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7. Mit einem klugen Menschen ist auch ein kurzes Gespräch von Nutzen

Und so sprach er auch. Als er gleich beim Eintritt seinem Vater im Saal begegnete, rief er ihm, heftig abwinkend, zu: »Ich gehe zu mir nach oben. Ich will nicht zu Ihnen, auf Wiedersehen!“ und ging vorbei, bemüht, ihn nicht einmal anzusehen. Möglich, daß der Alte ihm in diesem Augenblick ganz besonders verhaßt war, aber so eine ungenierte Bekundung feindseligen Gefühls war auch für Fjodor Pawlowitsch etwas Unerwartetes. Der Alte hatte Iwan nur schnell etwas mitteilen wollen und war ihm zu diesem Zweck absichtlich entgegengegangen; als er jedoch diese liebenswürdigen Worte hörte, blieb er schweigend stehen und verfolgte seinen Sohn, der die Treppe zum Zwischengeschoß hinaufstieg, mit den Augen so lange, bis dieser seinen Blicken entschwunden war.

»Was hat er denn?“ fragte er Smerdjakow, der nach Iwan Fjodorowitsch eingetreten war.

»Er ärgert sich über irgendwas, wer soll aus ihm klug werden?“ murmelte dieser ausweichend.

»Hol‘ ihn der Teufel! Soll er sich ärgern! Stell den Samowar auf und mach dann schleunigst, daß du fortkommst! Gibt es nichts Neues?“

Und nun begannen jene Fragen, über die sich Smerdjakow eben Iwan Fjodorowitsch gegenüber beklagt hatte; wir lassen sie hier weg.

Eine halbe Stunde danach wurde das Haus zugeschlossen, und der verdrehte alte Mann wanderte allein in den Zimmern umher, in der zitternden Erwartung, im nächsten Augenblick würden die fünf verabredeten Schläge ertönen. Von Zeit zu Zeit blickte er durch die dunklen Fenster hinaus und sah nichts als die Nacht.

Es war schon sehr später. Iwan Fjodorowitsch schlief jedoch nicht, sein Geist fand keine Ruhe. Erst spät legte er sich diese Nacht ins Bett, gegen zwei Uhr. Wir wollen nicht den ganzen Gang seiner Gedanken wiedergeben; es ist für uns noch nicht an der Zeit, in diese Seele einzudringen. Sie wird schon noch an die Reihe kommen. Und selbst wenn wir versuchen wollten, etwas wiederzugeben: es würde sich nur schwer machen lassen, da es nicht eigentlich Gedanken waren, sondern etwas sehr Unbestimmtes, mehr eine starke Erregung.

Er selbst kam sich völlig ratlos vor. Auch quälten ihn mancherlei sonderbare und überraschende Wünsche. So verlangte es ihn zum Beispiel nach Mitternacht plötzlich heftig, nach unten zu gehen, die Tür aufzuschließen, ins Seitengebäude zu eilen und Smerdjakow durchzuprügeln; hätte man ihn aber gefragt, weswegen, hätte er eigentlich gar keinen Grund anzugeben gewußt, außer höchstens, daß ihm dieser Diener verhaßt war wie der schlimmste Beleidiger, der auf der Welt zu finden ist. Andererseits wurde er in dieser Nacht mehrmals von einer unerklärlichen Zaghaftigkeit befallen, die ihm, das fühlte er, geradezu seine physischen Kräfte nahm. Dir Kopf tat ihm weh, und es schwindelte ihm. Ein Gefühl des Hasses beklemmte seine Seele, als hätte er vor, sich an jemand zu rächen. Er haßte sogar Aljoscha, in Erinnerung an das Gespräch, das er vor kurzem mit ihm geführt hatte. Er haßte in einzelnen Momenten auch sich selbst heftig. Katerina Iwanowna hatte er fast ganz vergessen, darüber wunderte er sich später sehr, zumal er sich lebhaft erinnerte, was er noch am letzten Vormittag empfunden hatte, als er so schwungvoll bei Katerina Iwanowna verkündete, er werde morgen nach Moskau fahren. Damals hatte er sich nämlich im stillen gesagt, ‚Das ist ja alles Unsinn, du wirst nicht wegfahren. Es fällt dir nicht so leicht, dich loszureißen, wie du jetzt prahlst.‘ Wenn er später an diese Nacht zurückdachte, erinnerte sich Iwan Fjodorowitsch mit besonderem Widerwillen, wie er ein paarmal vom Sofa aufgestanden war und leise, als fürchtete er, gesehen zu werden, die Tür geöffnet und gehorcht hatte, wie Fjodor Pawlowitsch in den unteren Zimmern auf und ab ging. Er hatte lange gehorcht, jedesmal wohl fünf Minuten lang, mit einer seltsamen Neugier, mit angehaltenem Atem und Herzklopfen. Doch wozu er das alles tat, wozu er horchte, das wußte er beim besten Willen selbst nicht. Dieses Verhalten bezeichnete er in seinem ganzen späteren Leben als abscheulich; er hielt es sein Leben lang im tiefsten Innern seiner Seele für die gemeinste Handlung seines ganzen Lebens. Gegenüber Fjodor Pawlowitsch empfand er in diesen Augenblicken nicht einmal Haß, eher eine gewisse Neugier: wie er da unten umherging, was er jetzt zum Beispiel dort wohl tat. Er malte sich aus, wie der Alte da unten durch die dunklen Fenster schaut und plötzlich mitten im Zimmer stehenbleibt und wartet, ob nicht jemand klopft. Zweimal ging Iwan Fjodorowitsch zu diesem Zweck auf die Treppe hinaus. Als alles still geworden war und sich Fjodor Pawlowitsch bereits schlafen gelegt hatte, gegen zwei Uhr, legte sich auch Iwan Fjodorowitsch mit dem Wunsch hin, recht bald einzuschlafen; da er sich sehr erschöpft fühlte. Und wirklich sank er sofort in einen festen, traumlosen Schlaf. Er erwachte frühmorgens gegen sieben, als es schon hell war. Kaum hatte er die Augen geöffnet, spürte er zu seiner Verwunderung plötzlich, daß ihn eine ungewöhnliche Energie durchströmte. Er sprang schnell aus dem Bett, zog sich an, zog seinen Koffer hervor und begann ihn unverzüglich zu packen. Es traf sich gut, daß er seine ganze Wäsche schon am vorhergehenden Morgen von der Waschfrau zurückerhalten hatte. Iwan Fjodorowitsch lächelte sogar bei dem Gedanken, daß auf diese Weise alles zusammentraf und seine plötzliche Abreise durch nichts aufgehalten wurde. Denn obgleich Iwan Fjodorowitsch am Vortag zu Katerina Iwanowna, zu Aljoscha und dann zu Smerdjakow gesagt hatte, er werde morgen abreisen, hatte er doch, als er sich in der Nacht schlafen legte, nicht an eine Abreise gedacht, zumindest nicht, daß er sich am Morgen nach dem Aufwachen zuallererst daranmachen würde, seinen Koffer zu packen. Endlich waren Koffer und Reisetasche fertig. Es war schon gegen neun, als Marfa Ignatjewna mit der üblichen Frage in sein Zimmer trat: »Wo belieben Sie den Tee zu trinken — bei sich, oder kommen Sie nach unten?“ Iwan Fjodorowitsch ging nach unten; sein Gesicht war beinahe fröhlich, obwohl in seinen Worten und Gebärden etwas Unruhiges und Hastiges lag. Nachdem er den Vater freundlich begrüßt und sich sogar ausdrücklich nach seinem Befinden erkundigt hatte, erklärte er, ohne übrigens eine Antwort auf seine Frage abzuwarten, er werde in einer Stunde nach Moskau abreisen, und zwar für immer, und bitte, einen Wagen holen zu lassen. Der Alte hörte die Nachricht ohne die geringste Verwunderung und vergaß unhöflicherweise über die Abreise seines Sohnes Bedauern zu äußern. Statt dessen wurde er auf einmal sehr geschäftig; ihm war gerade zur rechten Zeit eine wichtige eigene Angelegenheit eingefallen.

»Soso. Du bist mir einer. Hast gestern keine Silbe davon gesagt. Na, macht nichts, wir werden das gleich besorgen. Tu mir einen großen Gefallen, lieber Sohn: Fahr in Tschermaschnja vorbei! Du brauchst ja von der Poststation Wolowja nur einen Abstecher nach links zu machen, lumpige zwölf Werst, und schon bist du in Tschermaschnja.“

»Ich bitte Sie, das ist ausgeschlossen. Bis zur Eisenbahn sind es achtzig Werst, und der Zug nach Moskau fährt von der Station um sieben Uhr ab. Das schaffe ich gerade so.“

»Du wirst auch morgen oder notfalls übermorgen noch zurechtkommen. Heute fahre bitte in Tschermaschnja vorbei! Du hast keine große Mühe damit und beruhigst deinen Vater! Wenn ich hier nicht meine Geschäfte hätte, wäre ich schon längst selbst einmal hingefahren, weil die Angelegenheit dort eilig und wichtig ist. Ich habe hier jedoch … Es ist mir zur Zeit eben nicht möglich … Siehst du, ich habe dort einen Wald, der in zwei Distrikten liegt, in Begitschewo und in Djatschkino, ganz abgelegen. Die Holzhändler Maslow, Vater und Sohn, bieten für das gesamte Holz nur achttausend Rubel. Voriges Jahr nun machte sich ein Aufkäufer an mich heran, der zehntausend bot; er war nicht von hier, das ist die Sache. An die Leute von hier kann ich das Holz nämlich nicht losschlagen: Die Maslows, Vater und Sohn, besitzen Hunderttausende und beherrschen das ganze Geschäft. Was sie bieten, das muß man nehmen, und von den Leuten hier wagt niemand, mit ihnen in Konkurrenz zu treten. Jetzt hat mir der Pope von Iljinskoje vorigen Donnerstag geschrieben, daß Gorstkin angekommen ist, ebenfalls ein Kaufmann. Ich kenne ihn, das Wertvolle daran ist, daß er nicht von hier stammt, sondern aus Pogrebowo; darum braucht er sich vor den Maslows nicht zu fürchten. Er sagt, er will elftausend Rubel für das Holz geben, hörst du? Er wird aber, wie mir der Pope schreibt, nur noch eine Woche bleiben. Also könntest du hinfahren und eine Einigung mit ihm zustande bringen.“

»Schreiben Sie doch an den Popen, dann kann der die Sache erledigen.“

»Der versteht nichts davon, das ist ja das Malheur. Dieser Pope hat keine Augen im Kopf. Er ist ein Goldmensch, ich würde ihm ohne weiteres zwanzigtausend Rubel ohne Quittung zur Aufbewahrung übergeben. Doch die Augen versteht er nicht aufzumachen, als ob er überhaupt kein Mensch wäre, jeder Maulaffe kann ihn betrügen. Und denk mal, dabei ist er ein gelehrter Mann. Dieser Gorstkin sieht aus wie ein Bauer und trägt ein blaues ärmelloses Wams, aber seinem Charakter nach ist er der reine Schurke, darüber klagen wir alle! Er lügt, das ist es. Manchmal lügt er so, daß man sich nur wundern kann, warum. So log er vor zwei Jahren, seine Frau sei ihm gestorben und er sei schon mit einer anderen verheiratet. Und davon war nichts wahr, denk mal an! Seine Frau ist nie gestorben, sie lebt jetzt noch und verprügelt ihn alle drei Tage. Darum muß man auch jetzt aufpassen, ob er lügt oder die Wahrheit spricht, wenn er sagt, er will das Holz kaufen und elftausend Rubel dafür geben.“

»Dann werde ich da auch nichts ausrichten, ich habe ja auch keine Augen im Kopf.“

»Nein, warte, dazu wird es bei dir reichen. Ich werde dir alle Merkmale mitteilen, ich meine von Gorstkin, ich habe mit dem ja schon seit langer Zeit zu tun. Siehst du, du mußt auf seinen Bart achten. Er hat so ein rötliches, häßliches, dünnes Bärtchen. Wenn das zittert und er selber in ärgerlichem Ton spricht, dann ist es in Ordnung, dann sagt er die Wahrheit und will das Geschäft machen. Wenn er sich aber den Bart mit der linken Hand streicht und dabei lächelt, na, dann will er einen übers Ohr hauen und schwindelt. Nach seinen Augen darf man sich niemals richten; an denen ist gar nichts zu erkennen, die sind wie dunkles Wasser. Er ist ein Gauner, achte du nur auf seinen Bart. Ich werde dir einen Zettel an ihn mitgeben, den mußt du ihm zeigen. Wenn du mit ihm einig wirst und siehst, daß die Sache in Ordnung ist, dann schreib es mir gleich. Schreib nur: ‚Er lügt nicht.‘ Besteh auf elftausend, tausend kannst du allenfalls ablassen, mehr nicht! Bedenke nur, achttausend und elftausend, das ist eine Differenz von dreitausend Rubeln. Diese dreitausend Rubel sind für mich so gut wie gefunden, gut zahlende Aufkäufer sind selten, und ich brauche das Geld sehr dringend. Wenn du mir mitteilst, daß es ernst ist, werde ich selbst hinfahren und die Sache abschließen; irgendwie werde ich mir die Zeit dann schon abknapsen. Jetzt hat es für mich keinen Zweck hinzufahren, wo alles vielleicht doch nur eine Phantasie des Popen ist. Na, wirst du fahren oder nicht?“

»Ich habe keine Zeit. Entbinden Sie mich davon!“

»Tu doch deinem Vater den Gefallen, ich werde es dir nie vergessen! Ihr seid alle so herzlos, das ist es! Kommt es dir etwa auf einen oder zwei Tage an? Wo willst du denn hin? Nach Venedig? Dein Venedig wird in zwei Tagen nicht einstürzen. Ich würde Aljoscha schicken, aber was versteht Aljoscha von solchen Geschäften? Ich wende mich an dich einzig und allein deswegen, weil du ein kluger Mensch bist, das sehe ich ja. Mit Holz handelst du zwar nicht, dafür hast du Augen im Kopf. Zu der Sache gehört nichts weiter, als daß man achtgibt, ob der Mensch im Ernst redet oder nicht. Ich sage, achte auf seinen Bart! Zittert der, dann redet er im Ernst.“

»Sie schicken mich also von sich aus in dieses verdammte Tschermaschnja, ja?“ rief Iwan Fjodorowitsch boshaft lächelnd.

Fjodor Pawlowitsch bemerkte die Bosheit nicht oder wollte sie nicht bemerken. Nur auf das Lächeln reagierte er. »Also wirst du hinfahren, du wirst fahren? Ich werde dir gleich den Zettel schreiben.“

»Ich weiß noch nicht, ob ich hinfahren werde. Ich weiß es noch nicht, ich werde mich unterwegs entscheiden.“

»Ach was, unterwegs, entscheide dich gleich! Entscheide dich, Täubchen! Wenn du mit ihm eine Übereinkunft erzielt hast, schreib zwei Zeilen und händige sie dem Popen aus, der wird mir dein Zettelchen sofort schicken. Dann werde ich dich nicht länger aufhalten, dann fahr meinetwegen nach Venedig! Der Pope wird dich mit seinem Wagen zur Station Wolowia zurückbringen …“

Der Alte war geradezu entzückt. Er schrieb das Zettelchen, es wurde nach einem Wagen geschickt und ein Imbiß mit Kognak auf den Tisch gestellt. Wenn der Alte vergnügt war, wurde er sonst immer redselig; diesmal schien er sich jedoch Zurückhaltung aufzuerlegen. Von Dmitri Fjodorowitsch zum Beispiel sagte er nichts, kein einziges Wort. Die bevorstehende Trennung rührte ihn nicht besonders. Es machte sogar den Eindruck, als wüßte er nicht, wovon er sprechen sollte. Iwan Fjodorowitsch bemerkte das sehr wohl.

‚Er hat mich doch wohl satt‘, dachte er im stillen.

Erst als der Alte seinen Sohn bis an die Haustür begleitet hatte, bekundete er eine Art von Unruhe und machte Anstalten,

ihn zu küssen. Doch Iwan Fjodorowitsch streckte ihm rasch die Hand zum Abschied hin, offenbar, um dem Küssen zu entgehen. Der Alte begriff das auch sofort und ließ von seinem Vorhaben ab.

»Nun, mit Gott, mit Gott!“ sagte er ein paarmal von der Haustür aus. »Du wirst ja wohl noch einmal im Leben wiederkommen? Na, komm nur, ich werde mich immer freuen. Na, Christus sei mit dir!“

Iwan Fjodorowitsch stieg in den Wagen.

»Lebe wohl, Iwan! Schimpf nicht zu sehr über mich!“ rief ihm der Vater zu guter Letzt noch zu.

Auch die ganze Dienerschaft war gekommen, um Abschied zu nehmen: Smerdjakow, Marfa und Grigori. Iwan Fjodorowitsch schenkte jedem von ihnen zehn Rubel.

Als er sich schon in den Wagen gesetzt hatte, sprang Smerdjakow hinzu, um ihm die Wagendecke zurechtzulegen.

»Siehst du, ich fahre nach Tschermaschnja“, sagte Iwan Fjodorowitsch auf einmal unwillkürlich, so wie am Abend vorher, als ihm die Worte auch wider Willen entschlüpft waren. Diese Mitteilung begleitete er mit einem nervösen Lachen.

Daran mußte er später noch lange denken.

»Also haben die Leute recht, wenn sie sagen, daß mit einem klugen Menschen auch ein kurzes Gespräch von Nutzen ist“, antwortete Smerdjakow fest und blickte Iwan Fjodorowitsch durchdringend an.

Die Pferde zogen an, und der Wagen fuhr schnell los. In der Seele des Reisenden sah es trüb aus; doch er schaute trotzdem eifrig nach den Feldern, den Hügeln, den Bäumen ringsum und nach einer Schar wilder Gänse, die hoch über ihm am hellen Himmel dahinflog. Und auf einmal wurde ihm wohl zumute. Er versuchte ein Gespräch mit dem Kutscher anzuknüpfen, und etwas von dem, was der Bauer antwortete, interessierte ihn außerordentlich. Einen Augenblick später merkte er aber, daß alles an seinen Ohren vorbeigeglitten war und er in Wirklichkeit nichts von dem, was der Bauer gesagt hatte, verstanden hatte. Er verstummte, und auch so war es schön: Die Luft war rein, frisch und ein bißchen kalt, der Himmel klar. Vor seinem geistigen Auge tauchten die Gestalten Aljoschas und Katerina Iwanownas auf; da lächelte er leise und hauchte die lieben Trugbilder an, sie zerstoben.

‚Auch ihre Zeit wird kommen‘, dachte er.

Schnell erreichten sie die erste Station, wechselten die Pferde und jagten weiter in Richtung Wolowja.

‚Warum ist mit einem klugen Menschen auch ein kurzes Gespräch von Nutzen? Was wollte er damit sagen?‘ Dieser Gedanke nahm ihm fast den Atem. ‚Warum habe ich ihm aber auch mitgeteilt, daß ich nach Tschermaschnja fahre.‘

Sie waren in Wolowja angekommen. Iwan Fjodorowitsch stieg aus, und einige Fuhrleute umringten ihn. Er einigte sich mit einem von ihnen über den Preis einer Fahrt nach Tschermaschnja, zwölf Werst Landweg mit Mietspferden. Er befahl dem Kutscher anzuspannen. Dann ging er in das Stationsgebäude, schaute sich dort um, warf einen Blick auf die Frau des Postmeisters und ging wieder hinaus.

»Ich will nicht nach Tschermaschnja fahren. Komme ich noch zurecht zur Eisenbahn, zum Siebenuhrzug, Leute?“

»Wir werden es gerade schaffen. Befehlen Sie anzuspannen?“

»Ja, spann sofort an! Ist einer von euch morgen in der Stadt?“

»Gewiß doch. Hier, Mitri ganz sicher.“

»Kannst du mir einen Gefallen tun, Mitri? Bei meinem Vater Fjodor Pawlowitsch Karamasow vorbeigehen und ihm sagen, daß ich nicht nach Tschermaschnja gefahren bin? Kannst du das?“

»Warum nicht? Ich werde vorbeigehen. Fjodor Pawlowitsch kenne ich schon lange.“

»Da hast du ein Trinkgeld, weil er dir vielleicht nichts geben wird“, sagte Iwan Fjodorowitsch mit heiterem Lachen.

»Nein, der wird mir bestimmt nichts geben“, erwiderte Mitri ebenfalls lachend. »Danke, gnädiger Herr. Ich werde es bestimmt ausrichten.“

Um sieben Uhr abends stieg Iwan Fjodorowitsch in den Zug und fuhr nach Moskau.

»Weg mit allem, was bisher gewesen ist! Mit der ganzen bisherigen Welt habe ich für alle Zeit abgeschlossen, und keine

Kunde, kein Ruf aus ihr soll mich mehr erreichen! Hinein in eine neue Welt, zu neuen Orten! Vorwärts — ohne einen Blick zurück!“

Aber statt Begeisterung überkam ihn plötzlich Traurigkeit, und ein dumpfer Schmerz, wie er ihn in seinem ganzen Leben noch nicht kennengelernt hatte, quälte sein Herz. Die ganze Nacht ließen ihn seine Gedanken nicht schlafen. Der Zug flog dahin, und erst als sie bei Tagesgrauen in Moskau einfuhren, kam er gewissermaßen zur Besinnung.

»Ich bin ein Schurke!“ flüsterte er vor sich hin.

Fjodor Pawlowitsch aber blieb, nachdem er seinen Sohn hinausbegleitet hatte, in sehr zufriedener Stimmung zurück. Ganze zwei Stunden fühlte er sich beinahe glücklich und trank ab und zu ein Gläschen Kognak. Doch plötzlich ereignete sich im Hause etwas sehr Ärgerliches und für alle sehr Unangenehmes, was Fjodor Pawlowitsch sofort zutiefst bestürzte. Smerdjakow war aus irgendeinem Grund in den Keller gegangen und von der obersten Stufe gestürzt. Es war noch gut, daß Marfa Ignatjewna in diesem Augenblick zufällig auf dem Hof war und es rechtzeitig hörte. Den Fall selbst sah sie nicht; dafür hörte sie einen Schrei, den eigenartigen, ihr aber schon bekannten Schrei eines Epileptikers, der einen Anfall bekommt. Ob ihn der Anfall in dem Moment überrascht hatte, als er die Stufen hinabzusteigen begann, so daß er natürlich sogleich bewußtlos hinunterstürzen mußte, oder ob sich umgekehrt infolge des Falls und der Erschütterung bei dem notorischen Epileptiker Smerdjakow der Anfall eingestellt hatte, war nicht zu entscheiden. Als man ihn fand, lag er schon auf dem Boden des Kellers, in Krämpfen und Zuckungen, um sich schlagend, und mit Schaum vor dem Mund. Man glaubte anfangs, er habe sich etwas gebrochen, einen Arm oder ein Bein, oder sich anderweitig beschädigt; doch »Gott hat ihn behütet“, wie sich Marfa Ignatjewna ausdrückte: Es war nichts Derartiges geschehen. Es war nur schwer, ihn richtig, zu fassen und ihn aus dem Keller ins Freie zu tragen. Aber sie baten die Nachbarn um Hilfe und kamen so, wenn auch mit Mühe, zurecht.

Auch Fjodor Pawlowitsch war persönlich anwesend und half selbst mit. Er war offenbar sehr erschrocken und beinahe fassungslos. Der Kranke kam jedoch nicht zur Besinnung; die Anfälle hörten zwar zeitweilig auf, kehrten aber dann wieder, und alle folgerten daraus, der weitere Verlauf werde sein wie im vorigen Jahr, als er vom Dachboden gefallen war. Sie erinnerten sich, daß ihm damals Eis auf den Kopf gelegt worden war. Eis war im Keller noch vorhanden, und Marfa Ignatjewna machte ihm eine Packung; Fjodor Pawlowitsch schickte gegen Abend noch zu Doktor Herzenstube, der unverzüglich kam. Nachdem er den Kranken sorgsam untersucht hatte — er war der gewissenhafteste Arzt im ganzen Gouvernement, ein sehr achtbarer älterer Herr —, erklärte er, der Anfall sei von außerordentlicher Art und »es drohe vielleicht Gefahr“. Vorläufig verstehe er noch nicht alles; morgen früh werde er, sollten die jetzigen Mittel nicht helfen, zu anderen greifen. Der Kranke wurde im Seitengebäude ins Bett gepackt, in einem Zimmer neben dem Grigoris und Marfa Ignatjewnas.

Fjodor Pawlowitsch mußte den Tag über ein Unglück nach dem anderen ertragen. Das Mittagessen hatte Marfa Ignatjewna zubereiten müssen; infolgedessen schmeckte die Suppe, mit Smerdjakows Kunstleistungen verglichen, wie Spülwasser, und das Huhn erwies sich als so trocken, daß es überhaupt nicht zu kauen war. Auf die bitteren, allerdings wohl berechtigten Vorwürfe ihres Herrn erwiderte Marfa Ignatjewna, das Huhn sei ohnehin schon sehr alt gewesen, und sie selbst habe nicht Koch studiert. Gegen Abend kam noch eine andere Sorge hinzu. Fjodor Pawlowitsch erhielt die Meldung, Grigori, der schon seit zwei Tagen krank war, habe sich wegen heftiger Kreuzschmerzen zu Bett legen müssen.

Fjodor Pawlowitsch beendete den Tee so früh wie möglich und schloß sich allein im Haus ein. Er befand sich in schrecklicher, beängstigender Spannung. Ausgerechnet an diesem Abend erwartete er Gruschenka fast mit Sicherheit. Zumindest hatte ihm Smerdjakow schon morgens versichert, sie habe versprochen, bestimmt zu kommen. Das Herz des erregten alten Mannes schlug unruhig, er lief in seinen leeren Zimmern auf und ab und horchte. Dauernd mußte er sein Ohr anstrengen; Dmitri Fjodorowitsch konnte ihr irgendwo auflauern, und wenn sie ans Fenster klopfte — Smerdjakow hatte ihm schon vor zwei Tagen versichert, daß er ihr mitgeteilt habe, wo und wie sie klopfen müsse —, mußte er so schnell wie möglich die Tür öffnen und sie nicht eine Sekunde vergebens warten lassen, damit sie nicht, was Gott verhüte, Angst bekam und wieder weglief. Ja, Fjodor Pawlowitsch hatte seine schweren Sorgen; aber noch nie hatte sich sein Herz in so süßen Hoffnungen gewiegt. Man konnte ja fast mit Sicherheit sagen, daß sie diesmal unbedingt kommen mußte!