3. Die Brüder lernen einander kennen
Iwan saß nicht eigentlich in einem separaten Zimmer. Es war nur ein Platz am Fenster, der durch Wandschirme von dem übrigen Raum abgetrennt war, aber die Gäste hinter den Schirmen waren doch vor fremden Blicken geschützt. Das Zimmer war das erste an der Eingangstür, mit einem Büfett an der Seitenwand. Alle Augenblicke huschten Kellner umher. Als Gast war nur ein alter verabschiedeter Offizier da, der in einer Ecke seinen Tee trank. Dafür herrschte in den anderen Zimmern des Restaurants das in solchen Lokalen übliche Treiben. Man hörte die lauten Rufe nach den Kellnern, das Öffnen von Bierflaschen, das Klappern der Billardbälle, die dröhnende Musik eines Orchestrions.
Aljoscha wußte, daß Iwan dieses Restaurant fast nie besuchte und überhaupt kein Freund von Gaststätten war. ‚Also ist er nur hier‘, überlegte er, ‚um wie verabredet Dmitri zu treffen.‘
Dmitri allerdings war noch nicht da.
„Ich werde dir Fischsuppe oder sonst etwas bestellen, du lebst doch wohl nicht von Tee allein?“ rief Iwan, der sich sehr darüber zu freuen schien, daß es ihm gelungen war, Aljoscha hereinzulocken. Er selbst war mit dem Mittagessen bereits fertig und trank Tee.
„Bestell mir Fischsuppe und danach Tee, ich habe großen Hunger“, erwiderte Aljoscha fröhlich.
„Wie ist es mit eingemachten Kirschen? Es gibt hier welche. Erinnerst du dich, wie gern du als kleiner Junge bei Poljonows eingemachte Kirschen gegessen hast?“
„Das weißt du noch? Nun gut, bestell auch Kirschen, ich esse sie immer noch gern.“
Iwan klingelte nach dem Kellner und bestellte Fischsuppe Tee und Eingemachtes.
„Ich erinnere mich an alles, Aljoscha. Ich erinnere mich an dich bis zu deinem elften Lebensjahr; ich war damals fünfzehn. Fünfzehn und elf, das ist so ein Unterschied, daß Brüder in diesem Alter fast nie Kameraden sind. Ich weiß nicht einmal, ob ich dich als Bruder besonders liebhatte. Als ich nach Moskau übergesiedelt war, habe ich in den ersten Jahren nicht einmal an dich gedacht. Später, als es dich selbst nach Moskau verschlagen hat, sind wir wohl nur einmal irgendwo zusammengetroffen. Und nun lebe ich hier schon über drei Monate, und wir haben bisher kaum ein Wort miteinander gesprochen. Morgen reise ich ab, und da dachte ich eben, als ich hier saß:,Könnte ich ihn noch einmal sehen, um mich von ihm zu verabschieden!‘ Und da kamst du gerade vorbei.“
„Hast du sehr gewünscht, mich zu sehen?“
„Ja, sehr. Ich möchte, daß wir uns gründlich, ein für allemal, kennenlernen und dann voneinander Abschied nehmen. Meiner Ansicht nach lernt man sich am besten vor der Trennung kennen. Ich habe diese ganzen drei Monate deine Blicke gesehen. In deinen Augen lag eine ständige Erwartung, und gerade das kann ich nicht ausstehen. Deshalb bin ich dir nicht entgegengekommen. Doch zuletzt habe ich dich achten gelernt. Ich sagte mir: Dieser Mensch steht fest auf seinen Füßen. Wohlgemerkt: Wenn ich jetzt auch lache, ich rede doch im Ernst. Du stehst doch fest auf deinen Füßen, nicht wahr? Ich liebe solche festen Menschen — mögen sie stehen, worauf sie wollen, und mögen sie auch so kleine Knaben sein wie du. Dein gespannter Blick hörte schließlich auf, mir unangenehm zu sein, im Gegenteil — ich mochte ihn zuletzt sogar gern. Du scheinst mich aus irgendeinem Grund liebzuhaben, Aljoscha?“
„Ja, ich habe dich lieb, Iwan. Dmitri sagt von dir: ‚Iwan schweigt wie das Grab!‘ Ich sage von dir: ‚Iwan ist ein Rätsel.‘ Du bist auch jetzt für mich ein Rätsel; etwas in dir habe ich aber schon begriffen, und zwar erst heute vormittag.“
„Und was wäre das?“ fragte Iwan lachend.
„Wirst du mir auch nicht böse sein?“ fragte Aljoscha, ebenfalls lachend.
„Daß du genauso ein junger Mann bist wie alle jungen Männer von dreiundzwanzig, genauso jung und forsch und frisch und prächtig. Na, und schließlich genauso ein Grünschnabel. Na, hab ich dich nun schwer beleidigt?“
„Im Gegenteil, ich bin verblüfft über das Zusammentreffen unserer Gedanken!“ rief Iwan vergnügt und mit Wärme. „Wirst du es glauben, daß ich nach unserer heutigen Begegnung bei mir ebenfalls im stillen daran gedacht habe, ich meine, an meine Grünschnäbligkeit als junger Mann von dreiundzwanzig? Und nun hast du das auf einmal erraten und sprichst gleich davon. Ich saß hier, und weißt du, was ich mir sagte? Ich sagte mir: Wenn ich auch nicht mehr an das Leben glaube, wenn ich mich auch in einer geliebten Frau und außerdem in der Ordnung der Dinge getäuscht habe, wenn ich auch zu der Überzeugung gelangt bin, daß alles ein verfluchtes, teuflisches Chaos ist, und, wenn mich auch alle Schrecken menschlicher Enttäuschung überkommen — ich will dennoch weiterleben und diesen Becher, den ich nun einmal zu trinken angefangen habe, nicht vom Mund nehmen, ehe ich ihn vollkommen geleert habe! Mit dreißig werde ich den Becher jedoch, auch wenn ich ihn noch nicht vollkommen geleert haben sollte, sicherlich zu Boden schleudern und weggehen — wohin, weiß ich nicht. Aber bis zu meinem dreißigsten Lebensjahr wird meine Jugendkraft, das weiß ich bestimmt, alles überwinden: jede Enttäuschung, jeden Ekel vor dem Leben. Ich habe mich oft gefragt: Gibt es auf der Welt so eine Verzweiflung, welche diese rasende, vielleicht unanständige Lebensgier in meiner Seele überwinden könnte? Und ich habe mir geantwortet, daß es sie wohl nicht gibt, das heißt wieder nur bis zum dreißigsten Lebensjahr. Dann werde ich wohl selber keine Lust mehr haben, scheint mir. Diese Lebensgier nennen die schwindsüchtigen, unreifen Moralphilosophen oft gemein, vor allem tun das die Dichter. Zum Teil ist diese Lebensgier allerdings ein Karamasowscher Charakterzug, und sie steckt zweifellos auch in dir — warum soll sie aber gemein sein? Es gibt auf unserem Planeten eine starke Zentripetalkraft, Aljoscha. Ich will leben! Und ich lebe, wenn auch gegen alle Logik. Wenn ich auch nicht an die Ordnung der Dinge glaube — teuer sind mir die klebrigen Blättchen, die sich im Frühling entfalten, teuer ist mir der blaue Himmel, teuer ist mir ab und zu ein Mensch, den ich dann, ob du es glaubst oder nicht, liebgewinne, ohne zu wissen, warum, teuer ist mir manche menschliche Großtat, an die ich vielleicht schon längst nicht mehr glaube, die ich aber in alter Erinnerung immer noch hoch halte. Da kommt deine Fischsuppe, laß sie dir schmecken!
Die Fischsuppe ist hier vorzüglich, die Leute verstehen sich auf die Zubereitung … Ich will nach Westeuropa reisen, Aljoscha, gleich von hier aus losfahren. Ich weiß ja, daß ich dabei nur auf einen Friedhof fahre — aber auf den teuersten, den allerteuersten Friedhof, das ist die Hauptsache! Da liegen teure Tote; jeder Grabstein kündet da von einem in heißer Glut dahingegangenen Leben, von einem so leidenschaftlichen Glauben an die eigene Großtat, an die eigene Wahrheit, an den eigenen Kampf und die eigene Wissenschaft, daß ich, das weiß ich vorher, auf die Erde fallen und diese Steine küssen und über ihnen weinen muß, obwohl ich gleichzeitig überzeugt hin, daß alles schon längst ein Friedhof ist und weiter nichts. Nicht aus Verzweiflung werde ich weinen, sondern einfach, weil meine vergossenen Tränen mich glücklich machen. An meiner eigenen Rührung werde ich mich berauschen. Die klebrigen Frühlingsblättchen und den blauen Himmel liebe ich, das ist es! Verstand und Logik haben damit nichts zu tun, man liebt mit den Eingeweiden, körperlich, man liebt seine ersten jungen Kräfte … Verstehst du etwas von meinem unsinnigen Gerede, Aljoscha … ?“ fragte Iwan plötzlich lachend.
„Sehr gut verstehe ich dich, Iwan. Mit den Eingeweiden, körperlich, will man lieben — das hast du schön gesagt. Ich freue mich darüber, daß du dir wünschst zu leben!“ rief Aljoscha. „Ich glaube, alle Menschen müssen vor allem, was es auf der Welt gibt, das Leben lieben.“
„Soll man das Leben mehr lieben als den Sinn des Lebens?“
„Unbedingt. Man muß es lieben vor aller Logik, wie du dich ausdrückst. Unbedingt vor der Logik, erst dann wird man seinen Sinn verstehen. Das hat mir schon längst so vorgeschwebt. Die Hälfte deines Werkes ist getan, Iwan, glücklich getan: Du liebst das Leben. Jetzt mußt du dich bemühen, auch die zweite Hälfte zu bewältigen, und du bist gerettet.“
„Du rettest mich schon, und ich bin vielleicht noch gar nicht zugrunde gegangen! Worin besteht sie denn, deine zweite Hälfte?“
„Darin, daß du deine Toten auferwecken mußt, die vielleicht überhaupt nie gestorben sind. So, nun bestell mir Tee! Ich freue mich, daß wir miteinander reden, Iwan.“
„Du bist, wie ich sehe, geradezu begeistert. Ich liebe derartige professions de foi von seiten solcher Novizen. Du bist ein fester Charakter, Alexej … Ist es wahr, daß du aus dem Kloster austreten willst?“
„Ja, es ist wahr. Mein Starez sendet mich in die Welt.“
„Da werden wir uns also in der Welt wiedersehen und uns noch vor meinem dreißigsten Lebensjahr begegnen, in dem ich den Becher dann absetzen werde. Der Vater will seinen Becher nicht vor dem siebzigsten Jahr absetzen, er phantasiert sogar vom achtzigsten. Das hat er selbst gesagt, und es ist ihm Ernst damit, obwohl er ein Possenreißer ist. Er fußt auf seiner Wollust wie auf einem Stein … Freilich ist das nach dreißig vielleicht das einzige, worauf man fußen kann. Aber bis siebzig, das ist gemein. Eher noch bis dreißig — da kann man noch eine Spur von edler Gesinnung bewahren, indem man sich selbst betrügt … Hast du Dmitri heute gesehen?“
„Nein, aber Smerdjakow.“
Und Aljoscha erzählte seinem Bruder eilig und dennoch ausführlich von seiner Begegnung mit Smerdjakow. Iwan machte
beim Zuhören auf einmal ein recht sorgenvolles Gesicht; über einzelne Punkte stellte er zur Sicherheit sogar Fragen.
„Allerdings hat er mich gebeten, Dmitri nichts davon zu sagen, was er mir über ihn mitgeteilt hat“, fügte Aljoscha hinzu.
Iwan zog die Augenbrauen zusammen und wurde sehr nachdenklich.
„Machst du wegen Smerdjakow ein so finsteres Gesicht?“ fragte Aljoscha.
„Ja, seinetwegen. Hol‘ ihn der Teufel! Ich hätte Dmitri tatsächlich gern gesprochen. Doch jetzt ist es nicht mehr nötig …“, sagte Iwan unlustig.
„Und du, wirst du wirklich bald abreisen, Bruder?“
„Ja.“
„Und was soll aus Dmitri und dem Vater werden? Wie soll die Spannung zwischen ihnen enden?“ fragte Aljoscha stark beunruhigt.
„Du immer mit deiner alten Leier! Was geht das mich an? Bin ich etwa meines Bruders Hüter?“ erwiderte Iwan schroff und gereizt, lächelte aber plötzlich bitter. „So antwortete Kain, als Gott ihn nach seinem erschlagenen Bruder fragte, nicht wahr? Vielleicht hast du in diesem Augenblick daran gedacht? Hol's der Teufel, ich kann wirklich nicht als Hüter bei ihnen bleiben! Ich habe meine Angelegenheiten zum Abschluß gebracht und reise ab. Du denkst doch wohl nicht, daß ich auf Dmitri eifersüchtig bin und daß ich ihm diese drei Monate seine schöne Katerina Iwanowna abspenstig machen wollte? Ich hatte meine eigenen Angelegenheiten, zum Teufel! Die habe ich jetzt zum Abschluß gebracht und reise ab. Heute habe ich sie zum Abschluß gebracht — du, warst Zeuge.“
„Du meinst, heute bei Katerina Iwanowna?“
„Ja, bei ihr. Und ich habe mich mit einem Schlag frei gemacht. Und was ist nun? Was geht mich Dmitri noch an? Dmitri
ist an allem ganz unbeteiligt! Ich hatte mit Katerina Iwanowna meine eigenen Angelegenheiten. Du weißt es ja selbst, Dmitri hat sich benommen, als hätte er sich mit mir abgesprochen. Ich habe ihn aber in keiner Weise gebeten, er hat mich von selbst feierlich in die Sache einbezogen und mir seinen Segen erteilt. Das alles klingt jetzt vielleicht lächerlich. Nein, Aljoscha, wenn du wüßtest, wie leicht mir jetzt ums Herz ist! Ich habe hier gesessen und mein Mittagessen verzehrt und wollte mir — wirst du es glauben? — schon eine Flasche Champagner bringen lassen, um die erste Stunde meiner Freiheit zu feiern. Pfui Teufel, beinah ein halbes Jahr — und nun auf einmal habe ich alle Fesseln zerrissen! Hatte ich gestern etwa auch nur eine Ahnung davon, daß es mich, wenn ich wollte, nichts kosten würde, diese Geschichte zu beenden?“
„Du sprichst von deiner Liebe, Iwan?“
„Ja, von meiner Liebe, wenn du es so nennen willst. Ja, ich hatte mich in ein gnädiges Fräulein, in ein Institutsfräulein, verliebt. Ich quälte mich um sie, und sie quälte mich. Ich umwarb sie … Und plötzlich ist alles verflogen. Ich habe heute im Affekt gesprochen, doch als ich hinauskam, mußte ich lachen — kannst du es glauben? Es ist buchstäblich so, wie ich sage.“
„Du sprichst auch jetzt so vergnügt“, bemerkte Aljoscha und musterte Iwans Gesicht, das in der Tat auf einmal vergnügt aussah.
„Woher sollte ich denn wissen, daß ich sie überhaupt nicht liebe? Hehe! Nun hat es sich herausgestellt, daß das gar nicht der Fall war. Dabei hat sie mir doch so gefallen! Sogar heute noch, als ich meine Rede hielt! Und weißt du, auch jetzt gefällt sie mir schrecklich — und doch fällt es mir leicht, wegzufahren. Du glaubst, ich prahle nur?“
„Nein, aber das war vielleicht keine richtige Liebe.“
„Aljoschka“, erwiderte Iwan lachend, „laß dich nicht auf Reflexionen über die Liebe ein! Das paßt nicht zu dir. Aber heute, da hast du dich mal ins Zeug gelegt, o je! Ich habe ganz vergessen, dir dafür einen Kuß zu geben … Und wie hat sie mich gequält! Wahrhaftig, sie leidet an Überspanntheit. Sie hat gewußt, daß ich sie liebte! Mich hat sie geliebt — und nicht Dmitri!“ sagte Iwan bestimmt und heiter. „Daß sie Dmitri zu lieben glaubte, war nur Überspanntheit. Alles, was ich heute zu ihr gesagt habe, war die reine Wahrheit. Die Hauptsache ist jetzt aber, daß sie vielleicht fünfzehn oder zwanzig Jahre brauchen wird, um einzusehen, daß sie Dmitri überhaupt nicht liebt, sondern mich, den sie gequält hat. Möglicherweise wird sie nie zu dieser Einsicht gelangen, trotz der ernsten Lehre von heute. Na, das Beste war, daß ich aufstand und für immer wegging. Apropos, was macht sie jetzt? Was hat sich dort getan, nachdem ich weg war?“
Aljoscha erzählte von dem hysterischen Anfall und daß sie wohl auch jetzt noch bewußtlos sei und phantasiere.
„Lügt Frau Chochlakowa auch nicht?“
„Ich glaube nicht.“
„Wir müssen uns erkundigen. An einem hysterischen Anfall ist übrigens noch niemand gestorben. Und selbst wenn sie so einen Anfall gehabt hat — die Hysterie hat Gott dem Weib in seiner Liebe gegeben. Ich werde überhaupt nicht mehr zu ihr gehen. Wozu soll ich mich aufdrängen?“
„Du hast doch aber zu ihr gesagt, sie hätte dich nie geliebt?“
„Das habe ich absichtlich gesagt, Aljoschka, ich werde doch Champagner bestellen. Laß uns auf meine Befreiung trinken. Wenn du wüßtest, wie froh ich bin“
„Nein, Bruder, wir wollen lieber nicht trinken“, sagte Aljoscha plötzlich. „Ich bin in zu trüber Stimmung.“
„Ja, das bist du schon seit längerer Zeit, ich habe es seit langem bemerkt.“
„Also, du wirst bestimmt morgen früh wegfahren?“
„Morgen früh? Daß ich früh fahre, habe ich nicht gesagt … Übrigens fahre ich vielleicht wirklich in der Frühe. Ob du es glaubst oder nicht: Ich habe hier allein darum zu Mittag gegessen, um es nicht mit dem Alten tun zu müssen — so widerwärtig ist er mir geworden! Wenn er für mich das einzig Wichtige wäre, hätte ich mich schon längst davongemacht. Warum beunruhigt es dich so, Aljoscha, daß ich wegfahre? Wir haben ja noch Gott weiß wieviel Zeit bis zu meiner Abreise. Eine ganze Ewigkeit, eine endlose Zeit!“
„Wenn du morgen wegfährst, was ist das für eine Ewigkeit?“
„Was macht das uns beiden aus?“ antwortete Iwan lachend „Was uns am Herzen liegt, können wir jedenfalls noch in Ruhe durchsprechen. Ich meine das, weswegen wir hierhergekommen sind. Warum siehst du mich so erstaunt an? Antworte, weswegen sind wir hier zusammengekommen? Um über meine Liebe zu Katerina Iwanowna zu reden? Oder über den Alten und Dmitri? Oder über das Ausland? Oder über die mißliche Lage Rußlands? Oder über Kaiser Napoleon? Ja? Deswegen?“
„Nein, deswegen nicht.“
„Also weißt du selbst, weswegen. Für uns Grünschnäbel ist etwas anderes wichtig als für andere Leute. Wir müssen vor allem Ewigkeitsfragen lösen, das ist unsere Sorge. Das ganze junge Rußland diskutiert jetzt nur über Ewigkeitsfragen. Gerade jetzt, da die alten Leute angefangen haben, sich mit praktischen Fragen zu beschäftigen. Warum hast du mich drei Monate erwartungsvoll angesehen? Doch wohl, um mich zu fragen: Was glaubst du? Oder glaubst du überhaupt nicht? Das bedeuteten doch drei Monate lang Ihre Blicke, Alexej Fjodorowitsch, ist es nicht so?“
„Vielleicht ist es so“, erwiderte Aljoscha lächelnd. „Du machst dich doch nicht über mich lustig, Bruder?“
„Ich sollte mich über dich lustig machen? Ich werde doch mein Brüderchen, das mich drei Monate so erwartungsvoll angesehen hat, nicht betrüben! Aljoscha, sieh mich an! Ich bin doch genauso ein junger Russe wie du, höchstens daß ich kein Novize hin. Nun, wie treiben es die jungen Russen bis jetzt? Das heißt manche? Nimm beispielsweise diese stinkende Kneipe hier. Da kommen sie zusammen und setzen sich in eine Ecke. Im ganzen bisherigen Leben haben sie einander nicht gekannt, und wenn sie das Lokal verlassen, werden sie einander wieder vierzig Jahre nicht kennen. Also: worüber werden sie in der kurzen Spanne Zeit reden, die sie in der Kneipe erhascht haben? Über die Weltfragen — anders kann es nicht sein! Ob es einen Gott und eine Unsterblichkeit gibt. Und die nicht an Gott glauben, werden über den Sozialismus und den Anarchismus sprechen und über die Umgestaltung der ganzen Menschheit, was auf die alleinige Existenz des Teufels hinausläuft — alles dieselben Fragen, nur vom anderen Ende her. Ein Großteil unserer originellsten jungen Russen hat in unserer Zeit weiter nichts zu tun, als über Ewigkeitsfragen zu reden. Ist es etwa nicht so?“
„Ja, für einen echten Russen sind allerdings die Fragen, ob es einen Gott und eine Unsterblichkeit gibt, oder wie du dich ausdrückst, die ‚Fragen vom anderen Ende her‘ die allerwichtigsten, und so muß es auch sein“, sagte Aljoscha und sah seinen Bruder immer noch mit einem stillen, forschenden Lächeln an.
„Siehst du, Aljoscha, ein Russe zu sein ist manchmal überhaupt nicht klug. Und etwas Dümmeres als das, womit sich jetzt die jungen Russen beschäftigen, kann man sich gar nicht vorstellen. Aber einen jungen Russen, er heißt Aljoschka, habe ich doch schrecklich lieb.“
„Das ist ja ein prächtiger Abschluß, den du dem Ganzen gegeben hast!“ erwiderte Aljoscha lachend.
„So, nun sag, womit wir anfangen, bestimme selbst! Mit Gott? Ob Gott existiert? Ja?“
„Fang an, womit du willst, meinetwegen auch ‚vom anderen Ende her‘. Denn du hast ja gestern beim Vater behauptet, es gebe keinen Gott“, sagte Aljoscha mit einem prüfenden Blick auf seinen Bruder.
„Gestern während des Essens beim Alten habe ich dich absichtlich damit aufgezogen und bemerkt, wie deine Augen plötzlich anfingen zu funkeln. Aber jetzt bin ich gar nicht abgeneigt, mit dir darüber zu verhandeln, das sage ich im vollen Ernst. Ich möchte dir näherkommen, Aljoscha, denn ich habe keine Freunde. Ich will es wenigstens versuchen! Nun stell dir vor, vielleicht erkenne ich sogar die Existenz Gottes an“, schloß Iwan lachend. „Das kommt dir unerwartet, wie?“
„Ja gewiß. Wenn es bloß nicht wieder ein Scherz ist.“
„Ein Scherz? Das wurde gestern beim Starez gesagt. Ich würde wohl nur scherzen? Siehst du, Täubchen, es gab im achtzehnten Jahrhundert einen alten Sünder, der äußerte die Ansicht, wenn Gott nicht existierte, müsse man ihn erfinden. ‚S'il n'existait pas Dieu, il faudrait l'inventer.‘ Und tatsächlich hat der Mensch Gott erfunden. Und nicht daß es wirklich einen Gott gibt, ist seltsam und wunderbar, sondern daß ein solcher Gedanke von der Unentbehrlichkeit Gottes so einem wilden, bösen Tier, wie es der Mensch ist, überhaupt in den: Kopf kommen konnte — so heilig, so rührend, so weise ist dieser Gedanke und so sehr macht er dem Menschen Ehre! Ich selbst habe mir schon längst vorgenommen, nicht darüber nachzudenken, ob der Mensch Gott oder Gott den Menschen erschaffen hat. Selbstverständlich werde ich auch nicht alle diesbezüglichen modernen Axiome der jungen Russen überprüfen, Axiome, die sämtlich aus westeuropäischen Hypothesen abgeleitet sind. Was dort nur eine Hypothese darstellt, ist für einen jungen Russen sogleich ein Axiom, und nicht nur für die Jungen, sondern wohl auch für manche Professoren; denn auch unsere russischen Professoren sind jetzt häufig nicht anders als die jungen Leute. Daher werde ich alle Hypothesen übergehen. Was haben denn wir beide, ich und du, jetzt für eine Aufgabe? Sie besteht darin, daß ich dir möglichst schnell mein Wesen klarmache, dir sage, was ich für ein Mensch bin, woran ich glaube, worauf ich hoffe — so ist es doch wohl, nicht wahr? Und darum will ich auch die Erklärung abgeben, daß ich Gott einfach und ohne jeden Umstand akzeptiere. Aber ein Punkt will dabei bedacht sein. Wenn Gott existiert und wenn er tatsächlich die Erde geschaffen hat, so hat er sie, wie wir genau wissen, auf der Grundlage der euklidischen Geometrie geschaffen und den menschlichen Verstand nur mit der Vorstellung von drei Dimensionen des Raumes begabt. Trotzdem gab es und gibt es noch jetzt Mathematiker und Philosophen, und sogar sehr bedeutende, die daran zweifeln, daß das ganze Weltall oder, noch umfassender gesagt, alles Sein nur auf der Grundlage der euklidischen Geometrie geschaffen ist, und sich sogar zu dem phantastischen Gedanken versteigen, zwei parallele Linien, die sich nach Euklid auf Erden unter keinen Umständen schneiden, könnten sich in der Unendlichkeit vielleicht doch irgendwo schneiden. Ich, mein Täubchen, habe mir gesagt: Wenn ich nicht einmal das zu begreifen imstande bin, wie soll ich dann etwas von Gott begreifen? Ich gestehe demütig, daß meine Fähigkeiten zur Lösung solcher Fragen nicht ausreichen, ich habe nur einen euklidischen, irdischen Verstand — wie könnten wir daher über Dinge urteilen, die nicht von dieser Welt sind? Und auch dir, Aljoscha, rate ich, niemals über dergleichen nachzudenken, und am allerwenigsten über Gott, ob er existiert oder nicht. All diese Fragen sind völlig ungeeignet für einen Verstand, der nur mit der Vorstellung von drei Dimensionen begabt ist. Also ich akzeptiere Gott, und ich tue das nicht nur gern, sondern, was noch mehr ist, ich akzeptiere auch seine Allweisheit und sein Ziel: zwei uns völlig unbekannte Dinge. Ich glaube an eine Ordnung und einen Sinn des Lebens; ich glaube an eine ewige Harmonie, in der wir alle aufgehen werden; ich glaube an das Wort, nach dem das Weltall hinstrebt und das selbst ‚von Gott war‘ und das selbst Gott ist, na und so weiter und so fort bis ins unendliche. Worte sind darüber ja viele gemacht worden. Es scheint, daß ich schon auf gutem Wege bin, wie? Aber nun stell dir vor, daß ich in letzter Konsequenz diese göttliche Welt nicht akzeptiere und sie, obwohl ich weiß, daß sie existiert, dennoch überhaupt nicht anerkenne. Was ich nicht akzeptiere, ist nicht Gott, versteh mich recht! Die von ihm geschaffene Welt, die göttliche Welt, akzeptiere ich nicht, kann ich mich nicht entschließen zu akzeptieren. Ich will mich deutlicher ausdrücken. Ich bin wie ein kleines Kind davon überzeugt, daß die Leiden heilen und vernarben werden, daß die ganze beleidigende Komik der menschlichen Widersprüche wie ein klägliches Trugbild, wie die häßliche Erfindung eines schwächlichen, nur atomgroßen euklidischen Menschenverstandes verschwinden wird, daß sich endlich beim großen Weltfinale, im Augenblick der ewigen Harmonie etwas sehr Kostbares ereignen und offenbaren wird. Etwas, was ausreicht für alle Herzen, ausreicht zur Stillung allen Unwillens, zur Sühne aller menschlichen Übeltaten und allen von Menschen vergossenen Blutes. Etwas, was ausreicht, um alles, was mit den Menschen geschehen ist, nicht nur zu entschuldigen, sondern sogar zu rechtfertigen. Mag das alles also geschehen und sich offenbaren — ich aber akzeptiere es nicht und will es nicht akzeptieren! Mögen sich die parallelen Linien schneiden und mag ich das selber sehen: Ich werde es sehen und sagen, daß sie sich geschnitten haben, werde es aber trotzdem nicht akzeptieren. Siehst du, Aljoscha, das ist mein Wesen, das ist meine These. Ich habe dir das alles im vollen Ernst gesagt. Ich habe dieses Gespräch mit dir absichtlich in der denkbar dümmsten Weise angefangen, es dann jedoch bis zu meiner Beichte fortgeführt, weil du sie nur wirklich hören mußt. Über Gott brauchtest du nichts zu hören. Du solltest nur hören, wovon dein Bruder lebt, den du so liebhast. Und das habe ich dir gesagt.“
Iwan schloß seine lange Tirade mit einem eigentümlichen, unerwarteten Gefühlsausbruch.
„Wieso hast du denn in der ‚denkbar dümmsten Weise‘ angefangen?“ fragte Aljoscha und sah Iwan nachdenklich an.
„Erstens schon aus russischem Patriotismus. Gespräche über diese Themen werden von Russen immer in der denkbar dümmsten Weise geführt. Zweitens, weil man einer Sache um so näherkommt, je dümmer man anfängt. Je dümmer, desto klarer. Die Dummheit drückt sich kurz und schlicht aus. Der Verstand macht hingegen Winkelzüge und versteckt sich. Der Verstand ist ein Schuft, die Dummheit ist offen und ehrlich. Ich lenkte dies Gespräch zuletzt auf meine Verzweiflung, und je dümmer ich sie dir dargestellt habe, um so vorteilhafter ist es für mich.“
„Wirst du mir noch erklären, weswegen du ‚die Welt nicht akzeptierst‘?“ fragte Aljoscha.
„Natürlich werde ich es dir noch erklären; es ist kein Geheimnis, darauf wollte ich ja auch hinaus. Mein lieber Bruder, ich will dich nicht von deinem festen Standpunkt abbringen oder weglocken. Ich möchte mich, falls irgend möglich, durch dich heilen“, sagte Iwan und lächelte plötzlich sanft wie ein kleiner Junge. Noch nie hatte Aljoscha so ein Lächeln bei ihm gesehen.