4. Rebellion
„Ich muß dir ein Geständnis machen“, begann Iwan. „Ich habe nie begreifen können, wie es möglich ist, seinen Nächsten zu lieben. Gerade die einem am nächsten stehen, kann man meiner Ansicht nach nicht lieben, höchstens noch die Fernstehenden. Ich habe einmal irgendwo über den Heiligen Johannes den Barmherzigen gelesen, er habe, als ein hungriger, durchfrorener Wanderer zu ihm kam, sich mit ihm zusammen ins Bett gelegt, ihn umarmt und ihm in den Mund gehaucht, der infolge einer schrecklichen Krankheit mit eiternden Geschwüren besetzt war und übel roch. Ich bin überzeugt, daß er das in einer Art verlogener Überspanntheit tat, weil die Liebe durch die Pflicht geboten ist, vielleicht auch weil er sich damit selbst eine Buße auferlegen wollte. Damit man einen Menschen lieben kann, muß er sich versteckt halten; sowie er sein Gesicht zeigt, ist die Liebe verschwunden.“
„Darüber hat der Starez Sossima wiederholt gesprochen“, bemerkte Aljoscha. „Er sagte auch, das Gesicht eines Menschen hindere viele, die in der Liebe noch keine Erfahrung hätten, ihn zu lieben. Es gibt aber auch viel Liebe in der Menschheit, und zwar solche, die der Liebe Christi ähnlich ist, das weiß ich selbst, Iwan …“
„Nun, ich für meine Person weiß es vorläufig noch nicht und kann es nicht begreifen. Und unzähligen Menschen geht es wie mir. Die Frage ist nun, ob das von speziellen schlechten Eigenschaften der Menschen herrührt oder davon, daß das nun einmal allgemein in der menschlichen Natur liegt. Meiner Ansicht nach ist die Liebe Christi zu den Menschen ein in seiner Art auf Erden unmögliches Wunder. Freilich. Er war ein Gott. Aber wir sind keine Götter. Angenommen, ich zum Beispiel wäre imstande, schweres Leid zu ertragen: Kein anderer könnte erkennen, in welchem Grad ich leide, weil er eben ein anderer ist und nicht ich. Und überhaupt ist der Mensch selten bereit, einen anderen als großen Dulder anzuerkennen — als ob das ein Rang wäre. Warum ist er dazu nicht bereit, was meinst du? Weil ich zum Beispiel schlecht rieche, ein dummes Gesicht habe und ihm irgendwann auf den Fuß getreten habe. Außerdem ist zwischen Leiden und Leiden ein Unterschied! Ein Leiden, das mich erniedrigt, wie zum Beispiel Hunger, erkennt mein Wohltäter noch an; sowie aber das Leiden höherer Art ist, zum Beispiel ein Leiden für eine Idee, erkennt er es nur in seltenen Fällen an, zum Beispiel, weil er mich ansieht und bemerkt, daß ich gar nicht so ein Gesicht habe, wie es seiner Einbildung nach jemand haben muß, der für so eine Idee leidet. Und da verweigert er mir denn sofort seine Wohltaten, und gar nicht einmal aus Bosheit. Bettler, vor allem adlige, sollten sich nie persönlich zeigen, sondern durch die Zeitungen um Almosen bitten. Abstrakt kann man seinen Nächsten noch lieben, aus der Ferne manchmal auch, von nahem jedoch fast nie. Wenn alles so wäre wie im Theater, im Ballett, wo Bettler in seidenen Lumpen und zerrissenen Spitzen erscheinen und graziös tanzend um Almosen bitten, könnte man sie noch mit Vergnügen und Interesse betrachten. Betrachten, wohlgemerkt nicht lieben. Doch genug davon. Ich mußte dich nur erst auf meinen Standpunkt stellen. Eigentlich wollte ich von den Leiden der Menschheit überhaupt reden, aber es ist wohl besser, wenn wir uns auf die Leiden der Kinder beschränken. Dadurch wird der Umfang meiner Beweisführung zwar auf ein Zehntel gemindert, und doch redet man besser nur von den Kindern. Für mich ist diese Beschränkung freilich nicht vorteilhaft. Aber erstens kann man die Kinder sogar aus der Nähe lieben, sogar die schmutzigen, sogar die mit häßlichen Gesichtern; mir scheint übrigens, Kinder haben nie häßliche Gesichter. Zweitens werde ich auch deswegen nicht von den Erwachsenen reden, weil bei ihnen, abgesehen davon, daß sie widerwärtig sind und keine Liebe verdienen, lediglich so etwas wie eine Vergeltung stattfindet. Sie haben von dem Apfel gegessen und erkannt, was gut und böse ist, und sind ‚wie Gott‘ geworden. Und sie essen auch weiterhin von dem Apfel. Die Kinderchen jedoch haben nicht davon gegessen und sind einstweilen noch völlig unschuldig. Liebst du die Kinder, Aljoscha? Ich weiß, daß du sie liebst, und es wird dir verständlich sein, warum ich jetzt nur von ihnen spreche. Wenn nun auf Erden auch sie furchtbar leiden müssen, so büßen sie natürlich für ihre Väter. Sie werden für ihre Väter bestraft, die von dem Apfel gegessen haben — aber das ist ein Gedanke, der einer anderen Welt angehört und dem Menschenherzen hier auf Erden unverständlich ist. Es darf doch nicht ein Unschuldiger für einen anderen leiden, und noch dazu so ein Unschuldiger! Staune über mich, Aljoscha: Auch ich liebe die Kinder über alle Maßen. Und wohlgemerkt, grausame, leidenschaftliche, sinnliche Menschen, Menschen vom Schlage der Karamasows lieben Kinder manchmal sehr. Solange sie wirklich Kinder sind, sagen wir bis zum siebenten Lebensjahr, sind Kinder von den Erwachsenen grundverschieden: als ob sie andere Wesen wären und eine ganz andere Natur hätten. Im Gefängnis habe ich einen Räuber gekannt. Wenn er nachts in die Häuser eingedrungen war und ganze Familien ermordet hatte, so war es vorgekommen, daß er dabei auch Kinder abschlachtete. Doch im Gefängnis liebte er sie leidenschaftlich. Er stand dauernd am Fenster und sah den auf dem Gefängnishof spielenden Kindern zu. Einen kleinen Jungen hatte er dazu gebracht, zu ihm unters Fenster zu kommen, und der Kleine hatte sich schon richtig mit ihm angefreundet … Du weißt nicht, weswegen ich das alles sage, Aljoscha? Ich habe Kopfschmerzen, und es ist mir traurig zumute.“
„Du machst beim Sprechen eine sonderbare Miene“, bemerkte Aljoscha beunruhigt. „Als ob du überaus erregt wärst.“
„Ach übrigens“, fuhr Iwan Fjodorowitsch fort, als hätte er die Worte seines Bruders gar nicht gehört, „unlängst hat mir ein Bulgare in Moskau erzählt, was für Greueltaten die Türken und Tscherkessen aus Furcht vor einem allgemeinen Aufstand der Slawen überall in Bulgarien verüben. Sie sengen und brennen, morden, vergewaltigen Frauen und Kinder, nageln Gefangene mit den Ohren an Zäune und lassen sie so die Nacht über stehen, um sie dann aufzuhängen, und so weiter. Vieles davon kann man sich überhaupt nicht vorstellen. Man spricht mitunter von der ‚bestialischen‘ Grausamkeit eines Menschen — aber das ist den Bestien gegenüber eine arge Ungerechtigkeit und Beleidigung. Eine Bestie kann nie so grausam sein wie der Mensch, auf so raffinierte, kunstvolle Art grausam. Der Tiger beißt einfach zu und zerreißt, weiter kann er nichts. Es würde ihm gar nicht in den Sinn kommen, Menschen über Nacht an den Ohren festzunageln, selbst wenn er das könnte. Diese Türken haben unter anderem auch Kinder geradezu wollüstig gefoltert. So haben sie mit ihren Dolchen Ungeborne ne aus dem Mutterleib geschnitten und Säuglinge vor den Augen der Mütter in die Höhe geworfen, und mit den Bajonetten aufgefangen. Daß dies vor den Augen der Mütter geschah, war die besondere Würze des Vergnügens. Und nun will ich dir eine kleine Geschichte erzählen, die mir besonders interessant war. Stell dir vor: Ein kleines Kind auf dem Arm der vor Angst zitternden Mutter, ringsherum Türken, die in das Haus eingedrungen sind. Sie haben sich ein Späßchen ausgedacht. Liebkosen das Kindchen, lachen, um es zum Lachen zu bringen, es gelingt ihnen, das Kind ist ganz vergnügt. In diesem Augenblick zielt ein Türke mit der Pistole auf das Kleine, eine Spanne weit von seinem Gesicht. Das Kleine lacht fröhlich und streckt die Ärmchen aus, um nach der Pistole zu greifen. Und plötzlich drückt der Witzbold ab, schießt ihm mitten ins Gesicht und zerschmettert ihm das Köpfchen … Kunstvoll, nicht wahr? Die Türken sollen übrigens große Freunde von Süßigkeiten sein.“
„Bruder, wozu erzählst du das alles?“ fragte Aljoscha.
„Ich glaube, wenn der Teufel nicht existiert und ihn somit der Mensch erschaffen hat, dann nach seinem Bilde.“
„Also genauso, wie er Gott erschaffen hat.“
„Du verstehst es ganz erstaunlich, einem die Worte im Mund zu verdrehen, wie Polonius im Hamlet sagt“, erwiderte Iwan lachend. „Du hast mich bei einem Widerspruch ertappt — sei es drum, ich freue mich. Ein nettes Produkt muß er ja sein, dein Gott, wenn der Mensch ihn nach seinem Bild geschaffen hat. Du fragst eben, wozu ich das alles erzähle: Siehst du, ich bin ein Liebhaber und Sammler gewisser Tatsachen und schreibe mir aus Zeitungen und anderen Quellen, wo ich gerade etwas finde, bestimmte Geschichtchen heraus und sammle sie; ich habe bereits eine hübsche Kollektion. Die Türken sind natürlich auch in die Sammlung aufgenommen, aber das sind Ausländer. Ich habe auch Geschichtchen aus unserem lieben Vaterland und sogar noch bessere als die türkischen. Du weißt, bei uns wird mehr mit Ruten und Peitschen geprügelt, das ist eine nationale Eigentümlichkeit. Angenagelte Ohren sind bei uns undenkbar, denn wir sind doch Europäer. Ruten- und Peitschenhiebe — das ist etwas, was uns gehört und uns nicht genommen werden kann. Im Ausland wird jetzt offenbar gar nicht mehr geprügelt — sei es, daß die Sitten sich verfeinert haben, sei es, daß Gesetze erlassen worden sind, nach denen ein Mensch einen anderen nicht mehr durchpeitschen darf. Dafür haben sie sich durch etwas anderes schadlos gehalten, das ebenfalls rein national ist, wie die Hiebe bei uns, und zwar dermaßen national, daß es bei uns unmöglich zu sein scheint; trotzdem findet es, glaube ich, auch bei uns Eingang, vor allem seitdem es in unseren oberen Gesellschaftskreisen eine religiöse Bewegung gibt. Ich besitze eine allerliebste kleine Broschüre, eine Übersetzung aus dem Französischen, in der erzählt wird, wie vor nicht sehr langer Zeit, vielleicht vor fünf Jahren, in Genf ein Übeltäter und Mörder namens Richard hingerichtet worden ist, ein Bursche von etwa dreiundzwanzig Jahren, der kurz vor dem Schafott bereut und sich zum Christentum bekehrt hatte. Dieser Richard war ein uneheliches Kind, und seine Eltern hatten ihn, als er noch klein war, etwa sechs, an irgendwelche Schweizer Berghirten ‚verschenkt‘. Diese zogen ihn groß, um ihn zur Arbeit zu verwenden. Er wuchs bei ihnen auf wie ein kleines wildes Tier. Die Hirten ließen ihn nichts lernen, sondern schickten ihn schon mit sieben Jahren auf die Weide, in Nässe und Kälte, fast ohne Kleidung und fast ohne ihm etwas zu essen zu geben. Und selbstverständlich machte sich keiner von ihnen Gedanken darüber, daß sie so handelten, keiner empfand Gewissensbisse. Sie glaubten völlig im Recht zu sein, da Richard ihnen wie eine Sache geschenkt war, und sie hielten es nicht einmal für nötig, ihn zu beköstigen. Richard selbst hat später ausgesagt, er habe in jenen Jahren wie der verlorene Sohn im Evangelium sehnlich gewünscht, wenigstens von dem Schweinefraß essen zu dürfen, aber auch das erlaubten sie nicht, sondern schlugen ihn, wenn er den Schweinen etwas davon stahl. So verbrachte er seine ganze Kindheit und seine ganze Jugend, bis er sich, groß und stark geworden, aufmachte, um sich mit Diebstählen durchzuschlagen. Er begann, sich in Genf als Tagelöhner Geld zu verdienen. Seinen Verdienst vertrank er, lebte wie ein Vieh und schlug schließlich einen alten Mann tot und raubte ihn aus. Er wurde vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Sentimental ist man dort ja nicht. Doch nun, wo er im Gefängnis saß, umringten ihn sogleich die Pastoren und die Mitglieder verschiedener christlicher Vereine, wohltätige Damen und so weiter. Sie lehrten ihn im Gefängnis Lesen und Schreiben, erklärten ihm das Evangelium, redeten ihm ins Gewissen, bemühten sich, ihn zu überzeugen, setzten ihm zu, drängten und quälten ihn — und siehe da, endlich bekannte er selbst in feierlicher Form sein Verbrechen. Er bekehrte sich und schrieb selbst an das Gericht, er sei ein Ungeheuer; Gott habe jedoch endlich auch ihn der Erleuchtung gewürdigt und ihm seine Gnade zuteil werden lassen. Ganz Genf geriet in Aufregung, das ganze wohltätige, gottesfürchtige Genf. Alles, was zu den höheren, gebildeten Ständen gehörte, stürzte zu ihm ins Gefängnis. Man küßte und umarmte Richard. ‚Du bist unser Bruder, die Gnade ist auf dich herniedergekommen!‘ Richard selbst weinte nur so vor Rührung: ‚Ja‘, sagte er, ‚die Gnade ist auf mich herniedergekommen! Früher, in meiner Kindheit, war ich froh, wenn ich Schweinefutter essen durfte. Jetzt ist auch auf mich die Gnade herniedergekommen, ich sterbe im Herrn!‘ — ‚Ja; ja, Richard, stirb im Herrn! Du hast Blut vergossen und mußt im Herrn sterben. Magst du auch nichts dafür können, daß du den Herrn gar nicht gekannt hast, als du die Schweine um ihr Futter beneidetest und man dich dafür schlug, daß du ihnen ihr Futter stahlst, was du tatest, ist sehr häßlich, denn Stehlen ist verboten — aber du hast Blut vergossen und mußt sterben …‘ So brach der letzte Tag an. Richard, der ganz schwach geworden war, weinte und wiederholte alle Augenblicke: ‚Das ist der schönste Tag meines Lebens, ich gehe zum Herrn!‘ — ‚Ja‘, riefen die Pastoren, die Richter und die wohltätigen Damen, ‚das ist dein glücklichster Tag, denn du gehst zum Herrn!‘ Der ganze Schwarm zog in Kutschen und zu Fuß hinter dem Schinderkarren her, auf dem Richard zum Schafott gefahren wurde. Nun hatte man das Schafott erreicht. ‚Stirb, du unser Bruder!‘ riefen sie Richard zu. ‚Stirb im Herrn, denn auch auf dich ist die Gnade herniedergekommen!‘ Und dann schleppte man unter Bruderküssen Bruder Richard aufs Schafott, legte ihn auf die Guillotine und hackte ihm brüderlich dafür den Kopf ab, daß auch auf ihn die Gnade herniedergekommen war … Ja, das ist charakteristisch. Irgendwelche hochgestellten russischen Wohltäter, die mit dem Lutheranertum sympathisierten, haben diese kleine Broschüre ins Russische übersetzen lassen und zur Aufklärung des russischen Volkes als Gratisbeilage Zeitungen und anderen Publikationen beigegeben. Das Ding mit diesem Richard ist dadurch interessant, daß es national geprägt ist. Bei uns würde man es für absurd halten, einem Bruder deswegen den Kopf abzuschlagen, weil er unser Bruder geworden und die Gnade auf ihn herniedergekommen ist. Aber ich wiederhole, wir haben auch unsere Eigenheit, die beinahe noch schlimmer ist. Bei uns gibt es den historischen, instinktiv vertrauten Genuß am Schlagen. Es gibt ein Gedicht von Nekrassow darüber, wie ein Bauer sein Pferd mit der Peitsche auf die Augen schlägt, ‚auf die sanften Augen‘. Wer hätte so etwas nicht schon gesehen? Das ist echt russisch. Der Dichter schildert, wie das schwächliche Pferdchen mit seiner überladenen Fuhre steckengeblieben ist und sie nicht aus dem Lehm herausziehen kann. Der Bauer schlägt es, schlägt es in blinder Wut, schlägt es zuletzt, ohne zu wissen, was er tut. Durch das Schlagen in eine Art Rausch geraten, versetzt er ihm zahllose schmerzhafte Hiebe: Wenn du auch nicht kannst, zieh trotzdem! Verrecke, aber zieh! Das armselige Pferdchen strengt sich verzweifelt, aber vergebens an. Da schlägt er das wehrlose Tier mit der Peitsche auf die weinenden ‚sanften Augen‘. Außer sich reißt und ruckt es an den Strängen, keuchend, am ganzen Leibe zitternd, sich seitwärts stellend und unnatürliche Sprünge vollführend, zieht es die Fuhre heraus — bei Nekrassow ist das furchtbar zu lesen. Aber es ist doch nur ein Pferd, und Gott hat uns ja die Pferde dazu gegeben, daß wir sie peitschen. Das haben uns die Tataren beigebracht und uns zur Erinnerung die Knute geschenkt. Aber man kann ja auch Menschen peitschen. Ein intelligenter, gebildeter Herr und seine Gemahlin peitschen zum Beispiel ihr eigenes Töchterchen, ein siebenjähriges Kind, mit Gerten — darüber habe ich mir ausführliche Aufzeichnungen gemacht. Papachen freut sich, daß Ansätze von Zweigen an den Gerten sind. ‚Dann zieht es besser!‘ sagt er und beginnt seine eigene Tochter zu peitschen. Ich weiß zuverlässig, es gibt Menschen, die beim Prügeln mit jedem Schlag erregter werden, bis zur Wollust, bis zu einem regelrechten Wollustgefühl, das sich mit jedem Schlag steigert. Jener Vater schlägt also eine Minute lang, dann werden es fünf Minuten, dann zehn, er schlägt weiter, immer mehr, die Schläge fallen immer häufiger und schmerzhafter. Das Kind schreit, es kann schließlich nicht mehr schreien, es keucht nur noch: ‚Papa, Papa, lieber Papa, lieber Papa!‘ Durch irgendeinen seltsamen Zufall kommt die Sache vor Gericht. Der Angeklagte nimmt sich einen Advokaten. Das einfache Volk in Rußland nennt einen Advokaten schon längst ein ‚gemietetes Gewissen‘. Der Advokat führt zur Verteidigung seines Klienten an: ‚Eine ganz einfache Sache, wie sie in jeder Familie vorkommt: Ein Vater hat seine kleine Tochter durchgehauen, und zur Schande unserer Tage kommt so etwas vor Gericht!‘ Die Geschworenen lassen sich überzeugen, ziehen sich zurück und fällen Freispruch. Das Publikum brüllt vor Freude, daß der Peiniger freigesprochen ist. Schade, schade, daß ich nicht dabei war! Ich hätte den Antrag gestellt, zu Ehren dieses Folterknechtes ein Stipendium auf seinen Namen zu stiften … Allerliebste kleine Geschichten sind das! Doch ich habe über Kinder noch bessere Geschichtchen. Ich habe über Kinder sehr, sehr viel Material gesammelt, Aljoscha. Ein kleines fünfjähriges Mädchen wurde aus irgendeinem Grund von Vater und Mutter, einem sehr achtbaren Beamten und seiner Frau, gebildeten, wohlerzogenen Leuten, gehaßt. Ich behaupte erneut mit aller Bestimmtheit, die Lust, Kinder zu mißhandeln, und zwar ausschließlich Kinder, ist eine Besonderheit vieler Menschen. Gegenüber allen anderen menschlichen Wesen benehmen sich dieselben Leute wohlwollend und freundlich, als gebildete, humane Europäer, doch Kinder zu mißhandeln ist ihnen geradezu ein Vergnügen. Unter diesem Gesichtspunkt lieben sie die Kinder sogar. Gerade die Wehrlosigkeit der kleinen Geschöpfe hat etwas Verlockendes für diese Rohlinge. Die engelhafte Zutraulichkeit des Kindes, das nicht weiß, wo es bleiben und an wen es sich wenden soll — das ist es, was das Blut des Folterers erhitzt. In jedem Menschen steckt natürlich eine Bestie. Diese Bestie kann in Wut geraten, das Geschrei des gequälten Opfers ruft bei ihr eine wollüstige Glut hervor. Von der Kette gelassen, kann diese Bestie nicht mehr zurückgehalten werden; ihre Wildheit wird gesteigert durch Krankheiten infolge eines ausschweifenden Lebenswandels, wie Podagra, Leberleiden und so weiter. Die gebildeten Eltern unterwarfen also dieses arme fünfjährige Mädchen allen möglichen Foltern. Sie schlugen es, peitschten es, stießen es mit Füßen, ohne zu wissen warum, so daß der ganze Körper der Kleinen mit blauen Flecken bedeckt war. Zuletzt verfielen sie auf höchst raffinierte Martern. Sie sperrten sie bei starker Kälte eine ganze Nacht auf dem Abort ein. Und sie beschmierten ihr das Gesicht mit Kot und zwangen sie, diesen Kot zu essen: zur Strafe dafür, daß sie sich nachts bei einem körperlichen Bedürfnis nicht gemeldet hatte. Die eigene Mutter zwang sie dazu, die eigene Mutter! Und diese Mutter konnte schlafen, während das Stöhnen des armen Kindes zu hören war, das sie an diesem widerwärtigen Ort eingesperrt hatten Verstehst du das, wenn das kleine Wesen, das noch nicht einmal zu begreifen versteht, was mit ihm geschieht, sich in Dunkelheit und Kälte und Gestank mit dem Fäustchen ängstlich gegen die Brust schlägt und mit unschuldigen, frommen Tränen den ‚lieben Gott‘ um Schutz anfleht — verstehst du diese Sinnlosigkeit, du mein Freund und Bruder, du demütiger Diener Gottes? Verstehst du, wozu diese Sinnlosigkeit notwendig ist, wozu sie da ist? Man sagt, ohne sie könnte der Mensch gar nicht auf Erden leben; er würde das Gute und das Böse nicht erkennen. Aber wozu sollen wir dieses verdammte Gute und Böse erkennen, wenn uns das so teuer zu stehen kommt? Eine ganze Welt von Erkenntnis wiegt ja nicht die Tränen auf, mit denen das Kind zum ‚lieben Gott‘ betet! Ich rede nicht von den Leiden der Erwachsenen, die haben von dem Apfel gegessen, hol‘ sie alle der Teufel! Aber die kleinen Kinder! Ich quäle dich, Aljoscha, du kommst mir vor wie geistesabwesend. Wenn du willst, höre ich auf.“
„Nicht doch, auch ich will Qualen leiden!“ murmelte Aljoscha.
„Noch eine kleine Geschichte, nur noch eine einzige, weil sie besonders interessant und charakteristisch ist. Ich habe sie eben erst in einem der Sammelwerke über russische Geschichte gelesen, ich weiß nicht, ob im ‚Archiv‘ oder ob im ‚Altertum‘. Ich muß noch einmal nachschlagen, ich habe vergessen, wo ich sie gelesen habe … Die Geschichte ereignete sich in der dunkelsten Zeit der Leibeigenschaft, zu Anfang dieses Jahrhunderts. — Es lebe der Befreier des Volkes! Da war zu Anfang des Jahrhunderts ein General mit engen Beziehungen nach oben, ein sehr reicher Gutsbesitzer, allerdings einer von den wenigen, glaube ich, die, wenn sie aus dem Dienst geschieden waren und sich in den Ruhestand zurückgezogen hatten, in der Überzeugung lebten, daß sie sich das Recht über Leben und Tod ihrer Untertanen erworben hätten. Solche Leute gab es damals. Nun, dieser General lebte also auf seinem Gut von zweitausend Seelen als großer Herr und behandelte seine kleinen Nachbarn wie Schmarotzer und Possenreißer. Er hatte eine Meute von mehreren hundert Hunden, dazu an die hundert Hundewärter, sämtlich uniformiert und beritten. Eines Tages nun warf ein Hofjunge, ein Bursche von acht Jahren, beim Spielen mit einem Stein und verletzte den Lieblingshund des Generals am Fuß. ‚Wieso lahmt mein Lieblingshund?‘ Es wurde ihm berichtet. ‚Ah, du bist das‘ sagte der General, ihn musternd. ‚Nehmt ihn fest!‘ Er wurde seiner Mutter weggenommen, verhaftet und die ganze Nacht ins Arrestlokal gesperrt. Am anderen Morgen, bei Tagesanbruch, war der General, bereits in voller Parade, im Begriff, zur Jagd zu ziehen. Er stieg zu Pferde, umgeben von seinen Schmarotzern, den Hunden, den Hundewärtern, den Treibern, die sämtlich beritten waren. Zur Erbauung und Belehrung war das Hofgesinde versammelt, vor allen anderen stand die Mutter des Jungen. Der wurde aus dem Arrest herausgeführt. Es war ein trüber, kalter, nebliger Herbsttag, richtiges Jagdwetter. Der General befahl, den Jungen zu entkleiden. Das Kind wurde vollständig ausgezogen. Es zitterte, war vor Angst ganz durcheinander, und wagte keinen Ton von sich zu geben … ‚Hetzt ihn!‘ kommandierte der General. ‚Lauf, lauf!‘ schrien die Hundewärter. Der Knabe lief. ‚Faßt ihn!‘ brüllte der General und hetzte die ganze Meute der Jagdhunde auf ihn. Vor den Augen der Mutter rissen die Hunde den Kleinen in Stücke! Der General wurde unter Aufsicht gestellt, glaube ich. Was hätte man sonst mit ihm machen sollen? Ihn erschießen? Zur Befriedigung des sittlichen Gefühls erschießen? Sprich, Aljoschka“
„Ja, erschießen“ sagte Aljoscha leise mit einem blassen, verzerrten Lächeln und sah zu seinem Bruder auf.
„Bravo“ rief Iwan geradezu begeistert. „Wenn du das schon sagst … du Asket! Sieh mal einer an, was für ein Teufel in deinem Herzchen sitzt, Aljoschka Karamasow“
„Ich habe etwas Törichtes gesagt, aber …“
„Das ist es eben, dieses ‚aber‘!“ rief Iwan. „Merke dir, du Novize, Torheiten sind auf der Welt sehr nötig. Auf Torheiten beruht die Welt, und ohne Torheiten würde in der Welt vielleicht überhaupt nichts geschehen. Wir wissen, was wir wissen!“
„Was weißt du?“
„Ich weiß nichts“, fuhr Iwan wie im Fieber fort. „Und ich will auch jetzt nichts wissen. Ich will bei den Tatsachen bleiben. Ich habe mit schon längst vorgenommen, nichts zu begreifen. Wenn ich etwas begreifen will, verdrehe ich sofort die Tatsachen, und ich habe mir vorgenommen, bei den Tatsachen zu bleiben.“
„Warum quälst du mich?“ rief Aljoscha überaus bekümmert. „Wirst du mir das endlich sagen?“
„Gewiß werde ich es dir sagen. Ich habe ja das Gespräch absichtlich darauf hingeleitet, es dir zu sagen. Du bist mir teuer, ich will dich nicht lassen und deinem Sossima nicht abtreten.“
Iwan schwieg etwa eine Minute lang, und sein Gesicht wurde plötzlich sehr traurig.
„Hör mich an. Ich habe die Kinder nur als Beispiel benutzt, damit der Beweis deutlicher wurde. Von den übrigen Menschentränen, mit denen die ganze Erde von der Rinde bis zum Zentrum getränkt ist, sage ich weiter kein Wort, ich habe mein Thema absichtlich beschränkt. Ich bin eine Wanze und gestehe in aller Demut, daß ich nicht begreifen kann, warum alles so eingerichtet ist. Die Menschen, heißt es, sind selbst schuld daran; es war ihnen das Paradies gegeben, aber es verlangte sie nach Freiheit, und sie stahlen aus dem Himmel das Feuer, obwohl sie selbst wußten, daß sie unglücklich würden — also haben sie kein Recht, sich zu beklagen. Nach meiner Ansicht steht es nicht so. Nach meinem kläglichen irdischen, euklidischen Verstand weiß ich nur, daß es Leiden gibt, daß keine Schuldigen vorhanden sind, daß überall direkt und einfach das eine aus dem anderen hervorgeht, daß alles fließt und sich ins Gleichgewicht setzt — aber das ist ja nur euklidischer Unsinn! Ich weiß das, und ich kann mich nicht überwinden, auf Grund dieses Unsinns zu leben! Was habe ich davon, daß es keine Schuldigen gibt und daß überall eines direkt und einfach aus dem anderen hervorgeht und daß ich das weiß — ich brauche Vergeltung, sonst vernichte ich mich ja selbst. Und zwar Vergeltung nicht irgendwo und irgendwann in der Unendlichkeit, sondern schon hier auf Erden, und so, daß ich sie selbst sehe. Ich habe geglaubt, also will ich auch selbst sehen! Sollte ich jedoch zu jener Stunde schon tot sein, so mag man mich auferwecken. Denn wenn alles ohne mich geschieht, so wäre das ein großes Unrecht mir gegenüber. Ich habe nicht deshalb gelitten, um mit meiner Persönlichkeit, mit meinen Übeltaten und mit meinen Leiden jemandem die künftige Harmonie gewissermaßen zu düngen. Ich will mit eigenen Augen sehen, wie die Hirschkuh sich neben den Löwen legt, wie der Ermordete aufersteht und seinen Mörder umarmt. Ich will dabeisein, wenn alle plötzlich erkennen, warum alles so gewesen ist. Auf diesem Wunsch beruhen alle Religionen auf der Erde, und ich bin gläubig. Aber da sind nun noch die kleinen Kinder, was soll ich mit denen anfangen? Das ist eine Frage, auf die ich keine Antwort finde. Ich wiederhole abermals, es gibt viele solcher Fragen; ich habe die Kinder als einziges Beispiel benutzt, weil das, was ich sagen will, hierbei unverkennbar deutlich ist. Paß auf! Wenn alle leiden müssen, um durch ihr Leiden die ewige Harmonie zu erkaufen — inwiefern sind daran die kleinen Kinder beteiligt? Das sag mir doch bitte! Es gibt überhaupt keine Erklärung, warum auch sie leiden und durch ihr Leiden die Harmonie erkaufen müssen. Warum sind auch sie unter die Düngemittel geraten und haben mit ihren Persönlichkeiten für irgend jemand die zukünftige Harmonie gedüngt? Die Solidarität in der Sünde unter den Menschen begreife ich, ich begreife auch die Solidarität in der Vergeltung. Aber die kleinen Kinder haben doch an der Solidarität in der Sünde nicht teil, und wenn es wirklich wahr ist, daß sie mit ihren Vätern in deren Übeltaten solidarisch sind, so ist diese Wahrheit allerdings nicht von dieser Welt und mir unverständlich. Der eine oder andere Spaßvogel wird vielleicht sagen, das Kind werde heranwachsen und dann schon sündigen — aber zumindest jener Junge ist gar nicht erst herangewachsen, sondern schon im Alter von acht Jahren mit Hunden zu Tode gehetzt worden. Nein, Aljoscha, ich lästere Gott nicht! Ich begreife ja, wie gewaltig die Erschütterung des Weltalls sein muß, wenn alles, was im Himmel und auf Erden und unter der Erde ist, zusammenfließen wird in einen einzigen Lobgesang, und alles, was da lebt und gelebt hat, rufen wird: ‚Gerecht bist du, Herr, denn deine Wege sind offenbar geworden!‘ Wenn selbst die Mutter das Ungeheuer umarmen wird, das ihren Sohn von den Hunden zerreißen ließ, und alle drei unter Tränen ausrufen werden: ‚Gerecht bist du, o Herr!‘ Dann wird die Erkenntnis natürlich ihren Gipfelpunkt erreichen, und alles wird seine Erklärung finden. Aber da sitzt eben der Haken, gerade das kann ich nicht akzeptieren. Und solange ich auf der Erde bin, werde ich mich beeilen, meine Maßnahmen dagegen zu ergreifen! Siehst du, Aljoscha, vielleicht wird es tatsächlich geschehen, daß ich, sollte ich bis zu jenem Augenblick leben oder auferweckt werden, um ihn zu erleben — daß ich dann angesichts der Mutter, die den Peiniger ihres Kindes umarmt, mit allen zusammen ausrufe: ‚Gerecht bist, du, o Herr!‘ Aber ich will das dann nicht ausrufen. Solange es noch Zeit ist, beeile ich mich, Einspruch zu erheben, und darum will ich von der höchsten Harmonie überhaupt nichts wissen. Sie ist nicht einmal die Tränen jenes einen gequälten Kindes wert, das sich mit dem Fäustchen an die Brust schlug und in seinem stinkenden Gefängnis mit ungesühnten Tränen zum ‚lieben Gott‘ betete! Sie ist diese Tränen nicht wert, weil sie ungesühnt geblieben sind. Sie müssen gesühnt werden, sonst ist eine Harmonie unmöglich. Aber wodurch, wodurch können sie gesühnt werden? Ist das überhaupt möglich? Etwa dadurch, daß sie gerächt werden? Was hilft mir eine dafür geübte Rache? Was hilft mir die Hölle für die Peiniger? Was kann die Hölle wiedergutmachen, wenn solche Kinder schon zu Tode gequält worden sind? Und was ist das für eine Harmonie, wenn darin eine Hölle vorkommt? Ich will verzeihen, will umarmen, ich will nicht, daß weiter gelitten wird! Und wenn die Leiden der Kinder helfen mußten, um jene Summe von Leiden voll zu machen, die zur Erkaufung der Wahrheit notwendig war, so behaupte ich, daß die ganze Wahrheit diesen Preis nicht wert ist. Und endlich will ich auch gar nicht, daß die Mutter den Peiniger umarmt, der ihren Sohn von den Hunden hat zerreißen lassen! Sie darf ihm nicht verzeihen! Sie mag dem Peiniger das maßlose Leid ihres Mutterherzens verzeihen! Aber sie hat kein Recht, die Leiden ihres zu Tode gequälten Kindes zu verzeihen! Sie darf dem Peiniger nicht einmal dann verzeihen, wenn das Kind selbst ihm verzeihen würde! Wenn es aber so ist, wenn nicht verziehen werden darf, wo bleibt da die Harmonie? Gibt es auf der ganzen Welt ein Wesen, das verzeihen könnte und dazu ein Recht hätte? Ich will keine Harmonie! Aus Liebe zur Menschheit will ich sie nicht! Lieber will ich meine ungerächten Leiden behalten. Lieber will ich meine ungerächten Leiden und meine nicht beschwichtigte Entrüstung behalten. Selbst wenn ich unrecht haben sollte. Für diese Harmonie wird ein gar zu hoher Preis verlangt; es entspricht nicht unserem Geldbeutel, so viel Eintrittsgeld zu bezahlen! Darum beeile ich mich, mein Eintrittsbillett zurückzugeben. Und wenn ich auch nur ein einigermaßen ehrenhafter Mensch bin, so bin ich verpflichtet, das möglichst rasch zu tun. Das tue ich denn auch. Nicht, daß ich Gott nicht anerkenne, Aljoscha ich gebe ihm nur mein Billett ergebenst zurück.“
„Das ist Rebellion“, sagte Aljoscha leise, mit niedergeschlagenen Augen.
„Rebellion? Dieses Wort hätte ich von dir nicht zu hören gewünscht“, sagte Iwan ergriffen. „Kann man denn im Zustand der Rebellion leben? Und ich will ja doch leben. Sag es mir selbst geradeheraus, ich rufe dich auf, antworte: Stell dir vor, du selbst hättest das Gebäude des Menschenschicksals auszuführen mit dem Endziel, die Menschen zu beglücken, ihnen Friede und Ruhe zu bringen; dabei wäre es jedoch zu eben diesem Zweck notwendig und unvermeidlich, sagen wir, nur ein einziges winziges Wesen zu quälen — beispielsweise jenes Kind, das sich mit den Fäustchen an die Brust schlug — und auf seine ungerächten Tränen dieses Gebäude zu gründen: Würdest du unter diesen Bedingungen der Baumeister dieses Gebäudes sein wollen? Das sage mir, und lüge nicht!“
„Nein, ich würde es nicht wollen“, erwiderte Aljoscha leise.
„Und kannst du glauben, daß die Menschen, für die du baust, damit einverstanden wären, ihr Glück durch das ungerechtfertigt vergossene Blut jenes kleinen Märtyrers zu empfangen und ewig glücklich zu bleiben, nachdem sie es empfangen haben?“
„Nein, das kann ich nicht glauben. Aber hör mal, Bruder“, sagte Aljoscha plötzlich, und seine Augen fingen an zu leuchten, „du hast eben gefragt: ‚Gibt es auf der ganzen Welt ein Wesen, das verzeihen könnte und dazu ein Recht hätte?‘ Ein solches Wesen gibt es, und es kann allen und alles verzeihen, weil es selbst sein unschuldiges Blut für alle und für alles hingegeben hat. Du hast Ihn vergessen! Und gerade auf Ihn gründet sich das Gebäude, und dieses ‚Gerecht bist du, o Herr, denn deine Wege sind offenbar geworden!‘ wird ihm zugerufen.“
„Aha, das ist der ‚einzige Sündlose‘ und sein Blut! Nein, ich habe Ihn nicht vergessen, sondern mich vielmehr die ganze Zeit gewundert, daß du Ihn so lange nicht ins Treffen geführt hast, denn bei Diskussionen stellen Ihn alle eure Leute gewöhnlich in die erste Linie … Weißt du, Aljoscha, lach mich nicht aus, ich habe da einmal ein Poem gemacht, vor einem Jahr. Wenn du noch etwa zehn Minuten mit mir verlieren kannst, möchte ich es dir erzählen.“
„Du hast ein Poem gedichtet?“
„O nein, nicht gedichtet“, entgegnete Iwan lachend. „Verse habe ich in meinem Leben noch keine zwei Zeilen gemacht. Aber ich habe dieses Poem ausgedacht und im Gedächtnis behalten, und zwar mit starkem Gefühl. Du wirst mein erster Leser sein, das heißt mein erster Zuhörer. In der Tat, warum soll ein Autor auch nur einen einzigen Zuhörer verlieren?“ fügte Iwan lächelnd hinzu. „Soll ich dir mein Werk vortragen oder nicht?“
„Ich höre sehr gern zu“, erwiderte Aljoscha.
„Es hat den Titel ‚Der Großinquisitor‘. Eine absurde Geschichte, aber ich möchte sie dir gern erzählen.“