ii
„Sehen Sie, meine Freundin — Sie erlauben mir doch, mich Ihren Freund zu nennen, nicht wahr?“ begann Stepan Trofimowitsch eilig, sobald sich die Britschke in Bewegung gesetzt hatte. „Sehen Sie, ich … J'aime le peuple, c'est indispensable, mais il me semble que je ne l'avais jamais vu de près. Stasie … cela va sans dire qu'elle est aussi du peuple … mais le vrai peuple, das heißt das wirkliche Volk, das man auf der Landstraße trifft, kümmert sich, wie mir scheint, nur darum, wohin ich eigentlich reise … Aber lassen wir alle Kränkungen beiseite. Ich rede wohl allerlei dummes Zeug durcheinander; aber das kommt wohl von der Eile.“
„Es scheint, daß Sie nicht ganz gesund sind,“ sagte Sofja Matwejewna, indem sie ihn prüfend, aber respektvoll ansah.
„Nein, nein, ich brauche mich nur ordentlich einzuwickeln, und überhaupt ist so ein frischer Wind, sogar ein sehr frischer Wind; aber … wir wollen daran nicht denken. Die Hauptsache ist: ich wollte etwas anderes sagen. Chère et incomparable amie, es scheint mir, daß ich beinah glücklich bin, und die Ursache davon sind Sie. Für mich ist es unvorteilhaft, glücklich zu sein, weil ich dann sogleich allen meinen Feinden vergebe …“
„Aber das ist doch sehr gut.“
„Nicht immer, chère innocente. L'Évangile … Voyez-vous, désormais nous le prêcherons ensemble, und ich werde gern Ihre schönen Bücher verkaufen. Ja, ich fühle, daß das vielleicht eine Idee ist, quelque chose de très nouveau dans ce genre. Das Volk ist religiös, c'est admis, aber es kennt das Evangelium noch nicht. Ich werde es ihm auslegen … Bei der mündlichen Auslegung kann man die Fehler dieses merkwürdigen Buches verbessern, dem gegenüber ich mich natürlich höchst respektvoll zu verhalten beabsichtige. Auch auf der Landstraße werde ich nützlich sein. Ich bin immer nützlich gewesen; das habe ich immer meinen Freunden und meinen Gegnern gesagt et à cette chère ingrate … Oh, vergeben wir, vergeben wir, vergeben wir vor allen Dingen allen und immer! Dann können wir hoffen, daß auch uns vergeben werden wird. Ja, denn wir alle und jeder haben uns einander gegenüber schuldig gemacht. Alle haben wir uns schuldig gemacht! …“
„Da haben Sie etwas sehr Gutes gesagt.“
„Ja, ja … Ich fühle, daß ich sehr gut rede. Ich werde sehr gut zu ihnen reden; aber, aber was wollte ich denn hauptsächlich sagen? Ich verwirre mich immer und kann mich nicht besinnen … Wollen Sie mir wohl erlauben, daß ich mich nicht mehr von Ihnen trenne? Ich fühle, daß Ihr Blick und … ich bin sogar erstaunt über Ihr Benehmen: Sie haben etwas Schlichtes und Einfaches; Ihre Aussprache ist nicht ganz korrekt; Sie gießen den Tee in die Untertasse und beißen von diesem häßlichen Stück Zucker ab; aber Sie haben etwas Reizendes, und ich sehe an Ihren Zügen … Oh, erröten Sie nicht, und fürchten Sie mich nicht als Mann. Chère et incomparable, pour moi une femme c'est tout. Ich muß unbedingt neben einer Frau leben, aber nur neben … Ich bin furchtbar in Verwirrung geraten … Ich kann mich gar nicht besinnen, was ich sagen wollte. Oh, glücklich derjenige, dem Gott immer eine Frau sendet, und … und ich denke sogar, daß ich mich in einer Art von Begeisterung befinde. Auch auf der Landstraße gibt es große Ideen! Sehen Sie, sehen Sie, das ist es, was ich sagen wollte: über die Idee; jetzt ist es mir eingefallen; aber vorher konnte ich gar nicht darauf kommen. Und warum haben uns diese Leute in einem Wagen weiter fortgeschickt? Dort war es doch auch hübsch, aber hier — cela devient trop froid. À propos, j'ai en tout quarante roubles et voilà cet argent; nehmen Sie es, nehmen Sie es; ich weiß nicht damit umzugehen; ich werde es verlieren, und man wird es mir wegnehmen, und … Es scheint mir, daß ich sehr schläfrig bin; es dreht sich mir etwas im Kopfe herum. Ja, es dreht sich, es dreht sich, es dreht sich. Oh, wie gut Sie sind! Womit decken Sie mich da zu?“
„Sie haben offenbar ein richtiges Fieber, und ich habe Sie mit meinem Tuche zugedeckt. Aber was das Geld anlangt, so möchte ich …“
„Oh, um Gotteswillen, n'en parlons phus; parce que cela me fait mal; oh, wie gut Sie sind!“
Er hörte auf einmal auf zu reden und versank außerordentlich schnell in einen fieberhaften, mit Frösteln verbundenen Schlaf. Der Landweg, auf dem sie diese siebzehn Werst fuhren, war sehr uneben, und der Wagen stieß gewaltig. Stepan Trofimowitsch wachte häufig auf, richtete sich schnell von dem kleinen Kissen in die Höhe, das ihm Sofja Matwejewna unter den Kopf geschoben hatte, ergriff sie bei der Hand und fragte: „Sind Sie hier?“ als ob er fürchtete, sie könnte ihn verlassen haben. Er erzählte ihr auch, daß er von einem geöffneten Rachen mit Zähnen geträumt habe, und daß ihm das sehr widerwärtig gewesen sei. Sofja Matwejewna war in großer Unruhe um ihn.
Der Kutscher fuhr sie geradeswegs zu einem großen, vierfenstrigen Bauernhause mit mehreren ebenfalls zum Wohnen eingerichteten Nebengebäuden auf dem Hofe. Stepan Trofimowitsch erwachte, beeilte sich hineinzugehen und begab sich ohne weiteres in die zweite Stube des Hauses, die die geräumigste und beste war. Sein verschlafenes Gesicht nahm einen sehr geschäftigen Ausdruck an. Der Wirtin, einer hochgewachsenen, kräftig gebauten Frau von ungefähr vierzig Jahren, die sehr schwarzes Haar und beinah einen Schnurrbart hatte, erklärte er sofort, er verlange das ganze Zimmer für sich; sie solle die Tür zumachen und niemand mehr hereinlassen, „parce que nous avons à parler. Oui, j'ai beaucoup à vous dire, chère amie. Ich werde es bezahlen, ich werde es bezahlen!“ fügte er, zur Wirtin gewandt, mit einer abwehrenden Handbewegung hinzu.
Obgleich er schnell sprach, bewegte er doch die Zunge nur unbeholfen. Die Wirtin hörte ihn mit unfreundlicher Miene an, schwieg aber zum Zeichen der Einwilligung; indes konnte man aus ihrem Wesen schon etwas Drohendes ahnen. Er jedoch merkte nichts davon und verlangte schleunigst (er hatte es furchtbar eilig), sie solle hinausgehen und sofort, so schnell wie nur möglich, das Mittagessen auftragen, „ohne den geringsten Verzug“.
Nun aber konnte sich die Frau mit dem Schnurrbart nicht mehr halten:
„Hier ist kein Wirtshaus, mein Herr; Mittagessen für Reisende liefern wir nicht. Wir kochen Krebse und stellen einen Samowar auf; aber weiter ist bei uns nichts zu haben. Frische Fische werden erst morgen da sein.“
Aber Stepan Trofimowitsch wiederholte in zorniger Ungeduld unter lebhaften Gestikulationen: „Ich werde es bezahlen; nur schnell, nur schnell!“ Sie entschieden sich für Fischsuppe und ein gebratenes Huhn; die Wirtin versicherte zwar, im ganzen Dorfe sei kein Huhn zu bekommen, erklärte sich aber bereit, auf die Suche zu gehen, jedoch mit einer Miene, als ob sie ihnen die größte Gefälligkeit erwiese.
Kaum war sie hinausgegangen, als Stepan Trofimowitsch sich sofort auf das Sofa setzte und Sofja Matwejewna veranlaßte, neben ihm Platz zu nehmen. In der Stube befanden sich sowohl ein Sofa als Lehnstühle; aber diese Möbel sahen abstoßend aus. Überhaupt stellte das ganze, ziemlich geräumige Zimmer (durch eine Halbwand war ein Teil abgebuchtet, in welchem ein Bett stand) mit den gelben, alten, zerrissenen Tapeten, mit den schrecklichen mythologischen Lithographien an den Wänden, mit der langen Reihe von Heiligenbildern und messingnen Triptychen in der vorderen Ehrenecke und mit seinem sonderbar zusammengewürfelten Mobiliar eine häßliche Mischung des städtischen und des uralt-bäuerlichen Elementes dar. Aber er warf auf all das nicht einmal einen Blick und sah auch nicht durch das Fenster nach dem gewaltigen See hin, der etwa dreißig Schritte von dem Hause begann.
„Endlich sind wir allein, und wir werden niemand hereinlassen! Ich will Ihnen alles erzählen, alles von Anfang an.“
Sofja Matwejewna hielt ihn mit starker Unruhe davon zurück:
„Ist Ihnen auch wohl bekannt, Stepan Trofimowitsch …“
„Comment, vous savez déjà mon nom?“ fragte er, erfreut lächelnd.
„Ich habe ihn vorhin von Anisim Iwanow gehört, als Sie mit ihm sprachen. Ich möchte mir meinerseits erlauben, Ihnen etwas mitzuteilen …“
Und indem sie nach der geschlossenen Tür hinblickte, damit niemand horche, flüsterte sie ihm eilig zu, hier in diesem Dorfe sei eine sehr üble Wirtschaft. Die Einwohner des Ortes seien zwar Fischer, erwürben sich aber ihren Unterhalt besonders dadurch, daß sie in jedem Sommer den bei ihnen logierenden Fremden ganz phantastische Preise abnähmen. Der Landweg führe nicht durch das Dorf hindurch, sondern ende hier, und die Fremden kämen lediglich deswegen her, weil hier der Dampfer anlege; wenn nun der Dampfer ausbleibe (und bei auch nur einigermaßen ungünstigem Wetter komme er unter keinen Umständen), so sammle sich hier für einige Tage viel Volk an, so daß alle Häuser im Dorfe besetzt seien, und darauf warteten die Hausbesitzer nur; denn dann nähmen sie für jeden Gegenstand den dreifachen Preis. Der Wirt dieses Hauses sei besonders stolz und hochmütig, weil er für hiesige Verhältnisse sehr reich sei; ein einziges seiner Netze sei tausend Rubel wert.
Stepan Trofimowitsch blickte der Redenden ordentlich vorwurfsvoll in das lebhaft erregte Gesicht und machte mehrmals eine Bewegung, als ob er sie unterbrechen wolle. Aber sie zeigte sich beharrlich und sprach zu Ende: nach ihrer Erzählung war sie schon im Sommer „mit einer hochadligen Dame aus der Stadt“ hier gewesen; sie sagte, sie hätten hier ebenfalls zwei ganze Tage logiert, bis der Dampfer gekommen sei, und hätten so viel Ärger durchgemacht, daß die bloße Erinnerung daran schrecklich sei.
„Sehen Sie, Stepan Trofimowitsch, Sie haben dieses Zimmer für sich allein verlangt … Ich sage es nur, um Sie zu warnen … Dort in dem andern Zimmer sind schon Fremde, ein älterer Herr und ein junger Mensch und eine Dame mit Kindern, und morgen wird das ganze Haus bis zwei Uhr voll Menschen sein; denn da der Dampfer zwei Tage lang nicht gekommen ist, so wird er morgen bestimmt kommen. Und so werden denn die Wirtsleute für das besondere Zimmer und dafür, daß Sie von ihnen Mittagessen verlangt haben, und für die Benachteiligung der übrigen Reisenden von Ihnen einen Preis verlangen, wie er selbst in den Hauptstädten unerhört ist …“
Aber er litt während ihrer Auseinandersetzung, litt wirklich.
„Assez, mon enfant, ich bitte Sie dringend, nous avons notre argent et après — et après le bon Dieu Ich wundere mich sogar, daß Sie bei der Höhe Ihrer Denkweise … Assez, assez, vous me tourmentez>,“ rief er in krankhafter Aufregung. „Unsere ganze Zukunft liegt vor uns, und da wollen Sie … da wollen Sie mir vor der Zukunft bange machen …“
Er begann sogleich seine ganze Lebensgeschichte vorzutragen, wobei er dermaßen hastete, daß es zuerst sogar schwer war, ihn zu verstehen. Diese Geschichte dauerte sehr lange. Es wurde die Fischsuppe gebracht, dann das Huhn, schließlich auch der Samowar; aber er redete immer noch … Sein Reden machte einen etwas sonderbaren, krankhaften Eindruck; aber er war ja auch wirklich krank. Es war dies eine plötzliche Anspannung seiner Geisteskräfte, auf die mit Sicherheit (und Sofja Matwejewna sah das während seiner ganzen Erzählung mit Betrübnis voraus) nachher sofort in seinem bereits zerrütteten Organismus ein außerordentlicher Zusammensturz der Kräfte folgen mußte. Er begann beinah mit seiner Kindheit, als er „mit frischer Brust durch die Felder lief“; nach einer Stunde war er eben erst bei seinen beiden Ehen und dem Berliner Leben angelangt. Ich erlaube mir übrigens nicht, über ihn zu spotten. Es handelte sich für ihn tatsächlich um etwas Höheres und, um den modernsten Ausdruck zu gebrauchen, beinah um einen Kampf ums Dasein. Er sah die Frau vor sich, die er sich schon für seinen weiteren Lebensweg auserkoren hatte, und beeilte sich, ihr sozusagen die Weihe zu erteilen. Seine Genialität durfte für sie nicht länger ein Geheimnis bleiben … Vielleicht sah er Sofja Matwejewna durch ein starkes Vergrößerungsglas; aber er hatte sie nun einmal auserkoren. Er konnte ohne eine Frau nicht existieren. Er selbst erkannte an ihrem Gesichte klar, daß sie ihn fast gar nicht verstand und gerade das Wichtigste nicht.
„Ce n'est rien, nous attendrons; aber einstweilen mag sie es mit dem Ahnungsvermögen erfassen,“ dachte er.
„Meine Freundin, ich brauche nur Ihr Herz,“ rief er, seine Erzählung unterbrechend, ihr zu, „und diesen lieben, bezaubernden Blick, mit dem Sie mich jetzt ansehen. Oh, erröten Sie nicht! Ich habe Ihnen bereits gesagt …“
Besonders vieles blieb der armen notgedrungenen Zuhörerin Sofja Matwejewna nebelhaft, als die Lebensgeschichte beinah zu einer vollständigen Abhandlung darüber wurde, daß nie jemand Stepan Trofimowitsch habe verstehen können, und daß „bei uns in Rußland die Talente zugrunde gehen.“ Es war „etwas sehr Kluges und Verständiges, was er sagte,“ berichtete sie darüber später mit inniger Rührung. Sie hörte ihm mit sichtlichem Mitgefühle zu, indem sie dabei die Augen ein wenig aufriß. Als aber Stepan Trofimowitsch humoristisch wurde und witzige Sticheleien gegen unsere „Matadore und Koryphäen“ vorbrachte, da versuchte sie in ihrer Betrübnis sogar in Erwiderung auf sein Lachen ein paarmal zu lächeln; aber das nahm sich noch schlechter aus als die Tränen, so daß Stepan Trofimowitsch sogar endlich selbst verlegen wurde und nun mit um so größerem Zorne und Ingrimm über die Nihilisten und die „neuen Männer“ herzog. Damit aber erschreckte er sie geradezu, und sie atmete erst da wieder in einer allerdings sehr trügerischen Hoffnung einigermaßen auf, als der eigentliche Liebesroman begann. Frau bleibt Frau, und wenn sie eine Nonne wäre. Sie lächelte, wiegte den Kopf hin und her, errötete und schlug die Augen nieder, wodurch sie Stepan Trofimowitsch in das größte Entzücken und in helle Begeisterung versetzte, so daß er sogar vieles hinzulog. Warwara Petrowna wurde bei ihm eine reizende Brünette („welche ganz Petersburg und viele andere Hauptstädte Europas bezaubert hatte“), und ihr Mann war gestorben, „in Sewastopol von einer Kugel niedergestreckt“, einzig und allein, weil er sich ihrer Liebe unwürdig fühlte und sie seinem Nebenbuhler, das heißt eben diesem Stepan Trofimowitsch, abtreten wollte …
„Werden Sie nicht verlegen, meine sanfte, fromme Freundin!“ rief er Sofja Matwejewna zu, indem er selbst fast alles glaubte, was er erzählte. „Dieses Verhältnis war etwas Erhabenes, etwas so Zartes, daß wir beide unser ganzes Leben lang uns nicht ein einziges Mal darüber ausgesprochen haben.“
Als Ursache dieser Lage der Dinge erschien im weiteren Verlaufe der Erzählung eine Blondine (wenn dies nicht Darja Pawlowna war, so wüßte ich nicht, wen Stepan Trofimowitsch sonst damit gemeint haben könnte). Diese Blondine war der Brünette den größten Dank schuldig und war als entfernte Verwandte im Hause derselben aufgewachsen. Als die Brünette endlich die Liebe der Blondinen zu Stepan Trofimowitsch wahrnahm, zog sie sich in sich selbst zurück. Die Blondine ihrerseits, als sie die Liebe der Brünette zu Stepan Trofimowitsch bemerkte, zog sich ebenfalls in sich selbst zurück. Und so schwiegen sie alle drei, ganz ermattet von gegenseitiger Großmut, zwanzig Jahre lang, indem sie sich in sich selbst zurückzogen. „Oh, was war das für eine Leidenschaft, was war das für eine Leidenschaft!“ rief er aus, schluchzend im aufrichtigsten Entzücken. „Ich sah die volle Blüte ihrer Schönheit“ (nämlich der Schönheit der Brünette); „ich sah sie mit tiefem Schmerze im Herzen, wie sie an mir vorüberging, als schäme sie sich ihrer Schönheit.“ (Einmal sagte er: „als schäme sie sich ihrer Fülle“.) Endlich hatte er diesen ganzen zwanzigjährigen fieberhaften Traum von sich geworfen und war davongelaufen. Vingt ans! Und da war er jetzt nun auf der Landstraße … Darauf begann er in einer Art von entzündetem Zustande des Gehirnes seiner Reisegefährtin zu erklären, was ihr heutiges so zufälliges und doch für ihr ganzes Leben so entscheidendes Zusammentreffen zu bedeuten habe. Sofja Matwejewna stand schließlich in schrecklicher Verlegenheit vom Sofa auf; er machte sogar einen Versuch, sich vor ihr auf die Knie niederzulassen, so daß sie zu weinen anfing. Die Dämmerung wurde dunkler: beide hatten in dem geschlossenen Zimmer schon mehrere Stunden verbracht …
„Nein, lassen Sie mich jetzt lieber in das andere Zimmer gehen,“ stammelte sie; „sonst denken sich die Leute womöglich etwas.“
Sie riß sich endlich los; er ließ sie gehen, nachdem er ihr sein Wort darauf gegeben hatte, daß er sich sofort schlafen legen werde. Beim Abschiednehmen klagte er darüber, daß ihm der Kopf sehr weh täte. Sofja Matwejewna hatte schon, als sie ins Haus gekommen war, ihren Sack und ihre Sachen im ersten Zimmer gelassen, da sie beabsichtigte, mit den Wirtsleuten zusammen zu schlafen; aber es sollte ihr nicht gelingen, sich zu erholen.
In der Nacht bekam Stepan Trofimowitsch einen seiner mir und all seinen Freunden so wohlbekannten Cholerineanfälle, der gewöhnliche Ausgang aller nervösen Anspannungen und seelischen Erschütterungen bei ihm. Die arme Sofja Matwejewna kam die ganze Nacht nicht zum Schlafen. Da sie anläßlich der Pflege des Kranken ziemlich oft durch das Zimmer der Wirtsleute aus dem Hause hinausgehen und auf demselben Wege wieder zu dem Kranken zurückkehren mußte, so murrten die dort schlafende Wirtin und die Fremden und fingen sogar schließlich an zu schimpfen, als sie gegen Morgen einen Samowar aufstellen wollte. Stepan Trofimowitsch war während der ganzen Zeit des Anfalls nur bei halbem Bewußtsein; manchmal kam es ihm vor, als werde ein Samowar aufgestellt, als gebe man ihm etwas zu trinken (Himbeerwasser), als wärme man ihm mit etwas den Leib und die Brust. Aber er fühlte fast jeden Augenblick, daß sie neben ihm war, daß sie kam und ging, ihn vom Bette nahm und wieder auf das Bett legte. Um drei Uhr morgens fühlte er sich besser; er richtete sich auf, streckte die Beine aus dem Bette heraus und fiel, ohne sich etwas dabei zu denken, vor ihr auf den Fußboden. Das war nicht die frühere Kniebeugung; er fiel ihr einfach zu Füßen und küßte den Saum ihres Kleides …
„Lassen Sie doch; das bin ich ja nicht wert,“ flüsterte sie, indem sie sich bemühte, ihn auf das Bett zu heben.
„Meine Retterin!“ sagte er, andächtig vor ihr die Hände faltend. „Vous êtes noble comme une marquise! Ich … ich bin ein Taugenichts! Oh, ich bin mein ganzes Leben lang ein Ehrloser gewesen …“
„Beruhigen Sie sich!“ bat Sofja Matwejewna.
„Ich habe Ihnen vorhin alles nur vorgelogen … aus Prahlerei, zur Ausschmückung, aus Leichtfertigkeit … alles, alles bis auf das letzte Wort; o ich Taugenichts, ich Taugenichts!“
Die Cholerine ging auf diese Art in einen anderen Anfall über, in einen Anfall von krankhafter Selbstanklage. Ich habe diese Anfälle bereits erwähnt, als ich von seinen Briefen an Warwara Petrowna sprach. Er erinnerte sich auf einmal an Lisa, an sein Zusammentreffen mit ihr am Morgen des vorhergehenden Tages.
„Das war so schrecklich, und … da war gewiß ein Unglück geschehen, und ich habe nicht danach gefragt, mich nicht erkundigt! Ich dachte nur an mich! Oh, was ist mit ihr geschehen? Wissen Sie nicht, was mit ihr geschehen ist?“ sagte er in flehendem Tone zu Sofja Matwejewna.
Dann schwor er, er werde „ihr“ nicht untreu werden, er werde zu ihr zurückkehren (er meinte Warwara Petrowna).
„Wir wollen zu ihrer Haustür gehen“ (er meinte sich und Sofja Matwejewna), „jeden Tag, wenn sie in den Wagen steigt, um ihre morgendliche Spazierfahrt zu machen, und wollen sie ganz still ansehen … Oh, ich will, daß sie mich auch auf die andere Wange schlägt; mit Genuß will ich das. Ich werde ihr meine andere Wange darbieten comme dans votre livre! Jetzt, erst jetzt habe ich verstanden, was das heißt: die andere Backe darbieten. Ich hatte es früher nie verstanden!“
Für Sofja Matwejewna folgten nun zwei der furchtbarsten Tage ihres Lebens; noch jetzt zittert sie bei der bloßen Erinnerung. Stepan Trofimowitsch wurde so ernstlich krank, daß er nicht auf dem Dampfer wegfahren konnte, der diesmal pünktlich um zwei Uhr nachmittags ankam; sie aber brachte es nicht fertig, ihn allein zurückzulassen, und fuhr ebenfalls nicht nach Spasow. Wie sie später berichtete, freute er sich sogar sehr darüber, daß der Dampfer abgegangen war.
„Nun, das ist ja prächtig, das ist ja wunderschön,“ murmelte er, im Bette liegend. „Ich hatte schon gefürchtet, wir würden wegfahren. Hier ist es so hübsch; hier ist es am allerschönsten … Sie werden mich nicht verlassen? Oh, Sie haben mich nicht verlassen!“
Indessen war es „hier“ durchaus nicht so hübsch. Von den Schwierigkeiten, die ihr erwuchsen, wollte er nichts wissen; sein Kopf war nur mit Phantasien angefüllt. Seine Krankheit hielt er für etwas Vorübergehendes, für eine Lappalie, und dachte an sie überhaupt nicht; er dachte nur daran, wie sie hingehen und „diese Bücher“ verkaufen würden. Er bat sie, ihm aus dem Neuen Testamente vorzulesen.
„Es ist schon lange her, daß ich es gelesen habe … im Original gelesen habe. Aber es könnte mich doch jemand nach etwas daraus fragen, und ich gäbe dann vielleicht falsche Auskunft; ich muß mich doch vorbereiten.“
Sie setzte sich neben ihn und schlug das Buch auf.
„Sie lesen sehr schön,“ unterbrach er sie schon nach der ersten Zeile. „Ich sehe, ich sehe, daß ich mich nicht geirrt habe!“ fügte er undeutlich, aber entzückt hinzu.
Und überhaupt war er ununterbrochen in einem Zustande des Entzückens. Sie las die Bergpredigt.
„Assez, assez, mon enfant, genug! … Meinen Sie wirklich, daß das nicht genug ist?“
Er schloß kraftlos die Augen. Er war sehr schwach, hatte aber das Bewußtsein noch nicht verloren. Sofja Matwejewna wollte sich erheben, weil sie annahm, daß er zu schlafen wünsche; aber er hielt sie zurück.
„Meine Freundin, ich habe mein ganzes Leben lang gelogen. Sogar wenn ich die Wahrheit sagte. Ich habe nie um der Wahrheit willen geredet, sondern nur um meinetwillen; ich habe das auch früher schon gewußt; aber erst jetzt sehe ich es klar ein … Oh, wo sind jene Freunde, die ich mit meiner Freundschaft mein ganzes Leben lang gekränkt habe? Und sie alle habe ich gekrankt, sie alle! Savez-vous, ich lüge vielleicht auch jetzt; gewiß lüge ich auch jetzt. Die Hauptsache ist, daß ich mir selbst glaube, wenn ich lüge. Das Allerschwerste im Leben ist: zu leben und nicht zu lügen … und … und an die eigene Lüge nicht zu glauben; ja, ja, gerade das! Aber warten Sie, von alledem wollen wir später einmal reden … Wir bleiben zusammen, wir bleiben zusammen!“ fügte er enthusiastisch hinzu.
„Stepan Trofimowitsch,“ bat Sofja Matwejewna schüchtern, „möchten Sie nicht einen Arzt aus der Gouvernementsstadt holen lassen?“
Er war höchlichst überrascht.
„Wozu? Est-ce que je suis si malade? Mais rien de sérieux. Und wozu brauchen wir fremde Leute? Dann würde es bekannt werden, daß ich hier bin, und was dann? Nein, nein, keinen Fremden! Wir bleiben zusammen, wir bleiben zusammen!“
„Wissen Sie,“ sagte er nach kurzem Stillschweigen, „lesen Sie mir noch etwas, etwas Beliebiges, worauf Ihr Auge gerade fällt.“
Sofja Matwejewna schlug das Buch auf und begann zu lesen.
„Wo das Buch aufklappt, wo es zufällig aufklappt,“ sagte er noch einmal.
„Und dem Engel der Gemeine zu Laodicea schreibe …“
„Was ist das? Wo ist das her?“
„Das ist aus der Offenbarung St. Johannis.“
„O, je m'en souviens, oui, l'Apocalipse. Lisez, lisez, ich möchte aus dem Buche eine Weissagung über unsere Zukunft entnehmen; ich möchte wissen, was herauskommt; lesen Sie von dem Engel, von dem Engel! …“
„Und dem Engel der Gemeine zu Laodicea schreibe: das saget Amen, der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Kreatur Gottes. Ich weiß deine Werke; du bist weder kalt noch warm; o wenn du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder kalt noch warm, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde. Denn du sprichst: ich bin reich, ich habe viel Gut erlangt und bedarf nichts; aber du weißt nicht, daß du unglücklich bist und jämmerlich und arm und blind und nackt.“
„Das … und das steht in Ihrem Buche!“ rief er mit funkelnden Augen und richtete sich vom Kopfkissen in die Höhe. „Ich habe diese großartige Stelle nie gekannt! Hören Sie: eher kalt, kalt als lau, nur lau. Oh, ich werde es beweisen! Nur verlassen Sie mich nicht; lassen Sie mich nicht allein! Wir werden es beweisen, wir werden es beweisen!“
„Nein, ich werde Sie nicht verlassen, Stepan Trofimowitsch; niemals werde ich Sie verlassen!“ rief sie, indem sie seine Hand ergriff, sie in den ihrigen drückte, sie an ihr Herz führte und ihn mit Tränen in den Augen anblickte. („Er tat mir in diesem Augenblicke furchtbar leid,“ berichtete sie später.)
Seine Lippen zuckten krampfhaft.
„Aber, Stepan Trofimowitsch, was sollen wir denn nun machen? Wollen Sie nicht einen Ihrer Bekannten oder vielleicht einen Ihrer Verwandten von Ihrer Krankheit benachrichtigen?“
Aber als er das hörte, erschrak er dermaßen, daß sie bedauerte, es noch einmal erwähnt zu haben. Zitternd und bebend flehte er sie an, niemanden zu rufen, nichts zu unternehmen; er nahm ihr das Wort darauf ab und sagte mehrmals: „Niemanden, niemanden! Wir wollen allein bleiben, ganz allein; nous partirons ensemble."
Recht übel war es auch, daß die Wirtsleute ebenfalls unruhig wurden, brummten und Sofja Matwejewna zu Leibe gingen. Sie bezahlte ihnen das Gelieferte und war darauf bedacht, sie sehen zu lassen, daß noch mehr Geld da sei; dies besänftigte die Leute für einige Zeit; aber der Wirt verlangte Stepan Trofimowitschs „Schein“. Der Kranke wies mit hochmütigem Lächeln auf seine kleine Reisetasche; in dieser fand Sofja Matwejewna die Verfügung über seine Entlassung oder etwas Derartiges, was er sein ganzes Leben lang als Legitimation benutzt hatte. Der Wirt gab sich damit nicht zufrieden und sagte: „Er muß irgendwo aufgenommen werden; denn bei uns ist kein Krankenhaus; und wenn er stirbt, so wird das am Ende noch eine unangenehme Geschichte; wir haben davon viel Schererei.“ Sofja Matwejewna redete mit dem Wirte auch von einem Arzte; aber es ergab sich, daß, wenn man nach der Gouvernementsstadt schicken wollte, dies viel zu teuer werden würde; man mußte natürlich jeden Gedanken an einen Arzt fallen lassen. Bekümmert kehrte sie zu ihrem Kranken zurück. Stepan Trofimowitsch wurde immer schwächer und schwächer.
„Nun lesen Sie mir noch eine Stelle vor … von den Schweinen,“ sagte er auf einmal.
„Was?“ fragte Sofja Matwejewna ganz erschrocken.
„Von den Schweinen … das steht auch darin … ces cochons … ich erinnere mich, die Teufel fuhren in Schweine, und diese ertranken alle. Das müssen Sie mir unbedingt vorlesen: ich werde Ihnen nachher sagen, warum. Ich möchte es wörtlich hören. Ich muß es wörtlich hören.“
Sofja Matwejewna kannte das Neue Testament genau und fand sogleich bei Lucas eben jene Stelle, die ich als Motto an die Spitze dieser Geschichtserzählung gesetzt habe. Ich führe sie hier noch einmal an:
„Es weidete aber daselbst eine große Herde Säue auf dem Berge. Und die Teufel baten ihn, daß er ihnen erlaubte, in diese zu fahren. Da fuhren die Teufel aus von dem Menschen und fuhren in die Säue; und die Herde stürzte sich von dem Abhange in den See und ersoff. Da aber die Hirten sahen, was da geschah, flohen sie und verkündigten's in der Stadt und in den Dörfern. Da gingen die Einwohner hinaus, zu sehen, was da geschehen war, und kamen zu Jesu und fanden den Menschen, von welchem die Teufel ausgefahren waren, sitzend zu den Füßen Jesu, bekleidet und vernünftig; und sie erschraken. Und die es gesehen hatten, verkündigten's ihnen, wie der Besessene gesund geworden war.“
„Meine Freundin,“ sagte Stepan Trofimowitsch in großer Aufregung, „ savez-vous, diese wunderbare und … ganz merkwürdige Stelle war mir mein ganzes Leben hindurch ein Stein des Anstoßes … dans ce livre … so daß ich diese Stelle noch von meiner Kindheit her im Gedächtnisse habe. Jetzt aber ist mir ein Gedanke gekommen, une comparaison; es kommen mir nämlich jetzt außerordentlich viele Gedanken. Sehen Sie, das ist genau so wie unser Rußland. Diese Teufel, die aus dem Kranken ausfahren und in die Säue fahren, das sind alle die Gifte, all die Miasmen, all die Unreinigkeit, all die großen und kleinen Teufel, die sich in unserm lieben, großen Kranken, in unserm Rußland, seit Jahrhunderten, seit Jahrhunderten angesammelt haben. Aber der große Gedanke und der große Wille werden ihm von oben her zu Hilfe kommen wie jenem sinnlosen Besessenen, und all jene Teufel werden von ihm ausfahren, all die Unreinigkeit, all die Nichtswürdigkeit, die faulend seine Oberfläche bedeckt … und sie werden selbst bitten, in die Säue fahren zu dürfen. Ja, vielleicht sind sie schon in diese gefahren! Das sind wir, wir und jene und Peter … et les autres avec lui, und ich bin vielleicht der erste an ihrer Spitze, und wir werden uns sinnlos und rasend vom Felsen ins Meer werfen und alle ertrinken, und das ist auch unser verdientes Los; denn zu etwas anderm sind wir nicht zu gebrauchen. Aber der Kranke wird gesund werden und ‚zu den Füßen Jesu sitzen‘ … und alle werden ihn mit Erstaunen ansehen … Meine Liebe, vous comprendrez après; aber jetzt regt mich das zu sehr auf … Vous comprendrez après … Nous comprendrons ensemble.“
Er fing an zu phantasieren und verlor schließlich das Bewußtsein. So verging auch der ganze folgende Tag. Sofja Matwejewna saß neben ihm und weinte; sie hatte schon die dritte Nacht fast gar nicht geschlafen und vermied es, sich vor den Wirtsleuten blicken zu lassen, die, wie sie ahnte, bereits etwas ins Werk setzten. Ihre Erlösung erfolgte erst am dritten Tage. Am Morgen kam Stepan Trofimowitsch zu sich, erkannte sie und streckte ihr die Hand hin. Sie bekreuzte sich hoffnungsvoll. Er wollte gern durch das Fenster sehen.
„Tiens, un lac,“ sagte er. „Ach, mein Gott, ich hatte ihn noch gar nicht gesehen …“
In diesem Augenblicke fuhr vor der Tür des Bauernhauses polternd eine Equipage vor, und im Hause entstand ein geschäftiges Hin- und Herlaufen.