6. Ein vorläufig sehr unklares Kapitel
Als Iwan Fjodorowitsch sich von Aljoscha verabschiedet hatte, ging er nach Hause, ins Haus seines Vaters. Doch sonderbar, auf einmal überkam ihn eine unerträgliche Mißstimmung, und was die Hauptsache war, sie steigerte sich mit jedem Schritt, den er sich dem Haus näherte. Sonderbar war dabei nicht die Mißstimmung an sich, sondern daß Iwan Fjodorowitsch sich beim besten Willen nicht erklären konnte, worin die Mißstimmung eigentlich bestand. Mißgestimmt zu sein, das war ihm auch früher häufig vorgekommen, und es wäre nicht verwunderlich gewesen, wenn eine solche Mißstimmung in dem Augenblick aufkam, da er mit allem gebrochen hatte, was ihn hierherzog, und da er sich anschickte, erneut eine scharfe Wendung zu machen und wieder allein wie früher, einen neuen, völlig unbekannten Weg einzuschlagen, einen Weg, auf dem er vom Leben vieles, sehr vieles erhoffte und erwartete, ohne selbst diese Erwartungen oder auch nur seine Wünsche genauer umreißen zu können. Aber obwohl eine gewisse Furcht vor dem Neuen und Unbekannten tatsächlich in seiner Seele vorhanden war — nicht das war es, was ihn in diesem Augenblick quälte. ‚Ob es der Widerwillen gegen das Vaterhaus ist? Es sieht danach aus, so zuwider ist mir dieses Haus geworden! Und obwohl ich heute zum letztenmal diese verabscheute Schwelle überschreite, ist mein Widerwille doch der gleiche …‘ Doch nein, das war es auch nicht. Vielleicht der Abschied von Aljoscha und das Gespräch mit ihm? ‚So viele Jahre habe ich der ganzen Welt gegenüber geschwiegen, und nun auf einmal habe ich so viel Unsinn zusammengeredet!‘ Wirklich, es konnte jugendlicher Ärger über seine jugendliche Unerfahrenheit und Eitelkeit sein, ein Ärger darüber, daß er nicht verstanden hatte sich auszudrücken, noch dazu vor einem Menschen wie Aljoscha, auf den er in seinem Herzen große Hoffnungen setzte. Zwar war auch dieser Ärger zweifellos vorhanden, aber auch das war nicht der Grund seiner Mißstimmung. ‚Eine Mißstimmung bis zur Übelkeit — dabei bin ich nicht imstande anzugeben, was ich eigentlich will. Das beste ist, nicht daran zu denken!‘
Iwan Fjodorowitsch versuchte, ‚nicht daran zu denken‘, doch auch das half nichts. Was ihn an dieser Mißstimmung so besonders ärgerte und reizte, war, daß sie wie etwas Zufälliges, rein Äußerliches erschien, das fühlte er. Es mußte da irgendwo ein Wesen oder ein Gegenstand vorhanden sein, so wie einem manchmal etwas vor Augen steht, was man bei der Arbeit oder einem erregten Gespräch lange Zeit nicht bemerkt, was einen aber trotzdem offenbar reizt, ja quält, bis man schließlich auf den Gedanken kommt, den nichtsnutzigen Gegenstand zu beseitigen, oft irgendein unbedeutendes, lächerliches Ding, das am falschen Platz vergessen worden ist, ein heruntergefallenes Taschentuch, ein nicht in den Schrank gestelltes Buch, und so weiter und so fort … Iwan Fjodorowitsch erreichte schließlich in höchst gereizter Stimmung das Haus seines Vaters, und als er ungefähr noch fünfzehn Schritte vom Tor entfernt war, wußte er auf einmal, was ihn so beunruhigt und gequält hatte.
Auf der Bank am Tor saß der Diener Smerdjakow und genoß die kühle Abendluft.
Iwan Fjodorowitsch begriff bei seinem Anblick sofort, daß der Diener Smerdjakow auch in seiner Seele gesessen hatte und daß seine Seele gerade diesen Menschen nicht ausstehen konnte. Alles wurde ihm mit einem Schlage hell und klar. Schon vorhin, als Aljoscha von seiner Begegnung mit Smerdjakow sprach, war ein finsteres, widerwärtiges Gefühl über ihn gekommen und hatte einen entsprechenden Zorn in ihm hervorgerufen. Während des Gesprächs hatte er Smerdjakow dann eine Zeitlang vergessen, dieser war jedoch in seiner Seele geblieben, und kaum hatte sich Iwan Fjodorowitsch von Aljoscha getrennt und allein den Heimweg angetreten, trat das vergessene Gefühl sogleich wieder hervor. ‚Kann mich dieser elende Taugenichts wirklich so beunruhigen?‘ dachte er überaus verärgert.
Iwan Fjodorowitsch war auf diesen Menschen in der letzten Zeit und besonders in den letzten Tagen tatsächlich zornig geworden. Er hatte seinen wachsenden Zorn auf dieses Subjekt sogar selbst bemerkt. Vielleicht hatte dieser Zorn gerade deswegen eine solche Schärfe angenommen, weil sich das Verhältnis anfangs, nach Iwan Fjodorowitschs Ankunft, ganz anders gestaltet hatte. Damals hatte sich Iwan Fjodorowitsch für Smerdjakow sozusagen besonders interessiert, er hatte ihn sogar für einen recht originellen Menschen gehalten. Er hatte ihn selbst zu Gesprächen mit ihm ermuntert, wobei er sich allerdings stets über eine gewisse Verdrehtheit oder, besser, eine gewisse Unruhe seines Verstandes gewundert und nicht begriffen hatte, was »diesen beschaulichen Menschen“ eigentlich so unablässig und heftig beunruhigen konnte. Sie sprachen über philosophische Fragen und sogar darüber, wie man es zu verstehen habe, daß das Licht schon am ersten Schöpfungstag leuchtete, obwohl doch Sonne, Mond und Sterne erst am vierten Tag geschaffen wurden. Iwan Fjodorowitsch überzeugte sich bald, daß es Smerdjakow dabei überhaupt nicht um Sonne, Mond und Sterne ging, daß Sonne, Mond und Sterne für ihn zwar ein interessanter, aber doch nur drittrangiger Gegenstand waren und daß er auf etwas ganz anderes abzielte. Wie dem auch sein mochte, jedenfalls begann sich bei ihm ein maßloses und zudem gekränktes Selbstgefühl zu äußern. Das erregte Iwan Fjodorowitschs Mißfallen. Von da an datierte seine Abneigung. Später hatte dann im Hause das wüste Treiben begonnen, Gruschenka war auf der Szene erschienen, die Streitereien mit dem Bruder Dmitri hatten angefangen, es hatte allerlei Ärger gegeben; darüber hatten sie dann auch gesprochen. Obgleich sich Smerdjakow bei solchen Gesprächen immer sehr erregt zeigte, war es doch unmöglich zu erkennen, in welche Richtung seine Wünsche gingen. Man konnte sich sogar über das Unlogische und Unordentliche mancher seiner Wünsche wundern, die nur unwillkürlich zutage traten und stets in gleicher Weise unklar waren. Smerdjakow erkundigte sich nach allem möglichen und stellte indirekte, offenbar vorher überlegte Fragen. Doch wozu er das tat, erklärte er nie; gerade im interessantesten Augenblick seiner Nachfragen pflegte er mitunter plötzlich zu verstummen oder das Thema zu wechseln. Was Iwan Fjodorowitsch jedoch schließlich vollends reizte und ihm einen solchen Widerwillen gegen diesen Menschen einflößte, war eine besondere unangenehme Vertraulichkeit, die Smerdjakow ihm gegenüber immer deutlicher an den Tag legte. Nicht daß er sich erlaubt hätte, unhöflich zu sein — im Gegenteil, er sprach immer außerordentlich respektvoll. Es hatte sich aber dennoch so ergeben, daß sich Smerdjakow schließlich, Gott weiß warum, in gewisser Hinsicht für ebenbürtig mit Iwan Fjodorowitsch hielt und mit ihm in einem Ton redete, als gäbe es zwischen ihnen bereits eine Art geheimer Verabredung, als hätten sie irgendwann etwas besprochen, was nur ihnen beiden bekannt, den anderen um sie herumwimmelnden Sterblichen aber überhaupt nicht verständlich war. Iwan Fjodorowitsch hatte jedoch auch hier die wahre Ursache seines wachsenden Widerwillens lange Zeit nicht erkannt und erst in der allerletzten Zeit gemerkt, wie es sich damit verhielt. Mit einem Gefühl der Verachtung und Gereiztheit wollte er jetzt schweigend vorbeigehen, ohne Smerdjakow eines Blickes zu würdigen, doch Smerdjakow erhob sich von der Bank, und schon allein an dieser Bewegung spürte Iwan Fjodorowitsch augenblicklich, daß dieser ein besonderes Gespräch mit ihm wünschte. Iwan Fjodorowitsch sah ihn an und blieb stehen, und der Umstand, daß er nicht vorbeigegangen war, wie er es eben noch gewollt hatte, ärgerte ihn dermaßen, daß er zitterte. Mit Zorn und Widerwillen blickte er in Smerdjakows kastratenhaft schlaffes Gesicht mit den zurückgekämmten Schläfenhaaren und der in die Höhe frisierten kleinen Tolle. Das linke Auge, halb zugekniffen, zwinkerte und lächelte, als ob es sagen wollte: ‚Was denn? — Du wirst doch nicht vorbeigehen? Siehst du nicht, daß wir beiden klugen Leute etwas zu besprechen haben.‘
Iwan Fjodorowitsch zitterte vor Ärger.
Mach daß du fortkommst, Taugenichts. Wir beide passen nicht zueinander, Dummkopf!‘ hatte er schon auf der Zunge aber zu seinem größten Erstaunen kam etwas ganz anderes heraus:
»Schläft mein Vater, oder ist er schon aufgewacht?“ fragte er leise und sanft zu seinem eigenen Erstaunen und setzte sich plötzlich, ebenfalls zu seinem eigenen Erstaunen, auf die Bank. Einen Moment war ihm geradezu ängstlich zumute; er erinnerte sich später daran.
Smerdjakow stand ihm gegenüber, die Hände auf dem Rücken und machte ein selbstbewußtes, beinahe strenges Gesicht.
»Er schläft noch“, antwortete er ohne Eile. Und sein Tonfall besagte: ‚Du selber hast das Gespräch begonnen, nicht ich …‘ »Ich wundere mich über Sie, gnädiger Herr“, fügte er nach kurzem Stillschweigen hinzu. Dabei schlug er affektiert die Augen nieder, setzte den rechten Fuß vor und spielte mit der Spitze seines Lackstiefels.
»Warum wunderst du dich über mich?“ fragte Iwan Fjodorowitsch barsch. Er versuchte sich nach Kräften zu beherrschen und merkte plötzlich angewidert, daß er eine überaus starke Neugier empfand und daß er um keinen Preis gehen würde, ohne sie befriedigt zu haben.
»Warum fahren Sie nicht nach Tschermaschnja, gnädiger Herr?“ fragte Smerdjakow, wobei er auf einmal den Blick hob und vertraulich lächelte, und sein halb zugekniffenes linkes Auge sagte gleichsam: ‚Warum ich lächle, mußt du selber wissen, wenn du ein kluger Mensch bist …‘
»Warum sollte ich nach Tschermaschnja fahren?“ erwiderte Iwan Fjodorowitsch erstaunt.
Smerdjakow schwieg wieder ein Weilchen.
»Fjodor Pawlowitsch hat Sie doch selbst darum gebeten“, sagte er endlich ohne Eile und beiläufig, als ob er seiner Antwort keinen Wert beimesse. Es klang, wie wenn er sagte: ‚Ich nenne einen ganz nebensächlichen Grund, um überhaupt etwas zu antworten.‘
»Sprich deutlicher, zum Teufel! Was willst du eigentlich?“ rief Iwan Fjodorowitsch, zornig geworden und von der Sanftmut zur Grobheit übergehend.
Smerdjakow setzte den rechten Fuß neben den linken und richtete sich auf, behielt aber seine ruhige, lächelnde Miene bei.
»Nichts Wichtiges … Ich habe das nur so gesagt, gesprächsweise …“
Wieder trat Stillschweigen ein. Sie schwiegen fast eine Minute lang. Iwan Fjodorowitsch wußte, daß er gewiß gleich aufstehen und endgültig in Zorn ausbrechen würde, und Smerdjakow stand vor ihm, als ob er wartete und dachte: ‚Ich will doch mal sehen, ob du zornig wirst oder nicht.‘ So faßte es Iwan wenigstens auf. Er bewegte schließlich den Oberkörper, um aufzustehen.
Diesen Augenblick ergriff Smerdjakow.
»Ich befinde mich in einer schrecklichen Lage, Iwan Fjodorowitsch. Ich weiß nicht mehr, wie ich mir helfen soll“, sagte er auf einmal fest und beherrscht und seufzte bei den letzten Worten tief.
Iwan Fjodorowitsch setzte sich sofort wieder hin.
»Beide sind sie wie verrückt, wie die kleinsten Kinder!“ fuhr Smerdjakow fort. »Ich rede von Ihrem Vater und von Ihrem Bruder Dmitri Fjodorowitsch. Jetzt wird er gleich aufstehen, ich meine Fjodor Pawlowitsch, und sofort über mich herfallen: ‚Nun? Ist sie nicht gekommen? Warum ist sie nicht gekommen?‘ Und so bis Mitternacht und sogar noch länger. Und wenn Agrafena Alexandrowna nicht kommt, denn sie hat vielleicht gar nicht die Absicht, überhaupt jemals zu kommen, so fällt er morgen früh wieder über mich her: Warum ist sie nicht gekommen? Weshalb ist sie nicht gekommen? Wann kommt sie?‘ Als ob ich mir in dieser Hinsicht etwas hätte zuschulden kommen lassen! Auf der anderen Seite ist die Lage die: Sowie die Abenddämmerung hereinbricht, oder auch schon früher, erscheint Ihr Bruder mit einem Gewehr in der Hand. ‚Nimm dich in acht‘, sagt er. ‚Du Schurke, du Bouillonkoch! Wenn du sie vorbeiläßt und mich nicht benachrichtigst, bist du der erste, den ich ermorde!‘ Die Nacht vergeht. Am Morgen jedoch beginnt er mich so wie Fjodor Pawlowitsch zu quälen. ‚Warum ist sie nicht gekommen? Wird sie bald erscheinen?‘ Und wieder kommt es so heraus, als wäre ich schuld, daß seine Dame nicht gekommen ist. Und die beiden werden mit jedem Tag und jeder Stunde wilder im Zorn, daß ich manchmal daran denke, mir vor Angst das Leben zu nehmen. Ich habe Angst vor den beiden, gnädiger Herr.“
»Warum hast du dich da bloß eingemischt? Warum hast du dich darauf eingelassen, meinem Bruder Dmitri Nachrichten zuzutragen?“ fragte Iwan Fjodorowitsch gereizt.
»Wie hätte ich es denn anfangen sollen, mich da nicht einzumischen? Eigentlich habe ich mich überhaupt nicht eingemischt, wenn Sie es in aller Genauigkeit wissen wollen. Ich habe von Anfang an nur geschwiegen und nicht gewagt, etwas zu erwidern. Er selbst hat mich zu seinem Diener bestimmt. Und seitdem sagt er zu mir immer nur ein und dasselbe: ‚Ich schlage dich tot, Schurke, wenn du sie vorbeiläßt!‘ Ich glaube, gnädiger Herr, ich werde morgen wohl eine lange Epilepsie bekommen.“
»Was heißt das: eine lange Epilepsie?“
»Einen langen Anfall, einen außerordentlich langen. So einer dauert mehrere Stunden oder womöglich einen oder zwei Tage. Einer hat bei mir mal drei Tage gedauert, ich war damals vom Dachboden gefallen. Er hört eine Weile auf und fängt dann wieder an; ich konnte die ganzen drei Tage keinen klaren Gedanken fassen. Fjodor Pawlowitsch ließ damals Doktor Herzenstube rufen, den hiesigen Arzt. Der hat mir Eis auf den Kopf gelegt und noch irgendein anderes Mittel angewandt. Ich hätte sterben können.“
»Aber es heißt doch, ein epileptischer Anfall sei unmöglich vorauszusehen, weil er nämlich zu keiner bestimmten Stunde eintritt. Wie kannst du denn behaupten, er käme morgen?“ erkundigte sich Iwan Fjodorowitsch mit gereiztem Interesse.
»Das ist richtig, daß man ihn nicht vorhersehen kann.“
»Außerdem bist du damals ja vom Dachboden gefallen.“
»Auf den Dachboden steige ich alle Tage, ich kann auch morgen da herunterfallen. Und wenn nicht vom Dachboden, dann eben in den Keller. In den Keller gehe ich in meinem Dienst auch jeden Tag.“
Iwan Fjodorowitsch blickt ihn eindringlich an.
»Du lügst, wie ich merke. Und ich verstehe dich nicht ganz“, sagte er leise, aber mit einem drohenden Unterton. »Du willst morgen einen dreitägigen epileptischen Anfall simulieren, ja?“
Smerdjakow, der zu Boden geblickt und dabei wieder mit der rechten Fußspitze gespielt hatte, stellte den rechten Fuß an seinen Platz, setzte statt dessen den linken vor, hob den Kopf und sagte lächelnd: »Selbst wenn ich das täte, das heißt, wenn ich einen Anfall simulierte, was übrigens für einen, der Bescheid weiß, keineswegs schwer ist, wäre ich vollkommen berechtigt, mich dieses Mittels zu bedienen, um mein Leben zu retten. Wenn Agrafena Alexandrowna nämlich zu Fjodor Pawlowitsch kommt, während ich krank daliege, so kann Dmitri Fjodorowitsch schwerlich einen kranken Menschen fragen: ‚Warum hast du mir das nicht gemeldet?‘ Er würde sich direkt schämen, das zu tun.“
»Zum Teufel!“ fuhr Iwan Fjodorowitsch plötzlich mit wutentstelltem Gesicht auf. »Was zitterst du immer um dein Leben? Alle diese Drohungen meines Bruders Dmitri sind doch nur leere, im Zorn gesprochene Worte, weiter nichts. Er wird dich nicht totschlagen. Er wird totschlagen, aber nicht dich.“
»Er wird totschlagen, wie man eine Fliege totschlägt, und zwar zuallererst mich. Aber noch mehr als das fürchte ich etwas anderes: daß man mich für mitschuldig hält, wenn er irgend etwas Sinnloses gegen seinen Vater verübt.“
»Warum sollte man dich für mitschuldig halten?“
»Weil ich ihm heimlich diese Signale mitgeteilt habe.“
»Was für Signale? Wem hast du sie mitgeteilt? Hol‘ dich der Teufel, sprich deutlicher!“
»Ich muß offen gestehen“, erwiderte Smerdjakow langsam und mit pedantischer Ruhe, »daß ich da ein Geheimnis mit Fjodor Pawlowitsch habe. Sie wissen selbst, oder vielleicht wissen Sie es nicht, daß er sich schon seit einigen Tagen von innen einschließt, sowie es Nacht oder auch nur Abend wird. Sie sind in der letzten Zeit jedesmal frühzeitig auf Ihr Zimmer zurückgekehrt, und gestern sind Sie überhaupt nicht ausgegangen, daher wissen Sie vielleicht nicht, mit welcher Sorgfalt er sich jetzt immer nachts einschließt. Und selbst wenn Grigori Wassiljewitsch käme, so würde er ihm nicht aufmachen, es sei denn, er erkennt ihn an der Stimme. Aber Grigori Wassiljewitsch kommt nicht, weil ich den Herrn in seinen Zimmern jetzt allein bediene. So hat er es bestimmt, als diese Geschichte mit Agrafena Alexandrowna begann. Zur Nacht aber entferne ich mich auf seine Anordnung jetzt ebenfalls und übernachte im Seitengebäude. Bis Mitternacht darf ich jedoch nicht schlafen, sondern habe Wachdienst. Ich muß aufstehen, auf dem Hof umhergehen und warten, daß Agrafena Alexandrowna kommt, denn er wartet schon seit mehreren Tagen wie ein Verrückter auf sie. Er spekuliert so: Sie hat Angst vor ihm, nämlich vor Dmitri Fjodorowitsch, vor Mitka, und darum wird sie spätnachts hintenherum kommen. ‚Du aber‘, sagt er, ‚paß bis Mitternacht auf, und noch länger. Und wenn sie kommt, dann lauf an meine Tür oder an eines der Fenster zum Garten und gib mir ein Klopfsignal, die beiden ersten Male langsam, so: eins, zwei, und dann dreimal schneller: tuck-tuck-tuck. Dann‘, sagt er, ‚werde ich wissen, daß sie gekommen ist, und werde leise die Tür aufmachen.‘ Und noch ein anderes Signal hat er mitgeteilt für den Fall, daß sich etwas Außerordentliches zutragen sollte. Zuerst zweimal schnell: tuck-tuck, und dann nach einer kleinen Pause noch einmal viel stärker. Dann wird er wissen, daß etwas Unerwartetes geschehen ist und ich ihn dringend sprechen muß. Dann wird er mir ebenfalls aufmachen, und ich soll hereinkommen und Bericht erstatten. Dieses zweite gilt für den Fall, daß Agrafena Alexandrowna nicht selbst kommen kann, sondern irgendwelche Nachricht schickt. Außerdem kann auch Dmitri Fjodorowitsch kommen, dann muß ich Nachricht geben, daß er in der Nähe ist. Vor Dmitri Fjodorowitsch hat er große Angst. Selbst wenn Agrafena Alexandrowna schon gekommen sein sollte und er sich mit ihr eingeschlossen hat, selbst dann bin ich unbedingt verpflichtet, ihm durch dreimaliges Klopfen zu melden, falls Dmitri Fjodorowitsch sich irgendwo in der Nähe zeigen sollte. Das erste Signal, mit fünf Schlägen, bedeutet also: Agrafena Alexandrowna ist gekommen. Das zweite Signal, mit drei Schlägen: Es liegt etwas sehr Dringendes vor. So hat er es mir selbst mehrmals vorgemacht und erklärt. Da nun in der ganzen Welt niemand außer mir und ihm über diese Signale Bescheid weiß, wird er aufmachen, ohne irgendwie zu zweifeln oder zu fragen, wer da sei. Und sehen Sie: Diese Signale sind jetzt auch Dmitri Fjodorowitsch zur Kenntnis gelangt.“
»Wie sind sie ihm zur Kenntnis gelangt? Hast du sie ihm mitgeteilt? Wie konntest du dich unterstehen, das zu tun.“
»Aus Angst. Wie hätte ich es wagen sollen, ihm gegenüber zu schweigen. Dmitri Fjodorowitsch fährt mich jeden Tag an:,Du betrügst mich, du verbirgst mir etwas! Ich werde dir beide Beine brechen!‘ Da habe ich ihm eben diese geheimen Signale mitgeteilt, damit er wenigstens meine Ergebenheit sieht und so zu der Überzeugung kommt, daß ich ihn nicht hintergehe.“
»Wenn du glaubst, daß er versuchen wird, unter Mißbrauch dieser Signale einzudringen, so laß ihn nicht herein!“
»Aber wenn ich in einem Anfall daliege, wie soll ich ihn dann nicht hereinlassen? Selbst wenn ich es wagen würde, ihn zurückzuhalten, obwohl ich doch weiß, was für ein jähzorniger Mensch er ist.“
»Hol' dich der Teufel! Woher bist du denn so fest überzeugt, daß du einen Anfall bekommst? Machst du dich über mich lustig?“
»Wie würde ich wagen, mich über Sie lustig zu machen? Und kann mir danach zumute sein, wo ich doch solche Angst habe? Ich habe ein Vorgefühl, ich fühle vorher, daß ich einen Anfall bekomme. Schon allein aus Angst bekomme ich einen.“
»Zum Teufel, wenn du einen Anfall hast, muß eben Grigori aufpassen. Benachrichtige ihn vorher, dann wird er ihn nicht hereinlassen.“
»Grigori Wassiljewitsch darf ich auf Befehl des Herrn nichts von den Signalen sagen. Außerdem ist Grigori Wassiljewitsch gerade heute infolge des gestrigen Vorfalls erkrankt, und Marfa Ignatjewna will ihn morgen erst kurieren. Das haben sie vorhin verabredet. Die beiden kennen da eine sehr merkwürdige Behandlung. Marfa Ignatjewna hat ständig so einen Branntweinaufguß vorrätig, sehr stark, aus irgendeinem Kraut, das ist ihr Geheimnis. Mit diesem Geheimmittel kuriert sie ihren Mann etwa dreimal jährlich, wenn ihm das Kreuz gelähmt ist wie bei einem Schlaganfall. Sie nimmt ein Handtuch, befeuchtet es mit diesem Aufguß und reibt ihm den ganzen Rücken eine halbe Stunde lang, bis es wieder trocken ist. Sein Rücken wird dabei ganz rot und schwillt an. Den Rest in der Flasche gibt sie ihm unter einem bestimmten Gebet zu trinken, jedoch nicht den ganzen Rest, denn einen kleinen Teil behält sie bei dieser seltenen Gelegenheit für sich zurück und trinkt ihn ebenfalls aus. Und da sie beide keine Trinker sind, werden sie ganz taumelig, sage ich Ihnen, und schlafen lange und fest. Wenn Grigori Wassiljewitsch aufwacht, ist er danach fast immer gesund. Und wenn Marfa Ignatjewna aufwacht, hat sie danach immer Kopfschmerzen. Wenn also Marfa Ignatjewna ihn morgen auf diese ihre Weise kuriert, werden sie wohl kaum etwas hören und Dmitri Fjodorowitsch am Eintritt hindern. Sie werden schlafen.“
»Was ist das für ein Unsinn! Und wie das alles ganz zufällig zusammentrifft. Du hast einen Anfall, und die beiden sind bewußtlos!“ rief Iwan Fjodorowitsch. »Arrangierst du diesen Zufall vielleicht selber?“ entfuhr es ihm unwillkürlich, und er zog drohend die Augenbrauen zusammen.
»Wie sollte ich das denn arrangieren? Und wozu, wo doch hier alles nur von Dmitri Fjodorowitsch und seinen Plänen abhängt … Wenn er etwas anrichten will, so wird er es tun. Und wenn nicht, so werde ich ihn doch nicht absichtlich zu seinem Vater hinstoßen …
»Aber weshalb soll er zum Vater kommen, und noch dazu heimlich, wenn Agrafena Alexandrowna überhaupt nicht erscheint, wie du selbst sagst?“ fuhr Iwan Fjodorowitsch, vor Wut ganz blaß, fort. »Du sagst es doch selbst, und auch ich bin die ganze Zeit, seit ich hier wohne, davon überzeugt gewesen, daß der Alte nur phantasiert und daß diese Kreatur ihn nicht besuchen wird. Weshalb sollte also Dmitri bei dem Alten einbrechen? Sprich! Ich will deine Gedanken wissen!“
»Sie belieben selbst zu wissen, weshalb er kommen wird. Was sollen da noch meine Gedanken? Er wird einzig und allein aus Wut kommen. Oder er wird, mißtrauisch, wie er ist, zum Beispiel, wenn ich krank bin, Zweifel hegen und herkommen, um die Zimmer zu durchsuchen wie gestern, ob sie auch nicht irgendwie unbemerkt vorbeigeschlüpft ist. Es ist ihm auch genau bekannt, daß bei Fjodor Pawlowitsch ein großes Kuvert mit dreitausend Rubel bereitliegt, mit drei Siegeln versehen und mit einem Bändchen umwunden. Daß Fjodor Pawlowitsch eigenhändig geschrieben hat: ‚Für meinen Engel Gruschenka, wenn sie zu mir kommen will.‘ Und daß er drei Tage später noch hinzugefügt hat: ‚Für mein liebes Kücken.‘ Sehen Sie, das ist das Bedenkliche.“
»Unsinn!“ schrie Iwan Fjodorowitsch, nun beinahe rasend. »Dmitri kommt nicht, um Geld zu stehlen und dabei noch seinen Vater totzuschlagen. Gestern wäre er imstande gewesen, ihn wegen Gruschenka totzuschlagen, wütend wie der Dummkopf war. Aber auf Raub ausgehen, das tut er nicht!“
»Er braucht jetzt dringend Geld. Sehr dringend, Iwan Fjodorowitsch. Sie wissen gar nicht, wie dringend“, setzte ihm Smerdjakow mit größter Ruhe und mit bemerkenswerter Sorgfalt auseinander. »Diese dreitausend Rubel hält er dabei gewissermaßen für sein Eigentum. Er hat mir gegenüber selber geäußert: ‚Mein Vater ist mir eigentlich noch dreitausend Rubel schuldig!‘ Beachten Sie aber außerdem noch einen weiteren wahren Umstand, Iwan Fjodorowitsch. Es ist ja so gut wie sicher, muß man sagen, daß Agrafena Alexandrowna, wenn sie nur will, ihn unbedingt zu einer Heirat veranlassen könnte, ich meine, den Herrn selbst, Fjodor Pawlowitsch, wenn sie nur will. Na, und vielleicht wird sie es wollen. Ich sage nur, daß sie nicht kommt. Vielleicht will sie aber noch viel mehr: nämlich gnädige Frau werden. Ich weiß selbst, der Kaufmann Samsonow hat ihr ganz offen gesagt, daß das gar nicht dumm wäre, und dabei hat er gelacht. Und sie selber ist, was den Verstand anlangt, ziemlich gewitzt. Einen armen Teufel wie Dmitri Fjodorowitsch wird sie nicht heiraten. Erwägen Sie in Anbetracht alles dessen nun folgendes, Iwan Fjodorowitsch. Weder Dmitri Fjodorowitsch noch Sie und Ihr Bruder Alexej Fjodorowitsch würden dann nach dem Tode des Vaters etwas von der Hinterlassenschaft erhalten, nicht einen Rubel. Agrafena Alexandrowna wird ihn ja eben zu dem Zweck heiraten, allen Grundbesitz auf ihren Namen umschreiben zu lassen und das Kapital als Eigentum zu erhalten. Stirbt jedoch Ihr Vater jetzt, bevor etwas von all dem geschehen ist, so fallen jedem von Ihnen sofort vierzigtausend Rubel zu, sogar Ihrem Bruder Dmitri Fjodorowitsch, den er so haßt. Ein Testament hat er nämlich noch nicht gemacht … Und das alles weiß Dmitri Fjodorowitsch ganz genau.“
In Iwan Fjodorowitschs Gesicht schien sich etwas zu verkrampfen. Er wurde auf einmal rot.
»Und, warum rätst du mir unter all diesen Umständen, nach Tschermaschnja zu fahren?“ unterbrach er Smerdjakow. »Worauf willst du damit hinaus? Ich fahre weg, und bei euch passiert inzwischen etwas, wie?“
Iwan Fjodorowitsch holte keuchend Atem.
»Das ist vollkommen richtig“, erwiderte Smerdjakow leise und bedachtsam, dabei beobachtete er Iwan Fjodorowitsch unverwandt.
»Was meinst du mit ‚vollkommen richtig‘?“ fragte Iwan Fjodorowitsch. Er beherrschte sich nur mit großer Anstrengung, und seine Augen blitzten drohend.
»Ich habe das gesagt, weil Sie mir leid tun. Wäre ich an Ihrer Stelle, würde ich lieber alles im Stich lassen, als bei so einer Sache anwesend sein …“, antwortete Smerdjakow und blickte Iwan Fjodorowitsch mit der offenherzigsten Miene an.
Beide schwiegen eine Weile.
»Ich glaube, du bist ein großer Idiot! Und außerdem natürlich ein furchtbarer Schurke!“ sagte Iwan Fjodorowitsch und stand plötzlich von der Bank auf.
Danach wollte er gleich durch das Tor gehen, doch er blieb noch einmal stehen und drehte sich zu Smerdjakow um. Und da geschah etwas Seltsames. Iwan Fjodorowitsch biß sich plötzlich krampfhaft auf die Lippe, ballte die Fäuste und — noch ein Augenblick, und er hätte sich auf Smerdjakow gestürzt. Der bemerkte es sofort, fuhr zusammen und beugte den Oberkörper zurück. Der Augenblick ging für Smerdjakow jedoch glücklich vorüber.
Iwan Fjodorowitsch schickte sich schweigend, aber anscheinend unentschlossen an zu gehen.
»Ich fahre morgen nach Moskau, wenn du es wissen willst, morgen früh. Weiter habe ich dir nichts zu sagen!“ sagte er noch zornig. Später wunderte er sich selbst darüber, warum er es für nötig gehalten hatte, Smerdjakow das mitzuteilen.
»Das ist auch das beste“, fiel dieser ein, als ob er darauf gewartet hätte; »höchstens, daß Sie in einem solchen Fall telegrafisch beunruhigt werden können.“
Iwan Fjodorowitsch blieb wieder stehen und wandte sich wieder schnell zu Smerdjakow um.
Auch an dem Diener schien eine Veränderung vorgegangen zu sein. Seine ganze Vertraulichkeit und Lässigkeit war urplötzlich verschwunden, sein Gesicht drückte gespannte, jetzt jedoch schüchterne, unterwürfige Erwartung aus. ‚Wirst du nicht noch etwas sagen? Noch etwas hinzufügen?‘ Diese Frage war in seinem unverwandt auf Iwan Fjodorowitsch gerichteten Blick zu lesen.
»Würde man mich denn nicht auch aus Tschermaschnja zurückrufen — in einem solchen Fall?“ schrie Iwan Fjodorowitsch plötzlich, und zwar unverständlicherweise sehr laut.
»Auch in Tschermaschnja würde man Sie beunruhigen …“, murmelte Smerdjakow beinahe flüsternd; dabei starrte er Iwan Fjodorowitsch weiterhin an.
»Nur ist Moskau weiter und Tschermaschnja näher; da tut es dir wohl um das verfahrene Geld leid, wenn du so für Tschermaschnja bist? Oder tue ich dir leid, daß ich eine so weite Fahrt hin und zurück mache?“
»Vollkommen richtig“, murmelte Smerdjakow zögernd und grinste widerwärtig. Er machte sich wieder bereit, notfalls rechtzeitig zurückzuweichen.
Doch Iwan Fjodorowitsch lachte plötzlich zu Smerdjakows Verwunderung los und ging durch das Tor. Wer sein Gesicht gesehen hätte, dem wäre sicher aufgefallen, daß er keineswegs aus heiterer Stimmung lachte. Auch er selbst hätte nicht erklären können, was in diesem Augenblick mit ihm vorging. Seine Bewegungen und sein Gang wirkten überaus verkrampft.