4. Eine Hymne und ein Geheimnis
Es war schon recht spät — ein Novembertag ist ja nicht lang — als Aljoscha am Gefängnistor läutete; es begann sogar schon zu dämmern. Aber Aljoscha wußte, daß man ihn ungehindert zu Mitja lassen würde. Es war in unserem Städtchen so wie überall. Nach Abschluß der Voruntersuchung war der Zutritt für Mitjas Verwandte und andere Personen, die ihn zu sehen wünschten, anfangs allerdings mit gewissen, notwendigen Formalitäten verknüpft; später wurden diese Formalitäten zwar im großen und ganzen nicht abgeschwächt, aber für einige Personen, die zu Mitja kamen, bildeten sich doch wie von selbst gewisse Ausnahmen heraus, so daß die Zusammenkünfte mit dem Gefangenen in dem dazu bestimmten Zimmer manchmal sogar fast unter vier Augen stattfanden. Der Kreis dieser Personen war übrigens sehr klein: Gruschenka, Aljoscha und Rakitin. Gruschenka erfreute sich des besonderen Wohlwollens des Bezirkshauptmanns Michail Makarowitsch. Dieser alte Mann hatte Gewissensbisse, weil er sie in Mokroje so angeschrien hatte. Als er später erkannt hatte, wie die Sache lag, hatte er seine Meinung über sie vollständig geändert. Und seltsam: Obgleich er von Mitjas Schuld fest überzeugt war, wurde sein Urteil über ihn seit der Inhaftierung immer milder. ‚Dieser Mensch hat vielleicht eine gute Seele gehabt‘, dachte er, ‚ist aber durch Trunk und Ausschweifungen zugrunde gegangen!‘ An die Stelle des früheren Entsetzens war in seinem Herzen eine Art Mitleid getreten. Aljoscha wiederum mochte der Bezirkshauptmann sehr; er war schon lange mit ihm bekannt. Rakitin schließlich, der später sehr oft zu dem Gefangenen kam, war ein naher Bekannter der »jungen Damen des Herrn Bezirkshauptmanns«, wie er sie nannte; er verkehrte alle Tage in ihrem Haus. Außerdem gab er bei dem Gefängnisinspektor, einem gutmütigen, im Dienst allerdings strengen alten Mann, zu Haus Privatstunden. Aljoscha war ein besonders guter alter Bekannter des Gefängnisinspektors, der gern mit ihm allgemein über die Weisheit Gottes plauderte. Vor Iwan Fjodorowitsch hatte der Gefängnisinspektor großen Respekt und sogar eine gewisse Furcht; er fürchtete besonders dessen Urteile über die Weltordnung, obgleich er selbst ein großer Philosoph war — natürlich einer, der »durch seinen eigenen Verstand dahin gelangt war«. Zu Aljoscha jedenfalls fühlte er sich unwiderstehlich hingezogen. Im letzten Jahr hatte sich der alte Mann intensiv mit den apokryphen Evangelien befaßt und berichtete seinem jungen Freund nun alle Augenblicke von seinen Eindrücken. Früher war er sogar zu ihm ins Kloster gekommen und hatte mit ihm und den Priestermönchen stundenlange Gespräche geführt. Selbst wenn er zu spät zum Gefängnis kam, brauchte Aljoscha nur zum Inspektor zu gehen, und die Sache wurde dann sofort arrangiert. Außerdem hatten sich im Gefängnis alle bis hinab zum untersten Wächter an Aljoscha gewöhnt. Die Schildwache machte natürlich keine Schwierigkeiten, sobald er Erlaubnis von den Beamten hatte. Mitja kam gewöhnlich aus seiner Zelle herunter, in das für Besuche bestimme Zimmer, sobald er gerufen wurde.
Als Aljoscha in dieses Zimmer trat, stieß er auf Rakitin, der gerade von Mitja fortging. Beide redeten noch laut miteinander. Mitja, der ihn zur Tür begleitete, lachte über etwas, und Rakitin schien vor sich hin zu brummen. Rakitin traf vor allem in letzter Zeit nicht allzugern mit Aljoscha zusammen; er sprach fast nicht mit ihm und grüßte ihn nur widerwillig. Als er jetzt Aljoscha eintreten sah, machte er ein besonders finsteres Gesicht und blickte zur Seite, als sei er ganz mit dem Zuknöpfen seines großen, warmen, mit einem Pelzkragen versehenen Überziehers beschäftigt. Dann suchte er nach seinem Schirm.
»Daß ich nur nichts von meinen Sachen vergesse!« murmelte er, lediglich um etwas zu sagen.
»Vergiß nur nichts von den Sachen anderer Leute!« witzelte Mitja und lachte selber über seinen Witz.
Rakitin brauste auf.
»Empfiehl das deinen Karamasows, die ihr so eine Familie von Verteidigern der Leibeigenschaft seid, aber nicht einem Mann wie mir!« schrie er außer sich vor Wut.
»Was hast du denn? Ich habe ja nur einen Scherz gemacht!« rief Mitja! »Pfui Teufel! Aber so sind sie alle«, wandte er sich an Aljoscha und deutete mit dem Kopf auf den sich entfernenden Rakitin! »Die ganze Zeit hat er hier gesessen, hat gelacht und ist vergnügt gewesen, und nun auf einmal braust er so auf! Dir hat er nicht einmal zugenickt, seid ihr denn ganz auseinandergekommen? Warum kommst du so spät? Ich habe dich nicht bloß erwartet, sondern mich den ganzen Vormittag richtig nach dir gesehnt. Na, macht nichts! Wir bringen es schon wieder ein.«
»Warum kommt er denn so oft zu dir? Hast du dich mit ihm angefreundet, ja?« fragte Aljoscha, wobei er ebenfalls mit dem Kopf nach der Tür deutete, durch die Rakitin verschwunden war.
»Mit Michail soll ich mich angefreundet haben? Nein, das ist nicht der Fall … Wie werde ich, er ist ein gemeiner Kerl! Er hält mich für einen Schuft. Spaß versteht er auch nicht, das ist bei solchen Leuten eine besonders hervorstechende Eigenschaft. Sie verstehen nie Spaß. Und ihre Seelen sind so kahl und öde; sie erregen in mir jene Empfindung von damals, als ich hier beim Gefängnis vorfuhr und die Gefängnismauern sah. Aber ein gescheiter Mensch ist er, das muß man ihm lassen. Na, Alexej, jetzt ist mein Kopf verloren!«
Er setzte sich auf eine Bank und ließ Aljoscha sich daneben setzen.
»Ja, morgen ist die Gerichtsverhandlung. Hast du denn gar keine Hoffnung mehr, Bruder?« fragte Aljoscha schüchtern und teilnahmsvoll.
»Wovon sprichst du?« fragte Mitja und sah ihn verständnislos an! »Ach, du sprichst von der Gerichtsverhandlung! Na, hol‘ sie der Teufel! Ich habe mit dir bisher immer nur über Kleinigkeiten gesprochen, über dieses Gerichtsverfahren und so weiter, doch, über das Wichtigste habe ich dir nichts gesagt. Ja, morgen ist die Gerichtsverhandlung, aber die meine ich nicht, wenn ich sage, daß mein Kopf verloren ist. Mein Kopf selbst ist auch nicht verloren — das, was in meinem Kopf drin war, das ist verloren. Warum siehst du mich so prüfend an?«
»Wovon redest du eigentlich, Mitja?«
»Von den Ideen, die Ideen, darauf kommt es an. Die Ethik. Was ist das: Ethik?«
»Ethik?« fragte Aljoscha erstaunt.
»Ja, es ist wohl eine Wissenschaft, aber was für eine?«
»Ja, so eine Wissenschaft gibt es … Nur … Ich muß gestehen, ich kann dir nicht sagen, was es für eine Wissenschaft ist.«
»Rakitin weiß es. Der weiß vieles, hol‘ ihn der Teufel! Mönch wird der nicht. Er hat vor, nach Petersburg zu gehen. Dort will er die Kritik zu seinem Beruf machen, wie er sagt, aber mit einer edlen Tendenz. Na, vielleicht wird er etwas Nützliches leisten und Karriere machen. O ja, auf das Karrieremachen verstehen sie sich! Hol‘ der Teufel die Ethik! Ich für meine Person bin verloren, Alexej, du Gottesmann! Du bist mir der liebste Mensch auf der Welt. Mein Herz zieht mich zu dir, so ist das. Wer war denn Karl Bernard?«
»Welcher Karl Bernard?« fragte Aljoscha wieder erstaunt.
»Nein, nicht Karl, warte, ich habe Unsinn geredet. Claude Bernard. In welche Richtung gehört der? Chemie, nicht wahr?«
»Ja, er muß ein Gelehrter sein«, antwortete Aljoscha! »Aber ich muß dir gestehen, daß ich über ihn nicht viel zu sagen weiß. Ich habe nur gehört, daß er Gelehrter ist, was für einer, weiß ich nicht.«
»Na, hol‘ ihn der Teufel, ich weiß es auch nicht«, schimpfte Mitja! »Höchstwahrscheinlich ein Schuft, denn Schufte sind sie alle. Rakitin jedoch wird sich durchschlängeln. Rakitin kriecht durch ein Schlüsselloch, der ist auch so ein Bernard. Ja, ja, diese Bernards! Die haben sich jetzt gewaltig vermehrt!«
»Was hast du bloß?« fragte Aljoscha eindringlich.
»Er will über mich und meinen Prozeß einen Artikel schreiben und damit seine Rolle in der Schriftstellerei beginnen; in dieser Absicht kommt er auch zu mir, er hat es mir selbst auseinandergesetzt. Er will mit einer bestimmten Tendenz schreiben. ‚Die Umgebung, in der er lebte, hat ihn so verdorben, daß er nichts anderes konnte, als einen Mord begehen‘, und so weiter, er hat es mir genau erklärt. ‚Es wird eine Nuance von Sozialismus bekommen‘, sagt er. Na, hol‘ ihn der Teufel mitsamt seiner Nuance! Also meinetwegen mit einer Nuance, ist mir ganz gleich. Unseren Bruder Iwan kann er nicht leiden, er haßt ihn. Und dir ist er auch nicht sehr zugetan. Na, ich jage ihn aber nicht weg, weil er ein gescheiter Mensch ist. Allerdings trägt er die Nase sehr hoch. Ich habe ihm eben gesagt: ‚Die Karamasows sind keine Schufte, sondern Philosophen, weil alle echten Russen Philosophen sind. Du aber bist, wenn du auch etwas gelernt hast, trotzdem kein Philosoph, sondern ein Ekel!‘ Er lachte ziemlich boshaft. Da sagte ich zu ihm: ‚De Gedankibus non est disputandum.‘ Ein guter Witz, nicht wahr? Wenigstens hatte auch ich mich klassisch ausgedrückt«, schloß Mitja lachend.
»Warum bist du denn verloren? Du sagtest vorhin so etwas?« unterbrach ihn Aljoscha.
»Warum ich verloren bin? Hm! Eigentlich … Genaugenommen, Gott tut mir leid, das ist der Grund!«
»Was soll das heißen, Gott tut dir leid?«
»Stell dir das mal vor: In den Nerven, im Kopf, das heißt da im Gehirn, gibt es so eine Art Schwänzchen, die Nerven haben solche Schwänzchen … Und sobald die zu zittern anfangen … Das heißt, ich sehe etwas mit meinen Augen, siehst du, so! Da fangen sie an zu zittern, die Schwänzchen … Und wenn sie anfangen zu zittern, erscheint ein Bild, es erscheint nicht gleich, da ist noch ein Augenblick dazwischen, etwa eine Sekunde, dann erscheint sozusagen ein gewisses Moment, das heißt nicht ein Moment, sondern ein Bild, das heißt ein Gegenstand oder ein Ereignis, na, hol‘ es der Teufel! Und das ist der Grund, weshalb ich eine Anschauung habe und dann denke! Weil da so ein Schwänzchen ist — und gar nicht deswegen, weil ich eine Seele habe, und ein Ebenbild Gottes bin, das sind alles Dummheiten! Das hat mir Michail schon gestern auseinandergesetzt, Bruder, und mir war, als würde ich mit heißem Wasser übergossen. Es ist etwas Großartiges um diese Wissenschaft, Aljoscha! Ein neuer Mensch wird daraus hervorgehen, das verstehe ich … Trotzdem tut es mir leid um Gott!«
»Nun, auch das ist gut!« sagte Aljoscha.
»Daß es mir um Gott leid tut? Die Chemie, Bruder, die Chemie! Es hilft nichts, Euer Ehrwürden, rücken Sie ein bißchen zur Seite: die Chemie kommt! Rakitin hingegen liebt den lieben Gott nicht, nein, er liebt ihn nicht! Das ist bei diesen Leuten der wundeste Punkt! Aber sie verheimlichen das. Sie lügen. Sie verstellen sich. ‚Sag mal‘, fragte ich ihn, ‚wirst du das bei deiner schriftstellerischen Tätigkeit so vortragen?‘ — ‚Na, so offen wird man das wohl nicht dürfen‘, antwortete er und lachte. — ‚Aber‘, fragte ich weiter, ‚wie steht es unter solchen Umständen mit dem Menschen? Ohne Gott und ohne ein zukünftiges Leben? Dann ist jetzt also alles erlaubt, und man kann alles tun, was man will?‘ — ‚Hast du das noch nicht gewußt?‘ sagte er und lachte wieder. ‚Ein kluger Mensch‘, sagte er, ‚kann alles tun, ein kluger Mensch versteht, seine Krebse zu fangen. Du dagegen hast einen Mord begangen und bist dabei hereingefallen und wirst im Gefängnis verfaulen!‘ Das gab er mir zur Antwort. Ein grundgemeiner Kerl! Früher habe ich solche Subjekte hinausgeschmissen, und jetzt höre ich ihnen zu. Er sagt auch viel Brauchbares. Er schreibt auch klug. Vor einer Woche hat er mir einen Artikel vorgelesen, ich habe mir damals drei Zeilen aufgeschrieben. Warte mal, da sind sie.«
Mitja zog eilig ein Zettelchen aus der Westentasche und las: »‚Um diese Streitfrage zu entscheiden, muß man vor allem seine Persönlichkeit in Gegensatz zu seiner Realität stellen.‘ Verstehst du das?«
»Nein, das verstehe ich nicht«, erwiderte Aljoscha.
Mit lebhaftem Interesse betrachtete er Mitja und hörte ihm zu.
»Ich auch nicht. Es ist dunkel und unklar, aber klug. ‚Alle schreiben jetzt so‘, sagt er, ‚weil die Mitwelt das verlangt.‘ Sie fürchten sich vor der Mitwelt. Auch Verse schreibt er, der Schuft. Er hat Frau Chochlakowas Füßchen besungen, hahaha!«
»Davon habe ich gehört«, sagte Aljoscha.
»Hast du davon gehört? Aber hast du auch die Verse gehört?«
»Nein.«
»Ich habe sie, da sind sie, ich werde sie dir vorlesen. Du weißt noch nicht alles, ich habe es dir noch nicht erzählt, es ist eine ganze Geschichte. Der Gauner! Vor drei Wochen wollte er mich verspotten. ‚Du bist wegen dieser dreitausend Rubel wie ein Dummkopf hereingefallen!‘ sagte er. ‚Ich werde hundertfünfzigtausend Rubel einheimsen. Ich werde eine Witwe heiraten und mir in Petersburg ein Steinhaus kaufen!‘ Und er erzählte mir, daß er der verwitweten Frau Chochlakowa den Hof mache. Sie sei von jung auf nicht sehr klug gewesen, habe jedoch nun mit vierzig völlig den Verstand verloren. ‚Sie ist sehr gefühlvoll‘, sagte er, ‚unter Ausnutzung dieser Schwäche werde ich sie herumkriegen. Ich werde sie heiraten, mit ihr nach Petersburg ziehen und dort eine Zeitung herausgeben.‘ Und dabei trat ihm vor widerwärtiger Begehrlichkeit der Speichel auf die Lippen, vor Begehrlichkeit nicht nach Frau Chochlakowa, sondern nach den hundertfünfzigtausend Rubeln. Und er versicherte mir täglich, denn er kommt täglich zu mir, sie werde sich ergeben. Er strahlte nur so vor Freude. Und nun hat sie ihm auf einmal das Haus verboten! Perchotin, Pjotr Iljitsch Perchotin hat den Sieg errungen, ein famoser Bursche! Küssen möchte ich diese Närrin dafür, daß sie diesen Rakitin rausgeschmissen hat! Vorher also war er einmal bei mir und hatte dieses Gedicht verfaßt. ‚Zum erstenmal‘, sagte er, ‚beschmutze ich meine Hände mit dem Schreiben von Versen; aber ich tue es, um eine Dame zu bezaubern — also zu einem nützlichen Zweck. Wenn ich der Närrin ihr Kapital abgenommen habe, kann ich damit ja dem Gemeinwohl nützen! Das Gemeinwohl dient diesen Leuten zur Rechtfertigung jeder Schändlichkeit!‘ ‚Und trotzdem habe ich etwas Besseres geschrieben als dein Puschkin, denn ich habe es verstanden, auch in ein scherzhaftes Gedicht einen weltlichen Schmerz einzuflechten.‘ Was er da von Puschkin sagt, verstehe ich; aber was schadet es, wenn der tatsächlich ein befähigter Dichter war und doch nur Füßchen besungen hat? Wie stolz war Rakitin auf seine Verschen! Eine Eitelkeit besitzen diese Leute! ‚Auf die Heilung des kranken Füßchens einer von mir hochverehrten Dame‘, das ist die Überschrift, die er sich ausgedacht hat, der dreiste Kerl!
Ach, das liebe Füßchen ist geschwollen,
und die dienstbeflißnen Ärzte wollen
nun mit Binden und dergleichen Dingen
diesem lieben Füßchen Heilung bringen.
Puschkin pries die Füße holder Schönen
einst begeistert in erhabnen Tönen,
doch wenngleich das Füßchen ich bedaure,
mehr ich dennoch um das Köpfchen traure.
Schon begann das Köpfchen zu begreifen,
welche Wünsche mir im Busen reifen.
Und verständnisvoll zu lächeln schienen
– oh, nicht Täuschung war's! — die teuren Mienen.
Ach, des Köpfchens einziger Gedanke
ist das Füßchen jetzt, das liebe, kranke!
Möge Heilung ihm der Himmel schenken,
und das Köpfchen möge mein gedenken.
Ein gemeiner Kerl ist er, ein grundgemeiner Kerl, aber es ist bei ihm doch ziemlich humoristisch herausgekommen! Und er hat wirklich etwas Weltschmerz eingeflochten. Doch wie wütend er war, als sie ihn ‚rausschmiß! Er knirschte geradezu mit den Zähnen!«
»Er hat sich bereits gerächt«, sagte Aljoscha! »Er hat über Frau Chochlakowa einen Zeitungsartikel geschrieben.«
Und Aljoscha erzählte ihm kurz von dem Artikel in der Zeitung »Gerüchte«.
»Das ist er gewesen, das ist er gewesen!« stimmte ihm Mitja, mit finsterer Miene zu! »Diese Artikel kenne ich … Das heißt, ich weiß, wie viele Gemeinheiten schon geschrieben worden sind, über Gruscha zum Beispiel. Und auch über die andere, über Katja … Hm!«
Er ging sorgenvoll im Zimmer auf und ab.
»Bruder, ich kann nicht mehr lange hierbleiben«, sagte Aljoscha nach kurzem Schweigen! »Morgen ist für dich ein schrecklicher, ein wichtiger Tag. Gottes Gericht wird sich an dir vollziehen … Und da wundere ich mich, daß du statt von dem Wichtigsten von wer weiß was redest …«
»Nein, wundere dich darüber nicht!« unterbrach ihn Mitja hitzig! »Wozu sollen wir von diesem stinkenden Hund, dem Mörder, reden? Davon haben wir beide schon genug gesprochen. Ich will von dem stinkenden Sohn der Stinkenden nichts mehr hören! Gott wird ihn töten, das wirst du sehen! Kein Wort mehr über ihn!«
Er trat in großer Erregung zu Aljoscha und küßte ihn plötzlich. Seine Augen brannten.
»Rakitin würde das nicht begreifen«, fuhr er fort, dabei schien er ganz erfüllt von einer eigenartigen Begeisterung! »Aber du, du wirst alles begreifen. Deswegen habe ich mich so nach dir gesehnt. Siehst du, ich wollte dir hier in diesen kahlen Mauern schon längst vieles mitteilen, doch das Wichtigste habe ich dir verschwiegen. Immerzu schien mir die rechte Zeit dafür noch nicht gekommen. So ist jetzt, vor lauter Warten, der letzte Augenblick da, wo ich dir mein Herz ausschütten kann … Bruder, ich habe in diesen letzten zwei Monaten einen neuen Menschen in mir gespürt, ein neuer Mensch ist in mir auferstanden! Er war in mir eingeschlossen, und er wäre nie zutage getreten, wäre nicht dieses Unwetter über mich niedergegangen. Es ist furchtbar! Was liegt mir daran, daß ich in den Bergwerken zwanzig Jahre lang Erz klopfen werde — davor fürchte ich mich nicht! Etwas anderes ist es, was mich ängstigt: Dieser auferstandene Mensch könnte aus mir entweichen! Man kann auch dort, in den Bergwerken, unter der Erde, neben sich, in einem Sträfling und Mörder ein menschliches Herz finden und ihm nähertreten, auch dort kann man leben und lieben und leiden! Man kann in diesem Sträfling das erstarrte Herz auferwecken und wiederbeleben, man kann ihn jahrelang liebevoll pflegen und endlich eine hohe Seele und einen Geist aus der dunklen Höhle zum Licht emporheben, der sich seines Märtyrertums bewußt ist, man kann einen Engel aus dem Grab erwecken und einen Helden auferstehen lassen! Und ihrer sind viele, ihrer sind Hunderte — und wir alle sind an ihren Sünden schuld! Warum habe ich damals, in einem solchen Augenblick, von dem ‚Kindelein‘ geträumt? Warum ist das ‚Kindelein‘ arm? Das war seinerzeit für mich eine Prophezeiung! Für das ‚Kindelein‘ werde ich nach Sibirien gehen. Denn alle sind wir für alle schuldig. Für alle ‚Kindelein‘: es gibt kleine Kinder und große Kinder. Alle sind ‚Kindelein‘. Für alle werde ich nach Sibirien gehen, denn einer muß doch für alle hingehen. Ich habe den Vater nicht getötet, trotzdem muß ich hingehen. Ich nehme es auf mich! Mir ist hier diese Erkenntnis aufgegangen … Hier in diesen kahlen Mauern. Aber es sind ihrer ja viele, es sind ihrer Hunderte dort unter der Erde, mit Hämmern in den Händen. O ja, wir werden in Ketten und ohne Freiheit sein, doch wir werden in unserem großen Leid von neuem zur Freude auferstehen, ohne die der Mensch nicht leben, ja ohne die selbst Gott nicht sein kann, denn Gott spendet Freude: Das ist sein großes Vorrecht … O Gott, der Mensch muß weich werden im Gebet! Wie könnte ich dort unter der Erde ohne Gott sein? Rakitin lügt: Wenn sie Gott von der Erde vertreiben, werden wir Ihn unter der Erde finden! Für einen Sträfling ist es unmöglich, ohne Gott zu leben, noch unmöglicher als für jemand, der kein Sträfling ist. Und dann werden wir dort unter der Erde unserem Gott aus den Eingeweiden der Erde eine tragische Hymne anstimmen, Ihm, unserem Gott, bei dem die Freude ist! Es lebe Gott und seine Freude! Ich liebe Ihn!«
Während dieser erregten Worte war Mitja ganz außer Atem gekommen. Er war blaß geworden, seine Lippen zitterten, und Tränen traten ihm in die Augen.
»Nein, das Leben hat einen reichen Inhalt, es gibt ein Leben auch unter der Erde!« begann er von neuem! »Du glaubst gar nicht, Alexej, wie mich jetzt verlangt zu leben, was für Durst nach Dasein und Erkenntnis ich gerade innerhalb dieser kahlen Mauern bekommen habe! Rakitin hat dafür kein Verständnis, der will weiter nichts, als sich ein Haus bauen und Mieter hineinnehmen! Was ist schon das Leiden? Ich fürchte es nicht mehr, früher habe ich es gefürchtet. Weißt du, vielleicht werde ich vor Gericht überhaupt keine Antwort geben … Ich glaube, ich besitze jetzt so viel von dieser Kraft, daß ich alles überwinden werde, alles Leid, nur um mir fortwährend sagen zu können: ich bin! In tausend Qualen bin ich doch! Ich krümme mich unter der Folter, aber ich bin! Ich sitze im Gefängnis, aber ich lebe und sehe die Sonne! Und selbst wenn ich die Sonne nicht sehe, weiß ich doch, daß sie da ist. Und zu wissen, daß die Sonne da ist — das ist schon Leben. Aljoscha, die verschiedenen Philosophien bringen mich um, hol‘ sie alle der Teufel! Bruder Iwan dagegen …«
»Was ist mit Iwan?« unterbrach ihn Aljoscha, doch Mitja hörte nicht auf ihn.
»Siehst du, früher habe ich von allen diesen Zweifeln nichts gewußt, aber, da lag alles in mir verborgen. Vielleicht gerade weil diese unbestimmten Ideen in mir tobten, trank ich und randalierte und wütete. Um sie in mir zur Ruhe zu bringen, randalierte ich, um sie zu beschwichtigen, zu unterdrücken. Iwan ist anders als Rakitin, er verbirgt seine Ideen. Iwan ist eine Sphinx und schweigt, immerzu schweigt er. Aber mich quält der Gedanke an Gott. Das ist das einzige, was mich quält. Was ist, wenn Er nicht existiert? Wenn Rakitin recht hat, daß das bei der Menschheit nur eine künstliche Idee ist? Wenn Er nicht existiert, ist der Mensch der Herr der Erde und des Weltgebäudes. Ausgezeichnet! Nur: wie will er tugendhaft sein ohne Gott? Das ist die Frage! Daran muß ich immerzu denken. Wen wird er dann lieben, der Mensch? Wem wird er dankbar sein, wem wird er Loblieder singen? Rakitin lacht. Rakitin sagt, man kann die Menschheit auch ohne Gott lieben. Dieser rotzige Schwächling mag das zwar behaupten, doch ich verstehe es nicht. Für Rakitin ist das Leben eine leichte Sache, er sagte heute zu mir: ‚Arbeite lieber an der Erweiterung der sozialen Rechte der Menschheit mit oder wirke wenigstens darauf hin, daß der Fleischpreis nicht steigt! Dadurch kannst du auf einfachere, näherliegende Weise der Menschheit deine Liebe beweisen als durch Philosophien.‘ Ich habe ihm darauf gehörig geantwortet: ‚Und du, der du keinen Gott hast, wirst selber noch den Fleischpreis in die Höhe treiben, wenn dir das vorteilhaft ist, und einen Rubel auf die Kopeke aufschlagen!‘ Da wurde er ärgerlich. Denn was ist Tugend? Beantworte du mir diese Frage, Alexej! Ich habe eine Tugend, und der Chinese eine andere — also ist sie etwas Relatives. Oder nicht? Ist sie nicht relativ? Das ist eine heikle Frage! Du wirst mich nicht auslachen, wenn ich sage, daß ich deswegen zwei Nächte nicht geschlafen habe. Ich wundere mich jetzt nur darüber, daß die Leute so dahinleben, ohne daran zu denken. Das kommt von ihrer Geschäftigkeit. Iwan hat keinen Gott. Er hat nur seine Idee. Das geht über mein Fassungsvermögen. Aber er schweigt. Ich glaube, er ist Freimaurer. Ich habe ihn gefragt, er schweigt. Ich wollte an seinem Brunnen einen Schluck Wasser trinken, er schweigt. Nur ein einziges Mal hat er ein Wörtchen gesagt.«
»Was hat er gesagt?« fragte Aljoscha eilig.
»Ich sagte zu ihm: ‚Dann ist also alles erlaubt, wenn das so ist?‘ Er machte ein finsteres Gesicht. ‚Fjodor Pawlowitsch, unser Papa‘, sagte er, ‚war ein Schwein, doch geurteilt hat er richtig.‘ Das ist alles, was er mir erwiderte. Weiter sagte er nichts. Das ist hinterhältiger als Rakitins Reden.«
»Ja«, stimmte ihm Aljoscha bitter zu! »Wann ist er bei dir gewesen?«
»Davon später. Jetzt noch etwas anderes. Ich habe bisher mit dir fast gar nicht über Iwan gesprochen. Ich schob es bis zum Schluß auf. Sobald diese meine Geschichte hier zu Ende ist und sie das Urteil gefällt haben, werde ich dir etwas erzählen, alles werde ich dir erzählen. Da ist eine seltsame Sache. Und in der sollst du mein Richter sein. Jetzt aber fang nicht davon an, jetzt schweig! Du redest von morgen, von der Gerichtsverhandlung. Doch ob du es glaubst oder nicht — von der weiß ich gar nichts.«
»Hast du mit diesem Rechtsanwalt gesprochen?«
»Was kann mir der helfen? Ich habe ihm alles mitgeteilt. Ein Spitzbube, ein Großstädter, ein Bernard! Er glaubt nicht das geringste von dem, was ich sage. Er glaubt, ich hätte den Mord begangen, stell dir das vor! ‚Warum sind Sie dann hergekommen, um mich zu verteidigen?‘ habe ich ihn gefragt. Ich spucke auf diese Kerle! Auch einen Arzt hat man gerufen, der soll mich für verrückt erklären. Aber ich dulde das nicht! Katerina Iwanowna will ‚ihre Pflicht‘ bis zum Schluß erfüllen. Sie zwingt sich dazu!« Mitja lächelte bitter! »Eine Katze ist sie! Ein grausames Herz hat sie! Sie weiß, daß ich damals in Mokroje über sie gesagt habe, sie sei eine Frau, die eines gewaltigen Zornes fähig ist! Das ist ihr wiedergesagt worden. Ja, die belastenden Aussagen sind zahlreich geworden wie der Sand am Meer! Grigori bleibt bei seiner Aussage. Grigori ist ein ehrenhafter Mann, aber ein Dummkopf. Viele Menschen sind nur deswegen ehrenhaft, weil sie Dummköpfe sind. Das ist ein Gedanke von Rakitin. Grigori ist mir feindlich gesinnt. Manch einen hat man mit größerem Nutzen zum Feind als zum Freund: Das sage ich mit Bezug auf Katerina Iwanowna. Ich fürchte, sie wird vor Gericht von ihrer tiefen Verbeugung nach Empfang der viertausendfünfhundert Rubel erzählen. Restlos wird sie es mir zurückzahlen, bis auf den letzten Heller. Ich will ihr Opfer nicht! Sie wird mich vor Gericht beschämen! Wie soll ich das aushalten! Geh zu ihr, Aljoscha, und bitte sie, sie möchte das vor Gericht nicht sagen. Oder ist das nicht zulässig? Na, zum Teufel, egal, ich werde es schon aushalten! Sie selbst tut mir nicht leid. Sie will es selber so. Wer sich nach eigenem Willen zu Schaden bringt, hat keinen Anspruch auf Mitleid! Ich werde meine Rede halten, Alexej!« Er lächelte wieder bitter! »Nur … Nur Gruscha, Gruscha, o Gott! Warum nimmt sie jetzt so eine Qual auf sich?« rief er plötzlich unter Tränen! »Der Gedanke an Gruscha tötet mich geradezu! Sie war heute bei mir …«
»Sie hat es mir erzählt. Du hast sie heute sehr gekränkt.«
»Ich weiß. Hol‘ der Teufel meinen verdammten Charakter! Ich war eifersüchtig. Als sie wegging, bereute ich es und küßte sie. Aber ich bat sie nicht um Verzeihung.«
»Warum hast du das nicht getan?« rief Aljoscha.
Mitja schlug ein beinahe vergnügtes Gelächter an.
»Gott bewahre dich lieben Jungen davor, jemals eine geliebte Frau wegen eines Verschuldens um Verzeihung zu bitten. Und besonders eine heißgeliebte Frau, ganz besonders so eine darfst du nicht um Verzeihung bitten, sosehr du dich auch gegen sie vergangen hast! Eine Frau, lieber Bruder, ist ein eigentümliches Wesen; wenigstens darüber weiß ich Bescheid! Versuch nur einmal, dich vor einer schuldig zu bekennen, und sag: ‚Ich habe mich vergangen, entschuldige, verzeih!‘ Schon wirst du sehen, was für ein Hagel von Vorwürfen auf dich niedergeht! Um keinen Preis wird sie dir einfach und ohne weiteres verzeihen, sondern sie wird dich hundsgemein herunterputzen, wird dir Dinge vorhalten, die niemals geschehen sind, wird alles hervorholen, ohne etwas zu vergessen, sondern eher noch Erfundenes hinzufügen — erst dann wird sie dir verzeihen. Und die es so machen, sind noch die besten von ihnen, die besten! Den letzten Fetzen Haut wird dir so ein Weib abkratzen, eine solche Lust zur Schinderei steckt in ihnen, kann ich dir sagen, in allen ohne Ausnahme, in diesen Engeln, ohne die wir nicht leben können! Siehst du, mein Täubchen, ich will frei und offen reden: Jeder ordentliche Mann muß unter dem Pantoffel wenigstens einer Frau stehen. Das ist meine Überzeugung oder mehr noch: mein Gefühl. Der Mann muß sich großmütig fügen, und das gereicht ihm nicht zur Schande, nicht einmal einem Helden, nicht einmal einem Cäsar! Aber um Verzeihung darfst du trotzdem nicht bitten, niemals und um keinen Preis! Vergiß diese Regel nicht, sie hat dich dein Bruder Mitja gelehrt, der durch die Weiber zugrunde gegangen ist. Nein, ich will Gruscha lieber auf irgendeine andere Weise wieder besänftigen, ohne um Verzeihung zu betteln. Ich verehre sie in Demut, Alexej, ja, das tue ich! Sie sieht das nur nicht; sie meint immer, meine Liebe zu ihr wäre nicht groß genug. Und so quält sie mich, durch ihre Liebe quält sie mich. Früher war das anders. Früher quälten mich nur ihre teuflisch schönen Formen, doch jetzt habe ich ihre ganze Seele in mich aufgenommen und bin selber erst durch sie ein Mensch geworden! Ob es zugelassen wird, daß wir uns heiraten? Sonst werde ich vor Eifersucht sterben. So etwas träume ich alle Tage … Was hat sie über mich gesagt?«
Aljoscha wiederholte alles, was er von Gruschenka gehört hatte. Mitja hörte aufmerksam zu, stellte viele Fragen und war schließlich zufrieden.
»Also ist sie mir nicht böse, daß ich eifersüchtig bin?« rief er aus! »Eine echte Frau! ‚Ich habe selber ein wildes Herz‘ hat sie gesagt. Oh, ich liebe solche Frauen mit wilden Herzen, obwohl ich es nicht leiden kann, wenn sie meinetwegen eifersüchtig sind. Nein, das kann ich gar nicht leiden! Wir werden uns gegenseitig prügeln, aber lieben, lieben werde ich sie grenzenlos! Wird es gestattet, daß wir uns heiraten? Dürfen Sträflinge heiraten? Das ist die Frage. Aber ohne sie kann ich nicht leben …«
Mitja ging mit finsterer Miene auf und ab. Es war fast dunkel im Zimmer geworden. Auf einmal wurde er sehr sorgenvoll.
»Also ein Geheimnis, sagt sie? Sie meint, wir hätten zu dritt eine Verschwörung gegen sie geplant, und Katka sei daran beteiligt? Nein, Bruder! Nein, Gruschenka! Das ist nicht so. Da hast du einen Fehler gemacht, einen typisch weiblichen dummen Fehler! Aljoscha, Täubchen, ach was — mag daraus werden, was will! Ich werde dir unser Geheimnis enthüllen!«
Er sah sich nach allen Seiten um, trat dann hastig dicht an Aljoscha heran und flüsterte mit geheimnisvoller Miene auf ihn ein, obwohl sie in Wirklichkeit niemand belauschen konnte, denn der alte Wächter schlummerte in der Ecke auf einer Bank, und bis zu den wachestehenden Soldaten konnte kein verständliches Wort gelangen.
»Ich werde dir unser ganzes Geheimnis enthüllen!« flüsterte Mitja eilig! »Ich wollte es dir später ja sowieso enthüllen; ohne dich kann ich doch keinen Entschluß fassen. Du bist für mich die höchste Autorität. Wenn ich auch sage, daß Iwan höher steht als wir, ist doch nur deine Entscheidung maßgebend. Und vielleicht stehst du doch am höchsten, und nicht Iwan … Siehst du, es handelt sich um eine Gewissenssache, im höchsten Sinne um eine Gewissenssache! Es ist so ein wichtiges Geheimnis, daß ich selbst nicht damit zurechtkommen kann und die Entscheidung aufgehoben habe, bis ich dich befragt habe. Trotzdem ist es jetzt noch zu früh, eine Entscheidung zu treffen, denn wir müssen erst den Urteilsspruch abwarten. Sobald das Urteil verkündet ist, sollst du mein Schicksal entscheiden. Fäll jetzt noch keine Entscheidung. Ich werde dir sogleich sagen, worum es sich handelt; du wirst zuhören, aber fäll noch keine Entscheidung. Steh da und schweig! Ich werde dir nicht alles enthüllen, sondern nur den Hauptgedanken, ohne auf Einzelheiten einzugehen, du aber schweig! Keine Frage, keine Bewegung — einverstanden? Doch o Gott, was soll ich mit deinen Augen anfangen? Ich fürchte, in deinen Augen wird deine Entscheidung zu lesen sein, auch wenn du schweigst. O weh, das fürchte ich! Aljoscha, höre. Iwan hat mir vorgeschlagen zu fliehen. Die Einzelheiten lasse ich weg; es ist alles vorbereitet, es wird sich alles machen lassen. Schweig, entscheide noch nichts! Nach Amerika soll ich gehen, mit Gruscha. Ohne Gruscha kann ich ja nicht leben. Und wenn man sie in Sibirien nicht zu mir läßt? Dürfen Sträflinge heiraten? Iwan sagt, nein. Aber ohne Gruscha, was soll ich da unter der Erde mit dem Hammer? Ich werde mir mit diesem Hammer nur den Kopf zerschmettern! Und auf der anderen Seite das Gewissen! Ich bin ja dann vor dem Leiden geflohen! Es war ein Fingerzeig Gottes, den ich in dem Fall verschmähte! Mir war ein Weg zur Läuterung gezeigt, ich aber wandte mich von ihm weg nach links. Iwan sagt, man könnte in Amerika ‚mit guten Vorsätzen‘ mehr Nutzen bringen als in Sibirien unter der Erde. Aber unsere unterirdische Hymne, was wird aus der? Was ist Amerika? Amerika, das bedeutet wieder hastige Geschäftigkeit! Und auch Gaunerei gibt es in Amerika viel, glaube ich. Ich bin dann vor der Kreuzigung geflohen! Dir, Alexej, sage ich das, weil du allein das verstehen kannst, sonst niemand! Für andere ist das, was ich dir über die Hymne gesagt habe, alles nur Dummheit und Fieberwahn. Sie würden sagen, ich bin verrückt oder ein Dummkopf. Aber ich bin nicht verrückt geworden, und ich bin kein Dummkopf! Auch Iwan versteht das von der Hymne, o ja, er versteht es! Doch er antwortet nicht darauf, er schweigt! Er glaubt nicht an die Hymne. Sprich nicht, ich sehe ja, was du für ein Gesicht machst! Du hast deine Entscheidung schon getroffen! Triff sie noch nicht, schone mich, ich kann ohne Gruscha nicht leben, warte bis zum gerichtlichen Urteil!«
Mitja verstummte; er war wie von Sinnen. Er packte Aljoscha mit beiden Händen an den Schultern und bohrte seinen dürstenden, brennenden Blick gleichsam in dessen Augen hinein.
»Darf ein Sträfling heiraten?« fragte er zum drittenmal flehentlich.
Aljoscha hatte verwundert zugehört und war tief erschüttert! »Sag mir nur das eine«, antwortete er! »Dringt Iwan sehr auf die Ausführung dieses Planes? Und wer hat ihn sich ausgedacht?«
»Er, er hat ihn sich ausgedacht, und er dringt sehr darauf! Er war die ganze Zeit nicht zu mir gekommen; auf einmal, vor einer Woche, kam er und fing unvermittelt damit an. Er dringt gewaltig auf die Ausführung. Er bittet nicht, er befiehlt. Er zweifelt nicht daran, daß ich ihm gehorchen werde, obgleich ich ihm ebenso wie dir mein ganzes Herz ausgeschüttet und ihm auch von der Hymne erzählt habe. Er hat mir auch auseinandergesetzt, wie die Sache organisiert werden muß; er hat sich nach allem aufs genaueste erkundigt, doch davon später! Er wünscht es mit geradezu krankhaftem Eifer. Die Hauptsache ist das Geld. ‚Zehntausend Rubel‘, sagt er, ‚bekommst du zur Bewerkstelligung der Flucht und zwanzigtausend für Amerika. Für die zehntausend Rubel werden wir eine großartige Flucht zuwege bringen.‘ «
»Und er hat dir ausdrücklich verboten, es mir mitzuteilen?« fragte Aljoscha von neuem.
»Er sagte, ich soll es niemandem mitteilen, am wenigsten dir. Dir unter keinen Umständen! Er fürchtet offenbar, du würdest als mein Gewissen vor mir stehen. Sag ihm nichts davon, daß ich es dir berichtet habe! Sag es ihm ja nicht!«
»Du hast recht«, erwiderte Aljoscha! »Vor dem Urteilsspruch des Gerichts kann man keine Entscheidung treffen. Nach dem Urteilsspruch wirst du selber entscheiden. Dann wirst du selbst in dir einen neuen Menschen vorfinden: Der wird die Entscheidung treffen.«
»Einen neuen Menschen! Oder einen Bernard, und der wird dann à la Bernard entscheiden! Denn ich glaube, ich bin selbst so ein verächtlicher Bernard!« sagte Mitja mit bitterem Lächeln.
»Aber Bruder, hoffst du wirklich gar nicht mehr auf einen Freispruch?«
Mitja hob krampfhaft die Schultern und schüttelte verneinend den Kopf.
»Aljoscha, Täubchen, es ist Zeit, daß du gehst!« sagte er plötzlich eilig! »Der Inspektor hat auf dem Hof gerufen, er wird gleich herkommen. Wir haben die Zeit schon überschritten, das ist ein Verstoß gegen die Ordnung. Umarme mich schnell, küsse mich und bekreuzige mich, Täubchen! Bekreuzige mich für mein morgiges Leiden!«
Sie umarmten und küßten sich.
Dann sagte Mitja auf einmal: »Iwan rät mir zu fliehen und glaubt dabei selber, daß ich den Mord begangen habe!«
Ein trauriges Lächeln erschien auf seinen Lippen.
»Hast du ihn gefragt, ob er es glaubt?« fragte Aljoscha.
»Nein, gefragt habe ich ihn nicht. Ich wollte ihn fragen, bekam es aber nicht fertig; ich fand nicht die Kraft dazu. Doch ich sehe es ihm schon an den Augen an. Nun, lebe wohl!«
Sie küßten sich noch einmal eilig, und Aljoscha wollte schon hinausgehen, als Mitja ihn plötzlich wieder zurückrief:
»Stell dich vor mich, so!«
Und er faßte Aljoscha wieder mit beiden Händen fest an den Schultern. Sein Gesicht wurde auf einmal so blaß, daß es selbst in der Dunkelheit zu bemerken war. Seine Lippen verzerrten sich, sein Blick haftete starr auf Aljoscha.
»Aljoscha, sag mir die volle Wahrheit, wie vor Gott dem Herrn: Glaubst du, daß ich den Mord begangen habe, oder glaubst du es nicht? Du, du selbst: Glaubst du es oder nicht? Sag die volle Wahrheit, lüg nicht!« schrie er außer sich.
Aljoscha hatte das Gefühl, als ob alles um ihn herum schwankte und ihm ein Stich durchs Herz ging.
»Hör auf, was hast du …«, stammelte er fassungslos.
»Die ganze Wahrheit, die ganze Wahrheit! Lüg nicht!« wiederholte Mitja.
»Nicht eine Sekunde habe ich geglaubt, daß du der Mörder bist!« kam es plötzlich mit zitternder Stimme aus Aljoschas Brust, und er hob die rechte Hand, als wollte er Gott zum Zeugen seiner Worte anrufen.
Mitjas Gesicht leuchtete augenblicklich vor Glückseligkeit auf! »Ich danke dir«, sagte er gedehnt, und es klang wie ein Seufzer nach einer Ohnmacht! »Du hast mir ein neues Leben geschenkt … Ob du es glaubst oder nicht — bis jetzt habe ich mich davor gefürchtet, dich zu fragen! So, nun geh, geh! Du hast mich für morgen gestärkt, Gott segne dich dafür! Nun geh und hab Iwan lieb!« Das war das letzte Wort, das aus seiner Brust kam.
Aljoscha ging tränenüberströmt hinaus. So viel Argwohn von seiten Mitjas, so viel Mißtrauen sogar ihm, Aljoscha, gegenüber, das zeugte von hoffnungslosem Kummer und so tiefer Verzweiflung in der Seele seines unglücklichen Bruders, wie er es nicht geahnt hatte. Unendliches Mitleid packte ihn und quälte ihn plötzlich sehr; sein zerrissenes Herz schmerzte unerträglich.
Er mußte an die Worte denken, die Mitja eben gesprochen hatte: »Hab Iwan lieb!« Und nun ging er zu diesem Iwan. Er hatte ihn schon am Vormittag dringend sprechen wollen. Nicht weniger Sorge als Mitja bereitete ihm Iwan, erst recht jetzt, nach der Begegnung mit dem ältesten Bruder.