1. Die Verlobung
Frau Chochlakowa war wieder die erste, die Aljoscha entgegenkam. Sie war in großer Eile und sehr aufgeregt: Es sei etwas Wichtiges geschehen. Katerina Iwanownas hysterischer Anfall habe mit einer Ohnmacht geendet; darauf sei „schreckliche Schwäche“ über sie gekommen, sie habe sich hingelegt, die Augen geschlossen und angefangen zu phantasieren. Jetzt habe sie Fieber; es sei nach Doktor Herzenstube sowie nach den Tanten geschickt worden. Die Tanten seien schon da, aber Doktor Herzenstube noch nicht. Alle säßen bei ihr im Zimmer und warteten. Irgend etwas müsse sich daraus entwickeln, noch sei sie aber ohne Bewußtsein.
„Wenn es nur kein Nervenfieber wird!“
Als Frau Chochlakowa das ausrief, sah sie ernstlich besorgt aus. „Jetzt ist die Sache ernst, jetzt ist die Sache ernst!“ fügte sie nach jedem Wort hinzu, als sei alles, was früher mit Katerina Iwanowna vorgefallen war, nicht ernst gewesen. Aljoscha hörte ihr bekümmert zu; als er anfing, ihr auch seine Erlebnisse zu erzählen, unterbrach sie ihn gleich bei den ersten Worten, sie habe keine Zeit. Sie bat ihn, sich zu Lisa zu setzen und bei dieser auf sie zu warten.
„Liebster Alexej Fjodorowitsch!“ flüsterte sie ihm beinahe ins Ohr. „Lise hat mich soeben zutiefst erstaunt, aber auch gerührt, und darum verzeiht ihr mein Herz alles. Denken Sie nur: Sie waren kaum gegangen, als sie auf einmal aufrichtig zu bereuen begann, daß sie sich gestern und heute über Sie lustig gemacht habe. Doch dabei hat sie sich eigentlich gar nicht über Sie lustig gemacht, sondern nur gescherzt. Aber sie bereute es so ernsthaft, beinahe bis zu Tränen, daß ich wirklich erstaunt war. Niemals hat sie es früher ernsthaft bereut, wenn sie sich über mich lustig gemacht hatte, höchstens einmal im Scherz. Und Sie wissen, daß sie sich alle Augenblicke über mich lustig macht. Aber jetzt bereut sie ernsthaft, jetzt kommt es bei ihr ganz ernst heraus. Sie legt außerordentlichen Wert auf die Meinung, die Sie von ihr haben, Alexej Fjodorowitsch. Und wenn es Ihnen möglich ist, seien Sie ihr nicht böse, machen Sie ihr keine Vorwürfe. Ich selbst behandle sie mit der größten Nachsicht, weil sie so ein verständiges Kind ist. Werden Sie es mir glauben — sie sagte eben zu mir, Sie seien ihr Freund in ihren Kinderjahren gewesen. ‚Mein bester Freund in meinen Kinderjahren!‘ Denken Sie nur, ihr bester Freund! Und ich? Sie hat in dieser Hinsicht sehr ernsthafte Gefühle und sogar Erinnerungen. Ganz besonders imponieren mir aber diese Redewendungen und ganz unerwarteten Wortspiele, auf die man gar nicht gefaßt ist, plötzlich springt ihr eins aus dem Mund. So erst neulich von einer Linde. Das war so: Bei uns im Garten stand in ihrer frühesten Kindheit eine Linde; vielleicht steht sie auch noch da, so daß man gar nicht in der Vergangenheitsform von ihr zu reden braucht. Linden sind ja keine Menschen — sie bleiben lange unverändert, Alexej Fjodorowitsch. ‚Mama‘, sagte sie, ‚ich erinnere mich noch an diese Linde — sie duftete so linde.‘ Sie drückte das sicher etwas anders aus; so wie ich es sage, klingt es dumm. Jedenfalls sagte sie bei dieser Gelegenheit etwas so Originelles, daß ich schlechterdings nicht imstande bin, es wiederzugeben. Ich habe es auch schon ganz vergessen. Nun, auf Wiedersehen! Ich bin sehr erschüttert und werde wohl den Verstand verlieren. Alexej Fjodorowitsch, ich habe in meinem Leben schon zweimal den Verstand verloren und bin jedesmal wieder geheilt worden. Gehen Sie zu Lise! Machen Sie ihr wieder Mut, wie Sie das so vorzüglich verstehen … Lise!“ rief sie und ging zu ihrer Tür. „Da bringe ich dir Alexej Fjodorowitsch, den du so schwer beleidigt hast. Und er ist gar nicht böse, versichere ich dir. Er wundert sich vielmehr, wie du so etwas hast denken können!“
„Merci, Mama! Treten Sie ein, Alexej Fjodorowitsch!“
Aljoscha trat ein.
Lisa sah ihn verlegen an und wurde auf einmal ganz rot. Sie schämte sich offenbar über etwas und begann, wie man das in solchen Fällen immer tut, schnell von etwas Nebensächlichem zu reden, als ob sie sich in diesem Augenblick nur dafür interessierte.
„Mama hat mir eben erst die Geschichte von diesen zweihundert Rubeln mitgeteilt und von dem Auftrag, den Sie bekommen haben, Alexej Fjodorowitsch … An diesen armen Offizier. Und sie hat mir diese ganze schreckliche Geschichte erzählt, wie er beleidigt worden ist. Und wissen Sie, obgleich Mama sehr ungeschickt erzählt, denn sie überspringt immer dies und das, habe ich doch beim Zuhören geweint. Nun, wie ist es? Haben Sie das Geld abgegeben, und wie geht es jetzt diesem Unglücklichen?“
„Das ist es eben, daß ich ihn nicht zur Annahme bewegen konnte! Eine lange Geschichte!“ antwortete Aljoscha, der gleichfalls so tat, als bestünde sein hauptsächlicher Kummer darin, daß er das Geld nicht hatte loswerden können. Dabei merkte Lisa sehr wohl, daß auch er zur Seite blickte und sich ebenfalls sichtlich bemühte, von Nebensächlichem zu reden. Aljoscha setzte sich an den Tisch und begann zu erzählen; und schon bei den ersten Worten schwand seine Verlegenheit, und er riß seinerseits Lisa mit sich fort. Er sprach unter der Einwirkung eines starken Gefühls und des außerordentlichen Eindrucks, den er kurz vorher empfangen hatte, und es gelang ihm, gut und anschaulich zu erzählen. Er war auch früher, als sie noch in Moskau wohnten und Lisa noch ein Kind war, des öfteren zu ihr gekommen und hatte ihr allerlei erzählt, mal etwas Erlebtes, mal etwas Gelesenes und Erinnerungen aus seiner Kindheit. Manchmal hatten sie auch beide zusammen ihrer Phantasie die Zügel schießen lassen und mit vereinten Kräften ganze Geschichten ausgedacht, größtenteils lustige und lächerliche. Jetzt fühlten sie sich auf einmal beide in die frühere Moskauer Zeit zurückversetzt. Lisa war von seiner Erzählung sehr ergriffen.
Aljoscha hatte verstanden, ihr mit Wärme ein Bild von Iljuschetschka zu entwerfen. Als er aber die Szene mit allen Einzelheiten zu Ende beschrieben hatte, wie jener Mensch das Geld mit Füßen getreten hatte, da schlug Lisa die Hände zusammen und rief mit mächtiger Empfindung: „Also haben Sie ihn nicht zur Annahme des Geldes bewegen können? Haben ihn weglaufen lassen? O Gott, Sie hätten ihm doch wenigstens nachlaufen sollen …“
„Nein, Lisa, es ist besser, daß ich ihm nicht nachgelaufen bin“, erwiderte Aljoscha, stand vom Tisch auf und ging sorgenvoll im Zimmer auf und ab.
„Wieso soll das besser sein? Inwiefern soll das besser sein? Jetzt haben die dort kein Brot und werden umkommen!“
„Sie werden nicht umkommen, weil ihnen diese zweihundert Rubel doch nicht entgehen werden. Morgen wird er sie trotz allem nehmen. Morgen wird er sie bestimmt nehmen“, sagte Aljoscha, noch immer nachdenklich hin und her wandernd. „Sehen Sie, Lisa“, fuhr er fort und blieb plötzlich vor ihr stehen. „Ich selbst habe hierbei einen Fehler gemacht, aber auch dieser Fehler wird zum Guten ausschlagen.“
„Was für einen Fehler? Und wieso wird er zum Guten ausschlagen?“
„Hören Sie den Grund. Er ist ein furchtsamer, charakterschwacher Mensch, zerquält, aber herzensgut. Ich frage mich jetzt immerzu: Wodurch hat er sich auf einmal so gekränkt gefühlt, daß er das Geld mit Füßen trat? Denn ich versichere Sie, bis zum letzten Augenblick hat er nicht gewußt, daß er das tun würde. Es scheint mir, daß ihn zu vieles gekränkt hat, und es konnte auch in seiner Lage gar nicht anders sein. Erstens war es ihm schon peinlich, daß er sich in meiner Gegenwart so sehr über das Geld gefreut und diese Freude vor mir nicht verborgen hatte. Hätte er sich maßvoller gefreut, hätte er seine Freude nicht so offen gezeigt, sondern wie andere Leute Redensarten gemacht und sich verstellt, nun, dann hätte er es noch vermocht, das Beschenktwerden zu ertragen und das Geld anzunehmen. So aber hatte er sich schon zu offen gefreut, und das war ihm peinlich. Lisa, er ist ein ehrlicher, herzensguter Mensch, und gerade das gereicht in solchen Fällen zum Schaden! Die ganze Zeit, während er sprach, war seine Stimme so schwach und kraftlos, und er sprach so schnell und hastig und lachte so eigentümlich oder weinte gar schon … Wirklich, er weinte, so begeistert war er … Und von seinen Töchtern sprach er … Und von der Stelle, die er in einer anderen Stadt bekommen würde … Und kaum hatte er in dieser Weise sein Herz ausgeschüttet, begann er sich auch schon zu schämen, daß er mir sein Inneres so gezeigt hatte. Und in dem Moment begann er mich zu hassen. Er gehört eben zu den verschämten Armen. Besonders konnte er sich nicht verzeihen, daß er mich gar zu schnell als Freund angenommen und sich so schnell ergeben hatte. Erst war er auf mich losgestürzt und hatte mich einschüchtern wollen, und nun auf einmal, kaum hatte er das Geld gesehen, war er nahe daran gewesen, mich zu umarmen. Denn es hatte wirklich nicht viel gefehlt; er war mir schon immerzu mit seinen Händen sehr nahe gekommen. Gerade dadurch mußte er sich seiner ganzen Erniedrigung bewußt werden — und ausgerechnet da beging ich einen Fehler, einen sehr schweren Fehler. Ich sagte ihm, wenn das Geld zum Umzug in eine andere Stadt nicht ausreicht, würde er aus derselben Quelle noch mehr erhalten, und auch ich würde ihm von meinem Geld geben, soviel er wolle. Das war es, was ihn auf einmal stutzig machte: Er fragte sich, was nun auch ich für Grund hätte, ihm beizuspringen. Wissen Sie, Lisa, für einen vom Unglück verfolgten Menschen ist es furchtbar peinlich, wenn alle Leute sich als seine Wohltäter aufspielen. Ich habe das vom Starez gehört … Ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll, aber ich habe es oft selbst mit angesehen. Und ich für meine Person empfinde ebenso. Die Hauptsache jedoch ist dies: Wenn er auch bis zum letzten Augenblick nicht gewußt hat, daß er die Banknoten mit Füßen treten würde, so hat er es doch wenigstens geahnt, daran gibt es für mich kaum Zweifel. Eben deswegen war seine Verzückung so stark, weil er es geahnt hat. Und sehen Sie, so widerwärtig das alles auch sein mag, es wird doch zum Guten führen. Ich glaube sogar, zum Allerbesten, so daß es gar nicht besser sein könnte … “
„Warum könnte es gar nicht besser sein?“ rief Lisa und sah dabei Aljoscha höchst erstaunt an.
„Der Grund ist der, Lisa: Wenn er das Geld nicht mit Füßen getreten, sondern genommen hätte, so wäre er, nach Hause zurückgekehrt, etwa eine Stunde darauf über seine Erniedrigung in Tränen ausgebrochen — das wäre mit Sicherheit die Folge gewesen. Er wäre in Tränen ausgebrochen und schließlich morgen bei Tagesanbruch zu mir gekommen, hätte mir die Banknoten vielleicht hingeworfen und sie mit Füßen getreten, wie er es vorhin getan hat. Jetzt aber ist er ganz stolz und triumphierend fortgegangen, obgleich er weiß, daß er sich durch seine Handlungsweise zugrunde richtet. Folglich wird jetzt nichts leichter sein, als ihn gleich morgen zur Annahme dieser zweihundert Rubel zu bewegen; denn er hat nun schon bewiesen, daß er Ehrgefühl besitzt, hat das Geld hingeworfen und mit Füßen getreten. Er konnte ja, als er es mit Füßen trat, nicht wissen, daß ich es ihm morgen wiederbringen würde. Und dabei braucht er dieses Geld furchtbar nötig. Wenn er jetzt auch stolz ist, wird es ihm doch noch heute zu Bewußtsein kommen, welch eine Hilfe er ausgeschlagen hat. In der Nacht wird er noch mehr daran denken; er wird davon träumen. Und morgen früh wird er vielleicht willens sein, zu mir zu laufen und um Verzeihung zu bitten. Aber da werde ich selbst bei ihm erscheinen und sagen: ‚Sie sind ein stolzer Mensch, Sie haben es bewiesen. Aber jetzt nehmen Sie es an, und verzeihen Sie uns!‘ Und dann wird er es annehmen!“
Aljoscha hatte das in einer Art von Begeisterung ausgerufen: „Und dann wird er es annehmen!“ Lisa klatschte in die Hände. „Ja, das ist richtig, das habe ich sehr gut begriffen! Aljoscha, woher wissen Sie das alles bloß? So jung ist er noch und weiß schon, was in der Seele eines Menschen vorgeht! Ich wäre nie darauf gekommen … “
„Vor allen Dingen müssen wir ihm jetzt die Überzeugung beibringen, daß er mit uns allen auf gleicher Stufe steht, obwohl er von uns Geld annimmt“, fuhr Aljoscha in seiner Begeisterung fort. „Und nicht nur auf gleicher Stufe, sondern sogar auf einer höheren … “
„Auf einer höheren Stufe … vorzüglich, Alexej Fjodorowitsch! Aber fahren Sie fort, fahren Sie fort!“
„Das heißt, ich habe mich nicht richtig ausgedrückt … mit der höheren Stufe … Aber das tut nichts; denn …“
„Ach, das tut nichts, das tut nichts, gewiß, das tut nichts! Verzeihen Sie, lieber Aljoscha … Wissen Sie, ich habe Sie bisher wenig geachtet … das heißt, ich habe Sie geachtet, aber wie einen, der mit mir auf gleicher Stufe steht. Jetzt jedoch werde ich Sie wie einen Höherstehenden achten … Lieber Aljoscha, seien Sie nicht böse, daß ich witzele“, fügte sie sogleich mit Wärme hinzu. „Ich bin nur ein lächerliches, unbedeutendes Geschöpf, aber Sie, Sie … Hören Sie mal, Alexej Fjodorowitsch, steckt nicht in diesem unserem Gedanken, das heißt in Ihrem Gedanken, nein, richtiger doch in unserem … steckt nicht darin eine Art von Geringschätzung diesem Unglücklichen gegenüber? Wenn wir jetzt seine Seele sezieren, so von oben herab? Wie? Wenn wir jetzt mit solcher Bestimmtheit behaupten, daß er das Geld annehmen wird? Wie?“
„Nein, Lisa, eine Geringschätzung steckt nicht darin“, antwortete Aljoscha entschieden, als ob er auf diese Frage schon vorbereitet war. „Ich habe darüber bereits auf dem Heimweg nachgedacht. Urteilen Sie selbst. Wie kann von Geringschätzung die Rede sein, wo wir doch von derselben Art sind wie er, wo doch alle Menschen von derselben Art sind wie er. Denn auch wir sind von derselben Art und keineswegs besser. Aber auch wenn wir besser wären, würden wir an seiner Stelle doch ebenso handeln. Ich weiß nicht, wie Sie darüber denken, Lisa, aber ich glaube von mir, daß ich in vieler Hinsicht eine kleinliche Seele habe. Er dagegen hat keine kleinliche Seele, sondern im Gegenteil eine sehr feinfühlige … Nein, Lisa, von Geringschätzung kann nicht die Rede sein! Wissen Sie, Lisa, mein Starez sagte einmal: Man muß die Menschen wie Kinder warten und pflegen und manche wie die Kranken in den Krankenhäusern.“
„Ach, Alexej Fjodorowitsch, mein Täubchen, lassen Sie uns die Menschen wie Kranke warten und pflegen!“
„Tun wir das, Lisa, ich bin bereit! Nur bin ich selbst noch nicht geschickt genug. Ich bin manchmal sehr ungeduldig, und ein andermal ist es, als hätte ich keine Augen im Kopf. Bei Ihnen ist es etwas anderes.“
„Nein, das glaube ich nicht, Alexej Fjodorowitsch, wie glücklich ich bin!“
„Wie schön, daß Sie das sagen, Lisa.“
„Alexej Fjodorowitsch, Sie sind erstaunlich gut. Manchmal scheint es, daß Sie pedantisch sind. Sieht man jedoch genauer hin, sind Sie gar nicht pedantisch … Gehen Sie doch mal zur Tür, öffnen Sie sachte und sehen Sie, ob Mama nicht horcht“, flüsterte Lisa auf einmal nervös und hastig.
Aljoscha ging hin, öffnete die Tür ein wenig und berichtete, es horche niemand.
„Kommen Sie zu mir, Alexej Fjodorowitsch“, fuhr Lisa fort und errötete immer stärker. „Geben Sie mir Ihre Hand, so! Hören Sie, ich muß Ihnen ein großes Geständnis machen. Den Brief gestern habe ich Ihnen nicht im Scherz geschrieben, sondern im Ernst …“ Und sie bedeckte ihre Augen mit der Hand. Es war klar, daß sie sich sehr schämte, dieses Geständnis zu machen. Plötzlich ergriff sie seine Hand und küßte sie ungestüm dreimal.
„Ach, Lisa, das ist schön!“ rief Aljoscha freudig. „Aber ich war ja auch überzeugt, daß Sie ihn im Ernst geschrieben hatten.“
„Er war überzeugt! Na, so etwas!“ rief Lisa und schob auf einmal seine Hand zurück ohne sie jedoch loszulassen. Sie wurde dunkelrot und brach in ein leises, glückliches Lachen aus. „Ich habe ihm die Hand geküßt, und er sagt einfach — Das ist schön!“
Aber sie machte ihm zu Unrecht Vorwürfe, denn auch Aljoscha war sehr verwirrt.
„Ich möchte Ihnen immer gefallen, Lisa. Ich weiß aber nicht, wie ich das machen soll“, murmelte er undeutlich und errötete ebenfalls.
„Lieber Aljoscha, Sie sind kalt und arrogant. Er hat geruht, mich zu seiner Gattin zu wählen, und damit hat er sich beruhigt! Er war überzeugt, daß ich den Brief im Ernst geschrieben habe — was soll man dazu sagen? Das ist doch wohl Arroganz — ja, das ist es!“
„Ist es etwa schlecht, daß ich davon überzeugt war?“ fragte Aljoscha lachend.
„Im Gegenteil, Aljoscha, es ist sehr gut“, erwiderte Lisa, ihn zärtlich und glücklich anblickend.
Aljoscha stand immer noch da, seine Hand in ihrer. Auf einmal beugte er sich herunter und küßte sie auf den Mund.
„Was soll denn das wieder heißen? Was haben Sie?“ rief Lisa.
Aljoscha verlor völlig die Fassung.
„Verzeihen Sie, wenn ich … Ich habe mich vielleicht sehr dumm benommen … Sie sagten, ich bin kalt, also habe ich Sie ohne Umstände geküßt … Aber ich sehe, daß dabei etwas Dummes herausgekommen ist …“
Lisa lachte und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
„Und noch dazu in dieser Tracht!“ entfuhr es ihr, während sie lachen mußte.
Doch auf einmal hörte sie auf zu lachen, und ihre Miene wurde ernst, fast streng.
„Nein, Aljoscha. Mit dem Küssen wollen wir noch warten, das verstehen wir beide noch nicht. Und warten werden wir noch sehr lange müssen“, schloß sie plötzlich. „Sagen Sie mir lieber, warum Sie gerade mich nehmen, so ein dummes Ding, so eine kranke Person, Sie, der Sie so klug sind und so viel denken und so ein scharfes Auge haben? Ach, Aljoscha, ich bin furchtbar glücklich darüber, daß ich Ihrer so wenig wert bin!“
„Warten Sie, ich will es Ihnen sagen, Lisa. Ich werde in den nächsten Tagen das Kloster endgültig verlassen. Wenn man in die Welt tritt, muß man heiraten, das weiß ich, und der Starez hat es mir auch befohlen. Wen könnte ich nun besser nehmen als Sie? Und wer außer Ihnen würde mich nehmen? Ich habe darüber bereits nachgedacht. Erstens kennen Sie mich von klein auf. Und zweitens besitzen Sie viele gute Eigenschaften, die mir fehlen. Ihre Seele ist heiterer als meine. Und vor allem sind Sie unschuldiger als ich, denn ich bin schon mit vielem in Berührung gekommen … Sie wissen das nicht, ich bin schließlich auch ein Karamasow! Was tut es, daß Sie lachen und scherzen, auch über mich? Im Gegenteil, lachen und scherzen Sie nur, ich freue mich darüber. Aber Sie lachen wie ein kleines Mädchen, und dabei denken Sie im stillen doch wie eine Märtyrerin …“
„Wie eine Märtyrerin? Wieso?“
„Ihre Frage von vorhin, ob nicht in uns Geringschätzung gegenüber diesem Unglücklichen steckt, weil wir seine Seele sezieren, das ist eine märtyrerhafte Frage … Sehen Sie, ich kann das nicht gut ausdrücken, doch wem solche Fragen in den Kopf kommen, der ist selbst fähig zu leiden. Sie müssen, während Sie da in Ihrem Rollstuhl sitzen, schon über vieles nachgedacht haben … “
„Aljoscha, geben Sie mir Ihre Hand! Warum haben Sie sie weggenommen?“ sagte Lisa, ihre Stimme war vor Glück ganz schwach und matt geworden. „Hören Sie, Aljoscha, was werden Sie denn anziehen, wenn Sie das Kloster verlassen? Lachen Sie nicht, werden Sie nicht böse, das ist mir sehr, sehr wichtig.“
„Daran habe ich noch nicht gedacht, aber ich werde anziehen, was Sie wünschen.“
„Ich will, daß Sie ein dunkelblaues Samtjackett tragen, eine weiße Pikeeweste und einen weichen, grauen Hut … Sagen Sie, haben Sie vorhin geglaubt, daß ich Sie nicht liebe, als ich meinen Brief von gestern verleugnete?“
„Nein, ich habe es nicht geglaubt.“
„Oh, Sie unausstehlicher Mensch! Sie unverbesserlicher Mensch!“
„Sehen Sie, ich wußte, daß Sie mich … allem Anschein nach … lieben. Dennoch tat ich so, als ob ich Ihnen glaubte, daß Sie mich nicht lieben, damit es für Sie angenehmer ist.“
„Das ist noch schlimmer! Es ist schlimmer und doch das allerbeste. Aljoscha, ich liebe Sie furchtbar. Vorhin, als ich auf Sie wartete, habe ich mir gesagt: Ich werde den Brief von ihm zurückverlangen, und wenn er ihn ruhig herauszieht und mir wiedergibt, wie man das immerhin erwarten kann, so bedeutet das, daß er mich nicht liebt und nichts empfindet, daß er einfach ein dummer, unwürdiger Junge ist und daß ich verloren bin. Aber Sie hatten den Brief in Ihrer Zelle gelassen, und das ermutigte mich. Nicht wahr, Sie hatten ihn deswegen in der Zelle gelassen, weil Sie ahnten, daß ich ihn zurückverlangen würde? Damit Sie ihn nicht herauszugeben brauchten? Ist es so?“
„So ist es ganz und gar nicht. Ich habe den Brief jetzt bei mir, und auch vorhin hatte ich ihn bei mir, hier in dieser Tasche.“
Aljoscha zog lachend den Brief heraus und zeigte ihn ihr von weitem:
„Hier ist er. Aber wieder bekommen Sie ihn nicht. Sie dürfen ihn nur in meiner Hand sehen!“
„Wie? Sie haben also vorhin gelogen? Sie, ein Mönch, haben gelogen?“
„Meinetwegen, ich habe gelogen“, erwiderte Aljoscha lachend. „Damit ich Ihnen den Brief nicht wiederzugeben brauchte, habe ich gelogen. Er ist mir sehr teuer“, fügte er mit Wärme hinzu und errötete wieder. „Und er wird mir lebenslänglich teuer sein. Niemals werde ich ihn je herausgeben!“
Lisa blickte ihn hingerissen an.
„Aljoscha“, stammelte sie wieder, „sehen Sie an der Tür nach, ob Mama nicht horcht.“
„Gut, Lisa, ich werde nachsehen. Aber wäre es nicht besser, es zu unterlassen? Warum sollen wir Ihre Mutter eines so unwürdigen Benehmens verdächtigen?“
„Wieso unwürdig? Was ist dabei unwürdig? Wenn sie ihre Tochter belauscht, so ist das ihr Recht und kein unwürdiges Benehmen“, ereiferte sich Lisa. „Seien Sie überzeugt, Alexej Fjodorowitsch, wenn ich selbst Mutter bin und selber so eine Tochter habe, werde ich sie unweigerlich belauschen.“
„Wirklich, Lisa? Das ist nicht schön.“
„Ach, mein Gott, was ist daran Unwürdiges? Würde sie, ein gewöhnliches Gespräch irgendwelcher Bekannten belauschen, wäre das unwürdig. Doch hier ist ihre Tochter mit einem jungen Mann allein in einem Zimmer … Hören Sie, Aljoscha, ich werde ebenfalls auf Sie aufpassen, sowie wir verheiratet sind. Und Sie mögen ferner wissen, daß ich alle Ihre Briefe aufmachen und alles lesen werde. Also lassen Sie sich gewarnt sein …“
„Ja gewiß, wenn es so ist …“, murmelte Aljoscha. „Aber schön ist das nicht.“
„Ach, mit welcher Verachtung Sie das sagen! Lieber Aljoscha, wir wollen uns nicht gleich von vornherein streiten; ich will Ihnen lieber meine wahre Meinung sagen. Horchen ist natürlich etwas sehr Häßliches, und selbstverständlich habe ich unrecht und Sie recht — aber ich werde trotzdem horchen.“
„Tun Sie das! Sie werden bei mir nichts Schlimmes ausspionieren!“ erwiderte Aljoscha lachend.
„Aljoscha, werden Sie sich mir auch unterordnen? Das müssen wir auch im voraus klarstellen.“
„Mit dem größten Vergnügen und unbedingt, Lisa. Nur nicht im Allerwichtigsten. Sollten Sie im Allerwichtigsten mit mir nicht einer Meinung sein, werde ich dennoch tun, was mir die Pflicht gebietet.“
„So muß es auch sein. Und Sie sollen wissen, daß auch ich — im Widerspruch zu dem, was ich soeben gesagt habe — bereit bin, mich Ihnen nicht nur im Allerwichtigsten unterzuordnen, sondern Ihnen in allem nachzugeben, was ich Ihnen gleich jetzt schwöre: in allem und fürs ganze Leben!“ rief Lisa in flammender Begeisterung. „Und das wird mein Glück ausmachen, mein Glück! Ja noch mehr, ich schwöre Ihnen, daß ich Sie niemals belauschen werde, nie und nimmer, daß ich keinen einzigen Brief an Sie lesen werde, denn Sie haben recht, nicht ich. Ich werde zwar schreckliche Lust haben zu horchen, das weiß ich — doch ich werde es trotzdem nicht tun, weil Sie es für unedel halten. Sie sind jetzt sozusagen meine Vorsehung … Hören Sie Alexej Fjodorowitsch, warum sind Sie alle diese Tage, auch gestern und heute, so traurig? Ich weiß, daß Sie allerlei Mühen und Sorgen haben, aber ich sehe, daß Sie außerdem noch einen besonderen Kummer haben — das ist wohl ein geheimer Kummer, ja?“
„Ja, Lisa, das ist ein geheimer Kummer“, antwortete Aljoscha traurig. „Ich sehe, daß Sie mich lieben, wenn Sie das erraten konnten.“
„Was ist es denn für ein Kummer? Worüber? Dürfen Sie es sagen?“ fragte Lisa schüchtern bittend.
„Ich werde es Ihnen später sagen, Lisa, später …“, antwortete Aljoscha verlegen. „Jetzt wäre es für Sie vielleicht noch unverständlich. Auch kann ich mich vielleicht nicht richtig ausdrücken.“
„Ich weiß außerdem, daß Ihnen Ihre Brüder und Ihr Vater viel Schmerz bereiten.“
„Ja, auch die Brüder“, sagte Aljoscha wie in Gedanken versunken.
„Ihren Bruder Iwan Fjodorowitsch kann ich nicht leiden“, bemerkte Lisa plötzlich.
Aljoscha vernahm diese Bemerkung einigermaßen verwundert, ging aber nicht darauf ein.
„Meine Brüder richten sich selbst zugrunde“, fuhr er fort, „und der Vater ebenfalls. Und gleichzeitig ziehen sie auch andere mit ins Verderben. Das ist die ‚Karamasowsche Erdkraft‘, wie Vater Paissi sich neulich ausdrückte, eine wütende, rohe Erdkraft. Ich weiß nicht einmal, ob der Geist Gottes über dieser Kraft schwebt. Ich weiß nur, daß auch ich ein Karamasow bin. Ich bin ein Mönch. Bin ich ein Mönch, Lisa? Haben Sie nicht eben zufällig gesagt, daß ich ein Mönch bin?“
„Ja, das habe ich gesagt.“
„Und dabei glaube ich vielleicht nicht einmal an Gott.“
„Sie glauben nicht an Gott? Was haben Sie?“ fragte Lisa leise und behutsam. Doch Aljoscha antwortete nicht.
In seinen Worten hatte etwas allzu Geheimnisvolles, allzu Subjektives gelegen, das ihm vielleicht selbst unklar war, ihn jedoch zweifellos quälte.
„Und außerdem geht nun auch noch mein Freund von mir, der beste Mensch auf dieser Welt verläßt die Erde. Wenn Sie wüßten, Lisa, wie fest ich seelisch mit diesem Menschen verbunden bin! Und nun bleibe ich allein zurück … Ich werde zu Ihnen kommen, Lisa. Künftig wollen wir zusammen …“
„Ja, zusammen, zusammen! Von nun an wollen wir das ganze Leben hindurch zusammenhalten. Hören Sie, küssen Sie mich! Ich erlaube es.“
Aljoscha küßte sie.
„So, jetzt gehen Sie! Christus sei mit Ihnen! Gehen Sie recht schnell zu Ihrem Starez, solange er noch am Leben ist. Ich sehe ein, daß es grausam von mir war, Sie aufzuhalten. Ich werde heute für ihn und für Sie beten, Aljoscha, wir werden glücklich sein! Werden wir glücklich sein, ja?“
„Ich glaube ja, Lisa.“
Als Aljoscha Lisa verlassen hatte, hielt er es nicht für geraten, noch Frau Chochlakowa aufzusuchen; er wollte gehen, ohne sich von ihr zu verabschieden. Doch kaum hatte er die Treppe betreten, stand Frau Chochlakowa selbst, Gott weiß woher, vor ihm. Gleich an ihren ersten Worten merkte Aljoscha, daß sie absichtlich auf ihn gewartet hatte. Sie fiel sofort über ihn her: „Alexej Fjodorowitsch, das ist ja schrecklich! Das sind kindische Possen, lauter Unsinn. Ich hoffe, daß Sie daran keine Zukunftspläne knüpfen? Dummheiten, einfach Dummheiten!“
„Sagen Sie das nur nicht zu ihr“, erwiderte Aljoscha. „Sonst regt sie sich auf, und das wäre jetzt schädlich für sie.“
„Da höre ich ein verständiges Wort von einem verständigen jungen Mann. Darf ich das so verstehen, daß Sie selbst ihr nur deswegen zugestimmt haben, weil Sie aus Mitleid mit ihrem krankhaften Zustand sie nicht durch Widerspruch aufbringen wollten?“
„O nein, durchaus nicht. Ich habe ganz ernst mit ihr gesprochen“, erklärte Aljoscha entschieden.
„Ernst ist da ausgeschlossen, undenkbar. Erstens werde ich Ihren Besuch jetzt niemals mehr dulden, und zweitens werde ich wegfahren und sie mitnehmen. Damit Sie es wissen!“
„Warum das?“ erwiderte Aljoscha. „Es ist ja noch nicht soweit. Etwa anderthalb Jahre werden wir noch warten müssen.“
„Ach, Alexej Fjodorowitsch, das ist natürlich richtig, und trotzdem werden Sie in anderthalb Jahren sich tausendmal mit ihr zanken und von ihr trennen. Ich bin so unglücklich, so unglücklich! Wenn auch alles nur Possen sind, bin ich doch ganz niedergeschlagen. Jetzt bin ich wie Famusow in der letzten Szene bei Gribojedow1; Sie sind Tschazki, sie ist Sofja. Und denken Sie sich, ich bin absichtlich hierher, auf die Treppe gelaufen, um mit Ihnen zusammenzutreffen. In dem Theaterstück vollzieht sich ja auch das ganze Verhängnis auf der Treppe. Ich habe alles mitangehört. Ich habe mich kaum beherrschen können. So finden nun die Schrecken dieser Nacht und die hysterischen Anfälle von heute ihre Erklärung! Für das Töchterchen bedeuten sie Liebe, für die Mutter den Tod. Ich kann mich nun einfach in den Sarg legen … Jetzt das zweite und wichtigste. Was ist das für ein Brief, den sie Ihnen geschrieben hat? Zeigen Sie ihn mir sofort, sofort!“
„Nein, das darf ich nicht … Sagen Sie, wie geht es Katerina Iwanowna? Das muß ich dringend wissen!“
„Sie liegt immer noch und phantasiert, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben. Ihre Tanten sind hier; sie ächzen und stöhnen nur und benehmen sich mir gegenüber hochmütig. Doktor Herzenstube ist gekommen und so erschrocken, daß ich nicht wußte, was ich mit ihm anfangen und wie ich ihn retten sollte. Ich wollte schon einen Arzt holen lassen. Ich habe ihn mit meinem Wagen in seine Wohnung bringen lassen. Und jetzt, um das Unglück voll zu machen, Sie mit diesem Brief! Allerdings kann das alles erst in anderthalb Jahren geschehen. Im Namen alles dessen, was groß und heilig ist, im Namen Ihres sterbenden Starez bitte ich Sie: Zeigen Sie mir diesen Brief, Alexej Fjodorowitsch! Mir, der Mutter! Wenn Sie wollen, halten Sie ihn fest, nur möchte ich ihn lesen!“
„Nein, ich werde Ihnen den Brief nicht zeigen, Katerina Ossipowna! Und selbst wenn sie es erlauben würde — ich dürfte es nicht tun. Ich werde morgen herkommen und, wenn Sie wollen, über vieles mit Ihnen sprechen. Doch jetzt leben Sie wohl!“
Und Aljoscha eilte die Treppe hinunter auf die Straße.
- Gribojedow — russ. Diplomat und Dichter, seine Komödie „Wehe dem Verstand“ wird heute noch gespielt, † 1829.↩