seine Besuche bei Smerdjakow ein; er hatte ihn jetzt schon über einen Monat nicht mehr gesehen und fast nichts von ihm gehört. Aus Moskau war Iwan Fjodorowitsch damals erst am fünften Tag nach dem Tod seines Vaters zurückgekehrt, so daß er dessen Sarg nicht mehr vorfand. Die Beerdigung hatte einen Tag vor seiner Ankunft stattgefunden. Iwan Fjodorowitschs Verspätung entstand dadurch, daß Aljoscha seine Moskauer Adresse nicht genau wußte und erst Katerina Iwanowna befragen mußte, um ein Telegramm absenden zu können, diese nun, ebenfalls in Unkenntnis der richtigen Adresse, telegrafierte an ihre Schwester und ihre Tante, da sie annahm, Iwan Fjodorowitsch hätte ihnen gleich nach seiner Ankunft in Moskau einen Besuch gemacht. Aber er war erst am vierten Tag nach seiner Ankunft zu ihnen gekommen und dann, nachdem er das Telegramm gelesen hatte, natürlich sogleich in unsere Stadt geeilt. Hier war er zuerst mit Aljoscha zusammengetroffen. Nach dem Gespräch mit ihm hatte er sich sehr darüber gewundert, daß Aljoscha nicht einmal einen Verdacht auf Mitja werfen wollte, sondern Smerdjakow als den Mörder bezeichnete, was im schroffen Gegensatz zur Meinung aller anderen Leute in unserer Stadt stand. Nachdem er dann vom Bezirkshauptmann und vom Staatsanwalt nähere Einzelheiten über die Beschuldigung und die Verhaftung gehört hatte, hatte er über Aljoscha noch mehr gestaunt und seine Ansicht nur auf Brudergefühl und Mitleid für Mitja zurückgeführt, denn daß Aljoscha diesen sehr liebte, wußte Iwan. Bei dieser Gelegenheit gleich ein paar Worte über Iwans Gefühle für seinen Bruder Dmitri Fjodorowitsch. Er liebte ihn ganz und gar nicht und hatte höchstens manchmal mit ihm Mitleid; aber auch dieses Mitleid war mit starker Verachtung gemischt, die bis zum Ekel reichte. Mitja war ihm höchst unsympathisch, schon durch sein Äußeres. Für Katerina Iwanownas Liebe zu ihm hatte Iwan nur Entrüstung übrig. Dennoch hatte er den in Untersuchungshaft befindlichen Mitja ebenfalls gleich am Tag seiner Ankunft besucht, und dieses Zusammensein hatte bei ihm die Überzeugung von dessen Schuld nicht verringert, sondern eher noch verstärkt. Er hatte seinen Bruder damals in Unruhe und krankhafter Erregung vorgefunden. Mitja redete viel, aber zerstreut, unzusammenhängend und in scharfem Ton; er beschuldigte Smerdjakow und war überhaupt sehr konfus. Am meisten sprach er von den dreitausend Rubeln, die ihm der Verstorbene angeblich »gestohlen« hatte! »Es war mein Geld, es gehörte mir!« behauptete Mitja! »Selbst wenn ich es gestohlen hätte, wäre ich im Recht gewesen,« Alle gegen ihn sprechenden Beweise bestritt er so gut wie nicht, und wenn er Tatsachen zu seinen Gunsten auslegte, so auch wieder in konfuser, törichter Weise, als wollte er sich vor Iwan oder sonst jemandem gar nicht rechtfertigen; er wurde vielmehr zornig, reagierte auf die Anschuldigungen nur geringschätzig und stolz und schimpfte. Über Grigoris Aussage von der offenen Tür lachte er nur verächtlich und sagte, »der Teufel muß sie aufgemacht haben!«. Irgendeine vernünftige Erklärung für diese Tatsache konnte er jedoch nicht vorbringen. Er brachte es sogar fertig, Iwan Fjodorowitsch bei diesem ersten Besuch zu beleidigen, indem er in rüdem Ton bemerkte, er lasse sich nicht von Personen verdächtigen und verhören, die selber behaupten, daß »alles erlaubt sei«. Überhaupt hatte er sich Iwan Fjodorowitsch gegenüber äußerst unfreundlich benommen. Gleich nach diesem Besuch bei Mitja also hatte sich Iwan Fjodorowitsch damals zu Smerdjakow begeben.
Schon bei der Heimfahrt aus Moskau hatte er immerzu an Smerdjakow und das letzte Gespräch denken müssen, das er mit ihm am Abend vor seiner Abreise gehabt hatte. Vieles hatte ihn stutzig gemacht, vieles war ihm verdächtig erschienen. Doch als er vor dem Untersuchungsrichter seine Aussagen machte, hatte Iwan Fjodorowitsch von diesem Gespräch vorläufig geschwiegen; er wollte erst ein Wiedersehen mit Smerdjakow abwarten. Dieser befand sich damals im städtischen Krankenhaus. Doktor Herzenstube und der Arzt Warwinski, den Iwan Fjodorowitsch im Krankenhaus traf, antworteten auf Iwan Fjodorowitschs diesbezügliche Fragen mit aller Bestimmtheit, Smerdjakows epileptischer Anfall sei zweifellos echt; sie wunderten sich sogar über seine Frage, ob er am Tag der Katastrophe nicht simuliert habe. Sie gaben ihm zu verstehen, daß es ein ungewöhnlicher Anfall gewesen sei, der sehr lange gedauert und sich mehrere Tage wiederholt habe, so daß das Leben des Patienten in großer Gefahr gewesen sei und man erst jetzt, nach Ergreifung der erforderlichen Maßnahmen, positiv sagen könne, der Kranke werde am Leben bleiben, obgleich sein Geist möglicherweise, fügte Doktor Herzenstube hinzu, zum Teil gestört bleiben werde, »wenn nicht für das ganze Leben, so doch längere Zeit«. Auf Iwan Fjodorowitschs ungeduldige Frage, ob er also jetzt verrückt sei, wurde ihm geantwortet, im vollen Sinn des Wortes noch nicht, doch seien gewisse abnorme Erscheinungen wahrnehmbar. Iwan Fjodorowitsch nahm sich vor, selbst festzustellen, was das für abnorme Erscheinungen sein mochten. Im Krankenhaus wurde ihm ein Besuch bei dem Kranken sogleich gestattet. Smerdjakow lag im Bett. In dem Raum stand noch ein Bett, das ein gelähmter einheimischer Kleinbürger innehatte; er war von Wassersucht ganz geschwollen, und sein Ableben war offenbar für den nächsten oder übernächsten Tag zu erwarten; stören konnte er bei dem Gespräch nicht. Smerdjakow lächelte mißtrauisch, als er Iwan Fjodorowitsch erblickte, und schien im ersten Augenblick sogar ängstlich zu sein. Wenigstens hatte Iwan Fjodorowitsch kurz diesen Eindruck. Aber das dauerte nur einen Moment. Die ganze übrige Zeit versetzte ihn Smerdjakow durch seine Ruhe geradezu in Erstaunen. Gleich beim ersten Blick gewann Iwan Fjodorowitsch die unzweifelhafte Überzeugung, daß er wirklich schwerkrank war. Er war sehr schwach, sah mager und gelb aus, redete langsam und schien die Zunge nur mit Mühe zu bewegen. Während der zwanzig Minuten, die der Besuch dauerte, klagte er ständig über Kopfschmerzen und über Reißen in allen Gliedern. Sein trockenes, kastratenhaftes Gesicht schien ganz klein geworden zu sein, die Schläfenhaare waren wirr und unordentlich, statt der früheren Tolle ragte nur ein dünner Haarbüschel in die Höhe. Aber das zusammengekniffene linke Auge, das so aussah, als wolle es jemandem zuzwinkern, verriet noch den ehemaligen Smerdjakow! »Auch ein kurzes Gespräch mit einem klugen Menschen ist von Vorteil!« Diese Bemerkung kam Iwan Fjodorowitsch sofort ins Gedächtnis. Er setzte sich am Fußende des Bettes auf einen Schemel.
Smerdjakow drehte sich unter Schmerzen mit dem ganzen Körper auf dem Bett herum, begann jedoch nicht als erster zu reden, sondern schwieg und machte ein Gesicht, als sei er nicht sonderlich neugierig.
»Bist du imstande, mit mir zu reden?« fragte Iwan Fjodorowitsch! »Ich werde dich nicht sehr anstrengen.«
»Dazu bin ich sehr wohl imstande«, stammelte Smerdjakow mit schwacher Stimme! »Sind Sie schon vor längerer Zeit angekommen?« fügte er in freundlichem Ton hinzu, als gelte es, einen verlegenen Besucher aufzumuntern.
»Ich bin erst heute eingetroffen … Um die Suppe auszulöffeln, die ihr eingerührt habt.«
Smerdjakow seufzte.
»Warum seufzst du? Du hast es gewußt!« polterte Iwan Fjodorowitsch los.
Smerdjakow schwieg in aller Ruhe eine Weile.
»Wie hätte ich das auch nicht wissen sollen? Das war ja im voraus klar. Nur, wie konnte man wissen, daß es eben diesen Verlauf nehmen werde?«
»Was für einen Verlauf? Mach keine Winkelzügel Du hast doch selber vorausgesagt, du würdest einen epileptischen Anfall bekommen, sowie du in den Keller hinabsteigst. Gerade auf den Keller hast du hingewiesen.«
»Haben Sie das schon bei der Vernehmung ausgesagt?« erkundigte sich Smerdjakow ruhig.
Iwan Fjodorowitsch wurde auf einmal ärgerlich.
»Nein, noch nicht, aber ich werde es bestimmt tun. Du wirst mir jetzt vieles erklären müssen, Freundchen. Und das eine sollst du wissen, mein Lieber: Ich lasse mich nicht zum besten haben!«
»Wozu sollte ich Sie denn zum besten haben, wo ich doch auf Sie allein meine ganze Hoffnung setze, wie auf Gott den Herrn?« erwiderte Smerdjakow mit derselben Ruhe, nur daß er einen Augenblick lang die Augen geschlossen hatte.
»Erstens«, rückte ihm Iwan Fjodorowitsch zu Leibe, »weiß ich, daß man einen epileptischen Anfall nicht vorhersagen kann. Ich habe mich danach erkundigt, versuch nicht erst Ausflüchte! Tag und Stunde kann man nicht vorhersagen. Wie kam es also, daß du mir damals Tag und Stunde vorhergesagt hast, und noch dazu das von dem Keller? Wie konntest du im voraus wissen daß du bei einem Anfall ausgerechnet in diesen Keller fallen würdest — wenn du den Anfall nicht absichtlich simuliert hast?«
»In den Keller mußte ich sowieso gehen, mehrmals an jedem Tag«, antwortete Smerdjakow gedehnt und ohne jede Eile! »Genauso bin ich vor einem Jahr vom Dachboden heruntergefallen. Sicherlich kann man einen epileptischen Anfall nicht auf Tag und Stunde voraussagen, doch ein Vorgefühl kann man immer haben.«
»Aber du hast Tag und Stunde vorausgesagt!«
»Über meine Epilepsie, ob sie echt war oder nicht, werden Sie sich am besten bei den Ärzten erkundigen, gnädiger Herr. Daß ich mit Ihnen weiter über dieses Thema rede, ist zwecklos.«
»Und der Keller? Wie hast du das mit dem Keller vorhergewußt?«
»Immer kommen Sie mit diesem Keller! Als ich damals in den Keller hinunterstieg, hatte ich Angst und Sorgen, Angst besonders deshalb, weil ich Sie nicht mehr in meiner Nähe hatte und mir von niemand mehr Schutz und Hilfe versprechen konnte. Ich stieg also damals in den Keller hinab und dachte: ‚Jetzt wird es gleich kommen, jetzt wird es gleich passieren! Werde ich hinunterstürzen oder nicht?‘ Und eben infolge dieser Unruhe packte mich der unvermeidliche Krampf in der Kehle — na, und da fiel ich hinunter. Das alles und mein ganzes Gespräch mit Ihnen am Tag vor dem Verbrechen, als ich Ihnen meine Befürchtungen und auch das von dem Keller mitteilte — das habe ich mit allen Einzelheiten dem Doktor Herzenstube und dem Untersuchungsrichter Nikolai Parfjonowitsch mitgeteilt, und es ist alles zu Protokoll genommen worden. Und der hiesige Arzt, Herr Warwinski, hat im Beisein aller besonders darauf aufmerksam gemacht, daß es eben von diesem Gedanken so gekommen sein muß, das heißt von dieser Besorgnis: Werde ich fallen oder nicht! Deswegen hat mich denn auch der Krampf gepackt. So haben sie es auch niedergeschrieben, daß es so vorgegangen sein müsse, das heißt infolge meiner Besorgnis.«
Nachdem Smerdjakow das gesagt hatte, stieß er einen tiefen Seufzer aus, als sei er von der Anstrengung erschöpft.
»Also das hast du schon bei der Vernehmung ausgesagt?« fragte Iwan Fjodorowitsch etwas verblüfft. Er hatte beabsichtigt, ihn damit zu schrecken, daß er über ihr damaliges Gespräch aussagen wollte, und nun stellte sich heraus, daß der andere es schon selbst getan hatte!
»Was habe ich denn zu fürchten? Sollen sie doch die ganze reine Wahrheit aufschreiben!« sagte Smerdjakow entschieden.
»Und du hast ihnen unser Gespräch am Tor erzählt, ohne etwas wegzulassen?«
»Nein, ganz ohne Auslassungen nicht.«
»Daß du einen epileptischen Anfall simulieren kannst, wie du dich damals mir gegenüber rühmtest, hast du das auch gesagt?«
»Nein, das habe ich nicht gesagt.«
»Sag mir jetzt, warum hast du mir damals zugeredet, nach Tschermaschnja zu fahren?«
»Ich fürchtete, Sie würden nach Moskau fahren. Tschermaschnja war immerhin näher.«
»Du lügst! Du selbst hast mich aufgefordert wegzufahren! Du hast gesagt: ‚Fahren Sie weg! Weg von der Sünde!‘«
»Das habe ich damals einzig und allein aus Freundschaft für Sie und aus herzlicher Ergebenheit getan, weil ich ein Unglück im Haus ahnte und Sie mir leid taten. Nur tat ich mir selber noch mehr leid. Darum sagte ich: ‚Fahren Sie weg von der Sünde!‘ Denn Sie sollten verstehen, daß zu Hause Unheil drohte, und dableiben, um den Vater zu beschützen.«
»Da hättest du deutlicher sprechen sollen, du Dummkopf!« rief Iwan Fjodorowitsch mit plötzlicher Heftigkeit.
»Wie hätte ich denn damals deutlicher sprechen können? Aus mir sprach ja nur die Angst, und Sie hätten auch wütend werden können. Ich konnte zwar befürchten, daß Dmitri Fjodorowitsch etwas Böses verüben und das Geld stehlen würde, da er es als sein Eigentum betrachtete — aber wer konnte wissen, daß die Sache mit einem Mord endet? Ich dachte, er würde einfach die dreitausend Rubel entwenden, die der Herr in einem Kuvert unter der Matratze liegen hatte, und nun hat er ihn totgeschlagen! Auch Sie hätten das nicht ahnen können, gnädiger Herr!«
»Wenn du also selbst sagst, daß es unmöglich war, das zu ahnen, wie konnte ich es dann ahnen und deswegen hierbleiben? Was redest du für konfuses Zeug?« sagte Iwan Fjodorowitsch nach einigem Nachdenken.
»Sie hätten es schon daraus schließen können, daß ich Ihnen riet, nicht nach Moskau, sondern nur nach Tschermaschnja zu fahren.«
»Wie kann man daraus etwas schließen!«
Smerdjakow schien sehr ermüdet zu sein und schwieg wieder lange.
»Das war aber doch wohl möglich. Wenn ich Sie veranlassen wollte, statt nach Moskau nach Tschermaschnja zu reisen, so war daraus zu ersehen, welchen Wert ich auf Ihre nähere Anwesenheit legte, weil Moskau fern ist und zu erwarten war, daß Dmitri Fjodorowitsch nicht so dreist sein wird, wenn er Sie in der Nähe weiß. Und auch zu meinem eigenen Schutz konnten Sie notfalls schneller dasein, denn ich selbst habe Sie zu diesem Zweck auf Grigori Wassiljewitschs Krankheit hingewiesen und von meiner Angst vor einem epileptischen Anfall gesprochen. Und wenn ich Ihnen von diesen Klopfsignalen erzählt habe, durch die man sich zu dem Verstorbenen Einlaß verschaffen konnte und die Ihr Bruder Dmitri Fjodorowitsch sämtlich von mir erfahren hatte, so habe ich mir gedacht, Sie würden schon selbst auf den Gedanken kommen, daß er sicherlich etwas vorhatte, und würden nicht einmal nach Tschermaschnja fahren, sondern ganz hierbleiben.«
‚Er redet durchaus logisch, obwohl er stammelt!‘ dachte Iwan Fjodorowitsch. ‚Wie kann Herzenstube da von einer Zerrüttung der geistigen Fähigkeiten sprechen?‘ »Du willst mich überlisten, hol‘ dich der Teufel!« schrie er dann wütend.
»Offen gestanden, ich dachte damals, Sie hätten es schon begriffen«, erwiderte Smerdjakow mit der harmlosesten Miene.
»Wenn ich es begriffen hätte, wäre ich doch hiergeblieben!« rief Iwan Fjodorowitsch, von neuem auffahrend.
»Na, ich glaubte, Sie hätten es begriffen und reisten so schnell wie möglich ab, um von der Sünde wegzukommen. Um nur irgendwohin zu fliehen und sich vor der Angst zu retten.«
»Du dachtest wohl, alle Menschen wären solche Feiglinge wie du?«
»Verzeihen Sie, ich dachte, Sie wären genauso wie ich.«
»Allerdings hätte ich es ahnen müssen«, sagte Iwan erregt! »Und ich vermutete auch, daß irgendeine Schweinerei von deiner Seite dahintersteckte … Aber du lügst, du lügst wieder!« rief er, weil ihm plötzlich etwas einfiel! »Erinnerst du dich, daß du damals an meinen Reisewagen tratest und zu mir sagtest: ‚Auch ein kurzes Gespräch mit einem klugen Menschen ist von Vorteil‘? Also hast du dich doch darüber gefreut, daß ich wegfuhr.«
Smerdjakow seufzte einmal und noch einmal. In seinem Gesicht schien sich eine leichte Röte zu zeigen.
»Wenn ich mich freute«, sagte er, etwas mühsam atmend, »so nur deswegen, weil Sie eingewilligt hatten, nicht nach Moskau, sondern nach Tschermaschnja zu fahren. Denn das war immerhin näher. Außerdem sagte ich Ihnen diese Worte nicht als Lob, sondern als Vorwurf. Das haben Sie nicht richtig aufgefaßt.«
»Wieso als Vorwurf?«
»Weil Sie Ihren eigenen Vater verließen und uns nicht schützen wollten, obwohl Sie ein solches Unglück ahnten! Man konnte nämlich auch mich wegen dieser dreitausend Rubel belangen, als ob ich sie gestohlen hätte.«
»Hol‘ dich der Teufel!« schimpfte Iwan wieder! »Sag mal, hast du dem Untersuchungsrichter und dem Staatsanwalt von den Klopfsignalen erzählt?«
»Ich habe alles wahrheitsgemäß angegeben.«
Iwan Fjodorowitsch wunderte sich wieder im stillen.
»Wenn ich damals an etwas dachte«, begann er wieder, »so doch nur an irgendeine Abscheulichkeit von deiner Seite. Dmitri war imstande, einen Totschlag zu begehen; daß er eines Diebstahls fähig wäre, habe ich damals nicht geglaubt. Von deiner Seite aber erwartete ich jede Niedertracht. Du selber hast mir gesagt, du könntest einen epileptischen Anfall simulieren; warum hast du das gesagt?«
»Lediglich aus Offenherzigkeit. Ich habe nie im Leben einen epileptischen Anfall absichtlich simuliert; ich habe nur so gesprochen, um mich vor Ihnen zu rühmen. Aus purer Dummheit. Ich mochte Sie damals sehr und redete zu Ihnen in aller Harmlosigkeit.«
»Mein Bruder beschuldigt dich geradezu, den Mord und den Diebstahl begangen zu haben.«
»Was bleibt ihm auch anderes übrig?« versetzte Smerdjakow bitter lächelnd! »Aber wer wird ihm bei all den belastenden Momenten glauben? Grigori Wassiljewitsch hat die Tür offen gesehen: Was gibt es dagegen für eine Verteidigung? Na, Gott möge ihm verzeihen, er sucht sich in seiner Angst zu retten …«
Er schwieg eine Weile mit ruhiger Miene und fügte dann, als hätte er es sich überlegt, hinzu: »Das ist wieder dieselbe Geschichte. Er will es auf mich abwälzen, so daß es als meine Tat erscheint, das habe ich schon gehört. Aber nehmen Sie schon allein den Umstand, daß ich einen epileptischen Anfall simulieren kann. Hätte ich Ihnen vorher gesagt, daß ich das kann, wenn ich wirklich etwas Böses gegen Ihren Vater im Schilde geführt hätte? Wenn ich einen Mord plante, konnte ich dann so dumm sein, vorher eine mich selbst belastende Aussage zu machen, und noch dazu dem leiblichen Sohn gegenüber? Ich bitte Sie! Hat das die geringste Wahrscheinlichkeit? Das ist, im Gegenteil, vollkommen undenkbar! Sehen Sie, dieses Gespräch jetzt mit Ihnen hört niemand außer der Vorsehung; doch wenn Sie es dem Staatsanwalt und Nikolai Parfjonowitsch mitteilen wollten, könnten Sie mich dadurch entscheidend verteidigen, denn welcher Verbrecher ist vorher so offenherzig? Das alles werden die Herren sehr wohl verstehen können.«
»Hör mal«, sagte Iwan Fjodorowitsch, stand auf und brach das Gespräch ab; Smerdjakows letzte Schlußfolgerung hatte auf ihn einen starken Eindruck gemacht! »Ich habe dich überhaupt nicht im Verdacht und halte es sogar für lächerlich, dich zu beschuldigen … Ich bin dir sogar dankbar, daß du mich beruhigt hast. Jetzt gehe ich, aber ich werde wieder einmal vorbeikommen. Bis dahin lebe wohl, und werde wieder gesund! Brauchst du irgend etwas?«
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, aber ich habe alles. Marfa Kondratjewna vergißt mich nicht und versorgt mich mit allem, wenn ich etwas brauche. Sie ist zu mir so gütig wie früher. Es kommen täglich gute Menschen zu mir.«
»Auf Wiedersehen! Ich werde übrigens nichts davon sagen, daß du simulieren kannst. Und auch dir möchte ich raten, nichts darüber auszusagen«, bemerkte Iwan plötzlich aus irgendeinem Grund.
»Ich verstehe. Wenn Sie das nicht angeben, werde auch ich nicht von meinem ganzen Gespräch mit Ihnen damals am Tor berichten.«
Es ergab sich, daß Iwan Fjodorowitsch schnell hinausging und es ihm erst draußen auf dem Korridor zu Bewußtsein kam, daß in Smerdjakows letztem Satz ein beleidigender Sinn enthalten war. Er wollte schon wieder umkehren, doch der Gedanke war nur flüchtig! »Dummheiten«, sagte er vor sich hin, dann verließ er eilig das Krankenhaus. Die Hauptsache war, daß er sich tatsächlich beruhigt fühlte, und zwar gerade durch den Umstand, daß nicht Smerdjakow der Schuldige war, sondern sein Bruder Mitja, obwohl doch das Gegenteil hätte der Fall sein müssen. Warum es so war, das zu überlegen hatte er keine Lust; er empfand sogar einen Widerwillen gegen ein solches Wühlen in seinen Empfindungen. Lieber hätte er dies und jenes so bald wie möglich vergessen. Jedenfalls war er nach einigen Tagen, nachdem er sich näher und gründlicher mit allen Mitja belastenden Momenten bekannt gemacht hatte, vollständig von dessen Schuld überzeugt. Es waren darunter Aussagen ganz einfacher Leute, aber sie wirkten beinahe niederschmetternd, vor allem die Aussagen Fenjas und ihrer Mutter, gar nicht zu reden von Perchotin, von dem Restaurant, von Plotnikows Laden, von den Zeugen in Mokroje. Besonders belasteten ihn auch gewisse Einzelheiten. Die Mitteilung über die geheimen Klopfsignale hatten auf den Untersuchungsrichter und den Staatsanwalt einen fast ebenso starken Eindruck gemacht wie Grigoris Angabe über die offenstehende Tür. Grigoris Frau, Marfa Ignatjewna, erklärte auf Iwan Fjodorowitschs Frage mit aller Bestimmtheit, Smerdjakow habe bei ihnen die ganze Nacht über auf der anderen Seite der Bretterwand gelegen, »keine drei Schritte von unserem Bett entfernt«; sie habe zwar fest geschlafen, sei aber oft aufgewacht und habe gehört, wie er da stöhnte! »Die ganze Zeit stöhnte er, unaufhörlich stöhnte er,« Er hatte eine Unterredung mit Herzenstube und äußerte ihm gegenüber, Smerdjakow komme ihm überhaupt nicht geistig gestört vor, sondern nur körperlich schwach; doch er rief dadurch bei dem alten Mann nur ein feines Lächeln hervor! »Wissen Sie, womit er sich jetzt besonders beschäftigt?« fragte er Iwan Fjodorowitsch! »Er lernt französische Vokabeln auswendig. Unter dem Kopfkissen hat er ein Heft liegen, in das ihm jemand französische Worte mit russischen Buchstaben hineingeschrieben hat, hehehe!« Iwan Fjodorowitsch ließ schließlich alle Zweifel fallen; er konnte an seinen Bruder Dmitri nur noch voller Ekel denken. Nur eines war seltsam: daß Aljoscha immer noch hartnäckig dabei blieb, nicht Dmitri habe den Mord begangen, sondern »mit aller Wahrscheinlichkeit« Smerdjakow. Iwan war sich immer dessen bewußt gewesen, daß Aljoschas Urteil ihm sehr viel galt, daher war er jetzt sehr erstaunt über ihn. Seltsam war auch, daß Aljoscha keine Gelegenheit suchte, mit ihm über Mitja zu sprechen, und selbst nie davon anfing, sondern nur auf seine, Iwans, Fragen antwortete. Übrigens wurde er in dieser Zeit durch etwas ganz anderes abgelenkt. Nach seiner Ankunft aus Moskau hatte er sich in den ersten Tagen rückhaltlos seiner glühenden, sinnlosen Leidenschaft für Katerina Iwanowna hingegeben. Es ist hier nicht der Ort, von dieser neuen Leidenschaft Iwan Fjodorowitschs anzufangen, die für sein ganzes späteres Leben bedeutsam werden sollte; das könnte als Stoff für einen zweiten Roman dienen, von dem ich noch nicht weiß, ob ich ihn jemals in Angriff nehmen werde. Aber eines kann ich auch jetzt nicht verschweigen: Als Iwan Fjodorowitsch mit Aljoscha in der Nacht von Katerina Iwanowna wegging und zu ihm sagte: »Ich mag sie nicht«, log er gewaltig. Er liebte sie unsinnig, obgleich er sie zeitweilig auch dermaßen haßte, daß er sie hätte ermorden können. Es kamen hier viele Ursachen zusammen. Tief erschüttert durch das Ereignis mit Mitja hatte sie sich auf den wieder zu ihr zurückgekehrten Iwan Fjodorowitsch wie auf einen Retter gestürzt. Sie war beleidigt, gekränkt, in ihren Gefühlen gedemütigt. Und da erschien nun wieder der Mensch, der sie früher so geliebt hatte, oh, sie wußte das, und dessen Verstand und Herz sie immer so hoch über sich selbst gestellt hatte. Aber das strengdenkende Mädchen gab sich ihm nicht völlig zum Opfer hin, trotz seines Karamasowschen Ungestüms und des starken Zaubers, den er auf sie ausübte. Sie quälte unaufhörlich die Reue darüber, daß sie Mitja untreu geworden war, und in bösen Augenblicken, wenn sie sich mit Iwan stritt, und solche Augenblicke gab es viele, sagte sie ihm das auch. Das war es, was er in dem Gespräch mit Aljoscha »Unwahrhaftigkeit und Lüge« genannt hatte. Es war allerdings tatsächlich auch viel Unwahrhaftigkeit mit im Spiel, und das war es, was Iwan Fjodorowitsch am meisten aufregte … Doch von alledem später! Kurz, zeitweilig vergaß er Smerdjakow beinahe. Und dennoch begannen ihn zwei Wochen nach seinem ersten Besuch bei Smerdjakow wieder alle jene sonderbaren Gedanken zu peinigen wie früher. Es genügt, wenn ich sage, daß er sich unaufhörlich fragte, warum er damals, in der letzten Nacht, die er vor seiner Abreise in Fjodor Pawlowitschs Haus zubrachte, leise wie ein Dieb auf die Treppe hinausgegangen war und gelauscht hatte, was sein Vater unten tat. Warum hatte er sich später nur angewidert daran erinnert? Warum hatte ihn am anderen Morgen unterwegs eine solche Niedergeschlagenheit überkommen? Und warum hatte er, als er in Moskau ankam, zu sich gesagt: »Ich bin ein Schurke"? Und er stellte sich vor, daß er um dieser quälenden Gedanken willen am Ende sogar Katerina Iwanowna vergessen könnte, mit solcher Stärke hatten sie ihn auf einmal wieder gepackt! Gerade als er darüber nachdachte, begegnete er auf der Straße Aljoscha. Er hielt ihn sofort an und legte ihm ohne weiteren Umstand die Frage vor: »Erinnerst du dich? Als damals nach dem Mittagessen Dmitri ins Haus stürzte und den Vater schlug, damals sagte ich dir auf dem Hof, ich behielte mir das Recht, etwas zu wünschen, vor. Sag mal, hast du damals gedacht, daß ich den Tod des Vaters wünschte, oder hast du es nicht gedacht?«
»Ja, ich habe es gedacht«, antwortete Aljoscha leise.
»Es war übrigens auch so, und war nicht schwer zu erraten. Aber ist dir damals nicht auch der Gedanke gekommen, daß mein Wunsch speziell dahin ging, es sollte ‚ein Reptil das andere auffressen‘, das heißt, kein anderer als Dmitri sollte den Vater totschlagen, und zwar so bald wie möglich — wobei ich selbst nicht abgeneigt wäre, dabei Vorschub zu leisten?«
Aljoscha wurde ein wenig blaß und blickte dem Bruder stumm in die Augen.
»Sprich doch!« rief Iwan! »Ich will ganz genau wissen, was du damals gedacht hast. Die Wahrheit will ich hören, die Wahrheit!« Er atmete schwer und starrte Aljoscha schon im voraus böse an.
»Verzeih mir, auch das habe ich damals gedacht«, flüsterte Aljoscha und verstummte, ohne ein milderndes Wort hinzuzufügen.
»Ich danke dir!« antwortete Iwan kurz, ließ Aljoscha stehen und ging mit raschen Schritten davon.
Seitdem bemerkte Aljoscha, daß sich Iwan in schroffer Weise von ihm fernhielt und ihn so gar nicht mehr mochte, so daß er kurz darauf von sich aus die Besuche bei Iwan einstellte. Unmittelbar nach dieser Begegnung mit Aljoscha begab sich Iwan Fjodorowitsch, ohne erst nach Hause zu gehen, plötzlich abermals zu Smerdjakow.