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5. Nicht du, nicht du!

Auf dem Weg zu Iwan mußte er an dem Haus vorbei, wo Katerina Iwanowna wohnte. Die Fenster waren hell. Er blieb plötzlich stehen und beschloß hineinzugehen. Katerina Iwanowna hatte er schon über eine Woche nicht gesehen. Doch ihm ging vor allem der Gedanke durch den Kopf, Iwan könnte vielleicht bei ihr sein, gerade jetzt, am Vorabend eines solchen Tages. Er klingelte, und als er die von einer chinesischen Laterne matt erleuchtete Treppe hinaufstieg, sah er jemand von oben herunterkommen. Als sie einander näher gekommen waren, erkannte er seinen Bruder. Der kam also bereits von Katerina Iwanowna.

»Ach, du bist es nur«, sagte Iwan Fjodorowitsch trocken.

»Na, lebe wohl. Du willst zu ihr?«

»Ja.«

»Ich rate dir nicht dazu. Sie ist erregt, und du machst das nur noch schlimmer.«

»Nein, nein!« rief plötzlich eine Stimme von oben aus einer Tür, die schnell geöffnet wurde! »Alexej Fjodorowitsch, kommen Sie von ihm?«

»Ja, ich war bei ihm.«

»Läßt er mir etwas sagen? Kommen Sie herein, Aljoscha. Und auch Sie, Iwan Fjodorowitsch, kommen Sie noch einmal zurück, ich bitte dringend darum, hören Sie?«

Katjas Stimme klang so gebieterisch, daß sich Iwan Fjodorowitsch nach kurzem Zögern dennoch entschloß, zusammen mit Aljoscha wieder hinaufzugehen.

»Sie hat gelauscht!« flüsterte er gereizt vor sich hin; Aljoscha hörte es.

»Gestatten Sie mir, den Überzieher anzubehalten«, sagte Iwan Fjodorowitsch, als er in den Salon trat! »Ich möchte mich auch nicht setzen. Ich werde nur eine Minute bleiben.«

»Setzen Sie sich, Alexej Fjodorowitsch«, sagte Katerina Iwanowna, blieb jedoch selbst stehen.

Sie hatte sich in der Zwischenzeit wenig verändert, nur in ihren dunklen Augen funkelte jetzt ein böses Feuer. Aljoscha erinnerte sich später, daß sie ihm in diesem Augenblick sehr schön erschienen war.

»Was läßt er mir sagen?«

»Nur eines«, antwortete Aljoscha und blickte ihr offen ins Gesicht! »Sie möchten Rücksicht auf sich selber nehmen und vor Gericht nichts darüber aussagen … Was zwischen Ihnen … Bei Ihrer ersten Bekanntschaft … vorgegangen ist …«

»Ah, er meint die Verbeugung, die ich vor ihm aus Dankbarkeit für das Geld machte!« unterbrach sie ihn und lachte stolz auf! »Wie ist das, hat er da Angst um sich oder um mich? Er hat gesagt, ich möchte Rücksicht nehmen — auf wen soll ich Rücksicht nehmen? Auf ihn oder auf mich? Reden Sie, Alexej Fjodorowitsch!«

Aljoscha, bemüht, sie zu verstehen, blickte sie unverwandt an.

»Auf sich und auch auf ihn«, sagte er leise.

»Soso!« sagte sie scharf und zornig und errötete plötzlich! »Sie kennen mich noch nicht, Alexej Fjodorowitsch«, fuhr sie in drohendem Ton fort! »Und auch ich selbst kenne mich noch nicht. Vielleicht werden Sie mich morgen nach der Zeugenvernehmung mit den Füßen zerstampfen wollen.«

»Sie werden ehrlich aussagen«, erwiderte Aljoscha! »Weiter ist gar nichts nötig.«

»Eine Frau ist oft unehrlich«, antwortete sie! »Noch vor einer Stunde dachte ich, es müßte schrecklich sein, mit diesem Unmenschen in Berührung zu kommen … wie mit einem häßlichen Reptil … Aber nein, er ist für mich doch noch ein Mensch! Hat er nun den Mord begangen? Hat er es getan?« rief sie kreischend, wobei sie sich schnell zu Iwan Fjodorowitsch umwandte.

Aljoscha begriff sofort, daß sie Iwan diese Frage schon vorher gestellt hatte, vielleicht erst kurz bevor er selbst gekommen war, und zwar nicht zum ersten-, sondern wohl zum hundertstenmal, und daß dieses Gespräch mit einem Streit geendet hatte.

»Ich bin bei Smerdjakow gewesen«, fuhr sie fort, noch immer an Iwan Fjodorowitsch gewandt! »Du bist es gewesen, der mich zu der Überzeugung gebracht hat, daß er ein Vatermörder ist. Nur dir habe ich geglaubt!«

Iwan lächelte gezwungen. Aljoscha zuckte zusammen, als er dieses Du hörte; ein solches Verhältnis zwischen den beiden hatte er nicht ahnen können.

»Nun aber genug«, schnitt Iwan das Gespräch ab! »Ich gehe. Morgen werde ich wiederkommen,« Nach diesen Worten drehte er sich um, verließ das Zimmer und ging hinaus auf die Treppe.

Katerina Iwanowna ergriff plötzlich mit einer herrischen Gebärde Aljoschas Hand.

»Gehen Sie ihm nach! Verlassen Sie ihn keinen Augenblick!« flüsterte sie ihm zu! »Er ist wahnsinnig. Wissen Sie nicht, daß er wahnsinnig ist? Er hat Fieber, ein Nervenfieber! Der Arzt hat es mir gesagt. Gehen Sie, laufen Sie ihm nach …«

Aljoscha sprang auf und stürzte Iwan Fjodorowitsch hinterher. Dieser war noch nicht fünfzig Schritte entfernt.

»Was willst du?« fragte er, als er merkte, daß Aljoscha ihm folgte! »Sie hat dir befohlen, mir nachzulaufen, weil ich verrückt sein soll. Ich weiß es, ohne daß mir das jemand sagt«, fügte er gereizt hinzu.

»Sie irrt sich selbstverständlich. Aber daß du krank bist, darin hat sie recht«, sagte Aljoscha! »Ich habe eben dein Gesicht gesehen, du siehst sehr krank aus, Iwan!«

Iwan blieb nicht stehen. Aljoscha lief neben ihm.

»Weißt du, Alexej Fjodorowitsch, wie man den Verstand verliert?« fragte Iwan ganz plötzlich mit leiser, gar nicht mehr gereizter Stimme, aus der nur harmlose Neugier herauszuhören war.

»Nein, das weiß ich nicht. Ich denke mir, daß es viele verschiedene Arten von Verrücktheit gibt.«

»Und kann man an sich selbst beobachten, wie man den Verstand verliert?«

»Ich glaube, es ist nicht möglich, das an sich selbst deutlich zu verfolgen«, antwortete Aljoscha.

Iwan schwieg lange.

»Wenn du mit mir über etwas reden willst, dann wechsle bitte das Thema«, sagte er plötzlich.

»Ehe ich es vergesse; da ist ein Brief an dich«, sagte Aljoscha schüchtern, zog Lisas Brief aus der Tasche und gab ihn Iwan. Sie waren gerade an einer Laterne. Iwan erkannte die Handschrift sofort.

»Ah, das ist von diesem Teufelchen«, sagte er mit boshaftem Lachen, dann zerriß er, ohne das Kuvert zu öffnen, den ganzen Brief in mehrere Stücke und warf sie in den Wind. Die Fetzen flogen auseinander.

»Noch keine sechzehn Jahre alt, glaube ich, und bietet sich schon an!« sagte er verächtlich und lief weiter.

»Was heißt das, sie bietet sich an?« fragte Aljoscha.

»Das ist doch bekannt, wie sich liederliche Weiber anbieten!«

»Was redest du da, Iwan, was redest du da?« sagte Aljoscha betrübt, aber entschieden! »Sie ist ein Kind, du beleidigst ein Kind! Sie ist krank, sie ist selbst sehr krank, auch sie wird vielleicht den Verstand verlieren … Ich mußte dir doch ihren Brief übergeben … Ich hätte vielmehr gern etwas von dir erfahren, um sie zu retten.«

»Du wirst nichts von mir erfahren. Wenn sie ein Kind ist, bin ich nicht ihre Wärterin. Schweig, Alexej! Sprich nicht mehr davon! Ich denke überhaupt nicht mehr an diese Geschichte.«

Sie schwiegen wieder eine längere Zeit.

»Jetzt wird sie die ganze Nacht zur Muttergottes beten, damit diese ihr kundtut, wie sie morgen vor Gericht auftreten soll«, sagte er wieder in scharfem, boshaftem Ton.

»Du sprichst von Katerina Iwanowna?«

»Ja. Ob sie Mitja retten oder vernichten soll! Sie wird die Muttergottes bitten, ihrer Seele darüber eine Erleuchtung zukommen zu lassen. Sie selbst weiß es noch nicht, sie ist sich darüber noch nicht klargeworden. Auch sie möchte mich zur Kinderfrau haben, damit ich sie einlulle.«

»Katerina Iwanowna liebt dich, Bruder«, sagte Aljoscha bekümmert.

»Kann sein. Aber ich mag sie nicht.«

»Sie leidet. Warum sagst du ihr manchmal Worte, derentwegen sie sich Hoffnungen macht?« fuhr Aljoscha mit schüchternem Vorwurf fort! »Ich weiß, daß du Hoffnungen bei ihr erweckt hast … Verzeih, daß ich so rede«, fügte er hinzu.

»Ich kann bei ihr nicht so verfahren, wie ich eigentlich müßte, das heißt, mit ihr brechen und es ihr geradeheraus sagen!« erwiderte Iwan gereizt! »Ich muß warten, bis das Gericht das Urteil über den Mörder gefällt hat. Wenn ich jetzt mit ihr breche, wird sie diesen Unmenschen morgen vor Gericht vernichten, um sich an mir zu rächen, denn sie haßt ihn und ist sich ihres Hasses bewußt. Hier ist alles Unwahrhaftigkeit und Lüge! Jetzt aber, solange ich noch nicht mit ihr gebrochen habe, hofft sie immer noch und wird diesen Unmenschen nicht zugrunde richten, weil sie weiß, wie sehr ich ihm aus der Patsche helfen möchte. Wann wird nur endlich dieses verfluchte Urteil gefällt!«

Die Wörter »Mörder« und »Unmensch« ließen Aljoschas Herz schmerzlich zusammenzucken.

»Wodurch könnte sie denn den Bruder zugrunde richten?« fragte er und dachte über Iwans Worte nach! »Was kann sie denn so Belastendes aussagen, daß er dadurch ohne weiteres vernichtet werden kann?«

»Du weißt das noch nicht. Sie hat ein Schriftstück von Mitja in Händen, welches mit mathematischer Sicherheit beweist, daß er Fjodor Pawlowitsch totgeschlagen hat.«

»Das ist nicht möglich!« rief Aljoscha.

»Wieso nicht möglich? Ich habe es selbst gelesen.«

»Ein solches Schriftstück kann es nicht geben!« wiederholte Aljoscha mit Wärme! »Das ist unmöglich, weil er nicht der Mörder ist. Er hat den Vater nicht ermordet, er nicht!«

Iwan Fjodorowitsch blieb plötzlich stehen.

»Wer ist denn deiner Ansicht nach der Mörder?« fragte er äußerlich kalt; in der Frage lag sogar ein gewisser Hochmut.

»Du weißt selbst, wer es gewesen ist«, antwortete Aljoscha leise und nachdrücklich.

»Wer es gewesen ist? Meinst du das Märchen von diesem verrückten Idioten, dem Epileptiker? Von Smerdjakow?«

Aljoscha fühlte auf einmal, wie er am ganzen Körper zitterte! »Du weißt selbst, wer es gewesen ist!« entfuhr es ihm matt und kraftlos.

Er rang mühsam nach Atem.

»Wer denn nun, wer denn?« schrie Iwan nun schon sehr wütend. Seine ganze Selbstbeherrschung war auf einmal verschwunden.

»Ich weiß nur das eine«, sagte Aljoscha noch immer leise, beinahe flüsternd! »Nicht du hast den Vater ermordet.«

»Nicht du! Was soll das heißen, nicht du?« fragte Iwan und blieb wie erstarrt stehen.

»Nicht du hast den Vater ermordet, nicht du!« wiederholte Aljoscha mit fester Stimme.

Das Schweigen dauerte fast eine halbe Minute.

»Das weiß ich selber, daß ich es nicht getan habe! Redest du im Fieber?« sagte Iwan; sein Gesicht war blaß und hatte ein verkrampftes Lächeln. Er starrte Aljoscha unverwandt an.

Sie standen wieder an einer Laterne.

»Nein, Iwan! Du hast dir selbst mehrere Male gesagt, daß du der Mörder bist.«

»Wann habe ich das gesagt? Ich bin in Moskau gewesen … Wann soll ich das gesagt haben?« stammelte Iwan fassungslos.

»Du hast dir das oft gesagt, wenn du in diesen schrecklichen zwei Monaten allein warst«, fuhr Aljoscha leise und bestimmt

fort. Er sprach jetzt wie in einer Art Verzückung, gewissermaßen nicht nach seinem eigenen Willen, sondern einem unwiderstehlichen Befehl gehorchend! »Du hast dich beschuldigt und vor dir bekannt, daß kein anderer der Mörder ist als du. Aber nicht du hast ihn ermordet, da irrst du dich. Nicht du bist der Mörder, hörst du, was ich sage? Nicht du! Mich hat Gott geschickt, dir das zu sagen.«

Beide schwiegen wieder. Eine ganze lange Minute dauerte dieses Schweigen. Beide standen da, blaß, Auge in Auge. Auf einmal ging eine heftige Erschütterung durch Iwans Körper, und er packte Aljoscha an der Schulter.

»Du bist bei mir gewesen!« flüsterte er zähneknirschend! »Du bist in der Nacht bei mir gewesen, als er kam … Gib es zu! Du hast ihn gesehen, ja?«

»Von wem redest du? Von Mitja?« fragte Aljoscha erstaunt.

»Von dem rede ich nicht, hol‘ der Teufel diesen Unmenschen!« schrie Iwan wütend! »Du weißt also, daß er immer zu mir kommt? Wie hast du es erfahren? Sprich!«

»Wer denn? Ich weiß nicht, von wem du sprichst«, stotterte Aljoscha, der jetzt ganz ängstlich wurde.

»Nein, du weißt es! Wie könntest du sonst … Unmöglich, daß du es nicht wissen solltest …«

Doch auf einmal schien er seine Selbstbeherrschung zurückzugewinnen. Er stand da und überlegte. Ein seltsames Lächeln verzog seine Lippen.

»Bruder!« begann Aljoscha mit zitternder Stimme von neuem! »Ich habe dir das gesagt, weil du meinen Worten glauben wirst, das weiß ich. Ich habe dir das für dein ganzes Leben gesagt: ‚Nicht du!‘ Hörst du, für dein ganzes Leben! Gott hat es mir auf die Seele gelegt, dir das zu sagen, selbst wenn du mich von dieser Stunde an für immer hassen solltest …«

Iwan Fjodorowitsch schien sich aber schon wieder ganz in der Gewalt zu haben.

»Alexej Fjodorowitsch!« sagte er mit einem kalten Lächeln! »Ich kann Propheten und Epileptiker nicht ausstehen, und am allerwenigsten Abgesandte Gottes, das wissen Sie sehr wohl. Von diesem Augenblick an breche ich mit Ihnen, und ich glaube, für immer. Ich bitte Sie, mich sofort, gleich an dieser Straßenkreuzung, zu verlassen. Der Weg zu Ihrer Wohnung führt sowieso durch diese Quergasse! Und hüten Sie sich besonders, heute zu mir zu kommen! Hören Sie?«

Er wandte sich von ihm ab und ging mit festen Schritten davon, ohne sich umzusehen.

»Bruder!« rief ihm Aljoscha nach! »Wenn heute irgend etwas mit dir geschieht, dann denk vor allen Dingen an mich!«

Aber Iwan antwortete nicht mehr. Aljoscha blieb so lange unter der Laterne an der Straßenkreuzung stehen, bis Iwan ganz in der Dunkelheit verschwunden war. Dann drehte er sich um und ging durch die Seitengasse langsam zu seiner Wohnung. Er und Iwan Fjodorowitsch wohnten für sich, in verschiedenen Wohnungen; keiner von ihnen hatte in dem leeren Haus von Fjodor Pawlowitsch bleiben mögen. Aljoscha hatte ein möbliertes Zimmer bei einer Kleinbürgerfamilie gemietet, und Iwan Fjodorowitsch wohnte, ziemlich weit von ihm, in einer geräumigen, recht komfortablen Wohnung im Seitenflügel eines schönen Hauses, das einer wohlhabenden Beamtenwitwe gehörte. Zu seiner Bedienung hatte er in dem ganzen Seitenflügel nur eine völlig taube alte Frau, die stark an Rheuma litt und sich um sechs Uhr abends hinlegte und um sechs Uhr morgens aufstand. Er war in diesen zwei Monaten erstaunlich anspruchslos geworden und war am liebsten ganz allein. Er räumte sogar das Zimmer, das er benutzte, selbst auf; in die übrigen Zimmer seiner Wohnung kam er überhaupt nur selten. Als Iwan am Tor seines Hauses angelangt war und schon den Klingelgriff berührte, hielt er auf einmal inne. Er fühlte, daß er vor Wut noch immer am ganzen Körper zitterte. Plötzlich ließ er die Klingel wieder los, spuckte aus, drehte sich um und ging schnell zum entgegengesetzten Ende der Stadt, etwa zwei Werst von seiner Wohnung entfernt, zu einem winzigen, schiefen Häuschen aus unverschalten Balken, in dem Marja Kondratjewna wohnte, die ehemalige Nachbarin Fjodor Pawlowitschs, die früher oft in dessen Küche gekommen war, um Suppe zu holen, und der damals Smerdjakow seine Lieder zur Gitarre vorgesungen hatte. Ihr früheres Häuschen hatte sie verkauft, und sie wohnte jetzt mit ihrer Mutter in dieser Hütte; der sterbenskranke Smerdjakow war gleich nach Fjodor Pawlowitschs Tod zu ihnen gezogen. Smerdjakow war es, zu dem sich Iwan Fjodorowitsch jetzt begab, getrieben von einem unvermittelten, unabweisbaren Gedanken.