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iii

Das war Warwara Petrowna selbst, die in einem viersitzigen, vierspännigen Wagen mit zwei Dienern und mit Darja Pawlowna angekommen war. Dieses Wunder war auf ganz einfache Weise zustande gekommen. Anisim, der vor Neugier starb, war nach seiner Ankunft in der Stadt gleich am folgenden Tage in Warwara Petrownas Haus gegangen und hatte der Dienerschaft erzählt, er habe Stepan Trofimowitsch allein in einem Dorfe getroffen, nachdem ihn vorher Bauern auf der großen Landstraße allein und zu Fuß gefunden hätten; jetzt sei er in Gesellschaft Sofja Matwejewnas über Ustjewo nach Spasow abgefahren. Da Warwara Petrowna ihrerseits sich bereits furchtbar beunruhigte und, soweit es möglich war, nach ihrem entlaufenen Freunde Nachforschungen hatte anstellen lassen, so wurde ihr sofort über Anisim Meldung gemacht. Nachdem sie ihn angehört und ihn besonders eingehend über die Abfahrt nach Ustjewo in ein und derselben Britschke mit einer gewissen Sofja Matwejewna zusammen hatte berichten lassen, machte sie sich im Handumdrehen fertig und fuhr eilig auf der frischen Fährte selbst nach Ustjewo. Von seiner Krankheit hatte sie noch keine Kenntnis.

Es erscholl ihre strenge, gebieterische Stimme; selbst die Wirtsleute bekamen Angst. Sie ließ nur anhalten, um zu fragen und sich zu erkundigen, da sie überzeugt war, daß Stepan Trofimowitsch schon längst in Spasow sei; als sie nun erfuhr, daß er noch hier sei und krank liege, kam sie in großer Aufregung ins Haus.

„Nun, wo ist er denn? Ah, das bist du!“ rief sie, als sie Sofja Matwejewna erblickte, die gerade in diesem Augenblicke auf der Schwelle des zweiten Zimmers erschien. „An deinem schamlosen Gesichte habe ich gleich gesehen, daß du das bist. Hinaus, Nichtswürdige! Mach sofort, daß du aus dem Hause kommst! Jagt sie hinaus; sonst werde ich dafür sorgen, meine Werteste, daß man dich lebenslänglich ins Gefängnis sperrt. Einstweilen soll sie in einem andern Hause in Gewahrsam gehalten werden. Sie hat schon einmal in der Stadt im Gefängnis gesessen und wird auch wieder sitzen. Ich ersuche dich, Wirt, niemanden hereinzulassen, solange ich hier bin. Ich bin die Generalin Stawrogina und nehme das ganze Haus für mich in Beschlag. Du aber, meine Verehrteste, wirst mir für alles Rechenschaft ablegen.“

Die bekannten Töne ließen Stepan Trofimowitsch zusammenfahren. Er fing an zu zittern. Aber schon trat sie zu ihm hinter die Halbwand. Ihre Augen funkelten; sie stieß mit dem Fuße einen Stuhl heran, ließ sich darauf nieder, warf den Kopf gegen die Lehne zurück und rief Dascha zu:

„Geh vorläufig hinaus und bleib bei den Wirtsleuten! Was ist das für eine Neugier? Und mach die Tür fest hinter dir zu!“

Eine Zeitlang sah sie ihm schweigend und mit dem Blicke eines Räubers in das erschrockene Gesicht.

„Nun, wie geht es Ihnen, Stepan Trofimowitsch? Haben Sie einen hübschen Spaziergang gemacht?“ sagte sie dann plötzlich mit grimmiger Ironie.

„Chère,“ stammelte Stepan Trofimowitsch fassungslos, „ich habe das wirkliche russische Leben kennen gelernt … Et je prêcherai l'Évangile …“

„O Sie schamloser, undankbarer Mensch!“ schrie sie auf einmal und schlug die Hände zusammen. „Nicht genug, daß Sie mich so blamiert haben, mußten Sie auch gleich solche Beziehungen anknüpfen … O Sie alter, schamloser Wüstling!“

„Chère …“

Die Stimme versagte ihm; er konnte kein Wort herausbringen, sondern sah sie nur erschrocken mit weitgeöffneten Augen an.

„Was ist die für eine?“

„C'est un ange … C'était plus qu'un ange pour moi; sie hat die ganze Nacht … Oh, schreien Sie nicht; erschrecken Sie sie nicht, chère, chère …“ Er bekam einen Ohnmachtsanfall.

Warwara Petrowna sprang mit Gepolter vom Stuhle in die Höhe und schrie erschrocken: „Wasser, Wasser!“ Er kam zwar bald wieder zu sich; aber sie zitterte immer noch vor Angst und blickte blaß in sein entstelltes Gesicht: erst jetzt begann sie den Ernst seiner Krankheit zu ahnen.

„Darja,“ flüsterte sie dieser schnell zu, „laß sofort einen Arzt holen, Dr. Salzfisch; Jegorowitsch soll gleich hinfahren; er soll hier Pferde mieten und zur Rückfahrt von der Stadt einen anderen Wagen nehmen. Sag ihm, er müsse zur Nacht wieder hier sein.“

Dascha eilte davon, um den Auftrag auszuführen. Stepan Trofimowitsch hatte immer denselben erschrockenen Blick aus den weitgeöffneten Augen; seine blaßgewordenen Lippen zitterten.

„Gedulden Sie sich nur ein Weilchen, Stepan Trofimowitsch; gedulden Sie sich nur, Täubchen!“ redete sie ihm zu wie einem kleinen Kinde. „Na, so gedulden Sie sich doch, gedulden Sie sich; Darja kommt ja gleich wieder und … Ach Gott, Wirtin, Wirtin, komm du wenigstens her, Mütterchen!“

In ihrer Ungeduld lief sie zur Wirtin hin.

„Sofort, augenblicklich soll diese Frauensperson wieder zurückgerufen werden. Holt sie wieder her, holt sie wieder her!“

Zum Glück hatte sich Sofja Matwejewna noch nicht vom Hause entfernt, sondern war eben erst mit ihrem Sack und ihrem Bündel aus dem Tor getreten. Man holte sie zurück. Sie war so erschrocken, daß ihr sogar die Hände und die Beine zitterten. Warwara Petrowna packte sie am Arm, wie der Habicht ein Hühnchen, und zog sie ungestüm zu Stepan Trofimowitsch hin.

„Na, da haben Sie sie! Aufgefressen habe ich sie nicht. Sie dachten wohl, ich würde sie auffressen?“

Stepan Trofimowitsch ergriff Warwara Petrownas Hand, führte sie an seine Augen und brach in Tränen aus. Er schluchzte schmerzlich und krampfhaft.

„Na, beruhigen Sie sich, beruhigen Sie sich, mein Täubchen, na, Väterchen! Ach, mein Gott, so be-ru-hi-gen Sie sich doch!“ schrie sie aufgebracht. „Oh, Sie sind mein Peiniger, mein Peiniger, lebenslänglich mein Peiniger!“

„Liebes Kind,“ stammelte endlich Stepan Trofimowitsch, sich zu Sofja Matwejewna wendend, „gehen Sie ein Weilchen dorthin; ich möchte hier ein paar Worte reden …“

Sofja Matwejewna beeilte sich sofort hinauszugehen.

„Chérie … chérie …“ sagte er, schwer atmend.

„Warten Sie noch mit dem Sprechen, Stepan Trofimowitsch; warten Sie noch ein bißchen, bis Sie sich erholt haben! Da ist Wasser. So warten Sie doch!“

Sie setzte sich wieder auf den Stuhl. Stepan Trofimowitsch hielt sie fest an der Hand. Lange Zeit erlaubte sie ihm nicht zu reden. Er zog ihre Hand an seine Lippen und küßte sie. Sie preßte die Zähne aufeinander und blickte irgendwohin in eine Ecke.

„Je vous aimais!“ stieß er endlich hervor. Nie hatte sie von ihm ein solches Wort und in dieser Weise ausgesprochen gehört.

„Hm!“ brummte sie zur Antwort.

„Je vous aimais toute ma vie … vingt ans!“

Sie schwieg immer noch, zwei, drei Minuten lang.

„Aber als Sie sich für Dascha angeputzt und mit Parfüm besprengt hatten …“ sagte sie auf einmal, in schrecklichem Tone flüsternd. Stepan Trofimowitsch wurde ganz starr.

„Auch ein neues Halstuch hatten Sie sich umgebunden …“

Wieder ein Stillschweigen, das zwei Minuten dauerte.

„Denken Sie wohl noch an die Zigarre?“

„Meine Freundin,“ murmelte er undeutlich in seinem Schrecken.

„An die Zigarre, abends, am Fenster … der Mond schien … nach dem Gespräche in der Laube … in Skworeschniki? Erinnern Sie sich, erinnern Sie sich?“ Sie sprang von ihrem Platze auf, faßte sein Kopfkissen an den beiden oberen Ecken und schüttelte es mitsamt seinem Kopfe. „Denken Sie wohl daran, Sie hohler, hohler, schändlicher, kleinmütiger, lebenslänglich hohler Mensch?“ zischte sie in ihrem wütenden Flüstertöne, indem sie sich Gewalt antat, um nicht zu schreien. Endlich ließ sie ihn wieder fahren, sank auf den Stuhl zurück und verbarg das Gesicht in den Händen. „Genug davon!“ sagte sie abbrechend und richtete sich auf. „Zwanzig Jahre sind dahingegangen; die bringt man nicht wieder zurück. Auch ich bin eine Törin gewesen.“

„Je vous aimais,“ sagte er noch einmal und faltete die Hände.

„Aber wozu sagen Sie mir immer aimais und aimais! Hören Sie auf damit!“ rief sie und sprang wieder auf. „Und wenn Sie nicht jetzt gleich schlafen, so werde ich … Sie haben Ruhe nötig; schlafen Sie, schlafen Sie sofort; machen Sie die Augen zu! Ach, mein Gott, er möchte vielleicht etwas zum Frühstück essen! Was möchten Sie essen? Was kann er wohl essen? Ach, mein Gott, wo ist die? Wo ist sie?“

Sie wollte schon alles in Bewegung setzen. Aber Stepan Trofimowitsch flüsterte mit schwacher Stimme, er wolle wirklich schlafen, une heure, und dann un bouillon, un thé … „Enfin je suis si heureux!“ Er legte sich hm und schien tatsächlich einzuschlafen (wahrscheinlich stellte er sich nur so). Warwara Petrowna wartete eine kleine Weile und verließ dann auf den Zehen den abgebuchteten Raum.

Sie setzte sich in das Zimmer der Wirtsleute, jagte die Wirtsleute selbst hinaus und befahl Dascha, „jene Frauensperson“ zu ihr zu bringen. Nun begann ein strenges Verhör.

„Erzähle jetzt, mein Kind, alles ganz genau; setz dich neben mich, so! Nun?“

„Ich traf Stepan Trofimowitsch …“

„Halt, schweig! Ich will dir noch vorher sagen: wenn du mir etwas vorlügst oder verschweigst, so sollst du dein ganzes Leben lang vor mir keine ruhige Stunde haben. Nun?“

„Ich traf Stepan Trofimowitsch … als ich nach Chatowo gekommen war …“ begann Sofja Matwejewna, die nur mühsam atmete …

„Halt, schweig, warte mal! Warum so hastig? Erstens: was bist du selbst für ein Vogel?“

Die Bücherverkäuferin erzählte ihr, so gut es gehen wollte, übrigens in möglichster Kürze, einiges über sich selbst, wobei sie mit Sewastopol anfing. Warwara Petrowna hörte schweigend zu, indem sie gerade aufgerichtet auf ihrem Stuhle saß und mit strengem, unverwandtem Blicke der Erzählerin gerade in die Augen sah.

„Warum bist du denn so ängstlich? Warum siehst du auf die Erde? Ich habe es gern, wenn man mich gerade ansieht und sich nicht scheut, mit mir zu streiten. Fahre fort!“

Sie erzählte von der Begegnung, von den Büchern, und wie Stepan Trofimowitsch die Bauerfrau mit Branntwein regaliert habe.

„So ist's recht, so ist's recht! Laß auch die kleinsten Einzelheiten nicht aus!“ sagte Warwara Petrowna ermunternd. Zuletzt erzählte sie, wie sie weggefahren waren, und wie Stepan Trofimowitsch in einem fort geredet habe; „er war schon ganz krank“, und wie er ihr hier seine ganze Lebensgeschichte vom allerersten Anfange an mehrere Stunden lang erzählt habe.

„Erzähle von seinem Leben!“

Sofja Matwejewna stockte auf einmal und wurde ganz verlegen.

„Davon verstehe ich nichts zu erzählen,“ erwiderte sie beinahe weinend, „und ich habe auch beinah nichts davon begriffen.“

„Du lügst! Es ist unmöglich, daß du nichts begriffen hast.“

„Von einer brünetten, vornehmen Dame erzählte er lange,“ berichtete Sofja Matwejewna tief errötend; übrigens bemerkte sie, daß Warwara Petrowna blondes Haar hatte und jener Brünette absolut unähnlich war.

„Von einer Brünette? Was erzählte er denn? Nun, sprich!“

„Diese vornehme Dame sei in ihn sehr verliebt gewesen, das ganze Leben lang, zwanzig Jahre hindurch; aber sie habe immer nicht gewagt sich zu entdecken und habe sich vor ihm geschämt, weil sie schon sehr korpulent gewesen sei.“

„Der Dummkopf!“ sagte Warwara Petrowna nachdenklich, aber kurz und entschieden.

Sofja Matwejewna weinte nun schon vollständig.

„Ich verstehe das nicht ordentlich zu erzählen, weil ich selbst in großer Angst um ihn war und nicht begreifen konnte, was er sagte, da er ein so kluger Mann ist …“

„Ob er klug ist, darüber hat ein so dummes Frauenzimmer wie du kein Urteil. Hat er dir seine Hand angeboten?“

Die Erzählerin fing an zu zittern.

„Hat er sich in dich verliebt? Sprich! Hat er dir seine Hand angeboten?“ schrie Warwara Petrowna.

„Beinah kam es so heraus,“ erwiderte jene weinend. „Aber ich hielt das alles nicht für Ernst, wegen seiner Krankheit,“ fügte sie hinzu und schlug mit festem Blicke die Augen in die Höhe.

„Wie heißt du, mit Vor- und Vatersnamen?“

„Sofja Matwejewna.“

„Nun, so wisse denn, Sofja Matwejewna, daß dies das kläglichste, hohlste Menschlein ist … O Gott, o Gott, du hältst mich wohl für eine nichtswürdige Person?“

Die andere riß erstaunt die Augen auf.

„Für eine nichtswürdige Person, für eine Tyrannin, die ihm das Leben verdorben hat?“

„Wie könnte ich so etwas denken, da Sie doch selbst weinen!“

Warwara Petrowna hatte wirklich die Augen voll Tränen.

„Nun, setz dich, setz dich, fürchte dich nicht! Sieh mir noch einmal in die Augen, gerade in die Augen; warum bist du so rot geworden? Dascha, komm einmal her und sieh sie an: was meinst du, hat sie ein reines Herz? …“

Und zu Sofja Matwejewnas Erstaunen, vielleicht sogar zu ihrem noch größeren Schreck, klopfte sie ihr plötzlich auf die Backe.

„Schade nur, daß du eine Närrin bist. Närrischer, als man es nach deinem Lebensalter erwarten sollte. Nun gut, liebes Kind; ich werde für dich sorgen. Ich sehe, daß das alles dummes Zeug ist. Wohne einstweilen hier in der Nähe; es soll eine Wohnung für dich gemietet werden, und auch Beköstigung sowie alles andere wirst du von mir erhalten … mittlerweile werde ich mich näher nach dir erkundigen.“

Sofja Matwejewna stotterte erschrocken, sie müsse ihre Reise baldigst fortsetzen.

„Du brauchst nirgend hinzureisen. Deine Bücher kaufe ich dir alle ab; bleib du nur hier! Schweig, ohne Widerrede! Wenn ich nicht gekommen wäre, hättest du ihn ja doch nicht verlassen?“

„Nein, um keinen Preis hätte ich ihn verlassen,“ erwiderte Sofja Matwejewna leise in festem Tone und wischte sich die Tränen ab.

Doktor Salzfisch kam erst spät in der Nacht. Er war ein sehr achtbarer alter Herr und ein recht erfahrener Praktiker, der kürzlich bei uns wegen einer Verletzung seines Ehrgefühls mit seiner vorgesetzten Behörde in Streit geraten war und infolgedessen seine amtliche Stellung verloren hatte. Gleich von dieser Zeit an hatte Warwara Petrowna ihn aus aller Kraft zu protegieren begonnen. Er untersuchte den Kranken sorgfältig, stellte die nötigen Fragen und eröffnete der ungeduldig harrenden Warwara Petrowna, der Zustand des Patienten sei infolge einer eingetretenen Komplikation der Krankheit sehr bedenklich, und man müsse sich sogar auf das Schlimmste gefaßt machen. Warwara Petrowna, die sich in zwanzig Jahren völlig in den Gedanken hineingelebt hatte, in nichts, was von Stepan Trofimowitsch persönlich ausgehe, könne etwas Ernstes und Entscheidendes enthalten sein, war tief erschüttert; sie wurde sogar blaß.

„Ist wirklich keine Hoffnung mehr?“

„Man kann nicht sagen, daß absolut keine Hoffnung mehr wäre, aber …“

Sie legte sich die ganze Nacht nicht schlafen und konnte kaum den Morgen erwarten. Sobald der Kranke die Augen aufschlug und zu sich kam (er war zu jener Zeit noch bei Bewußtsein, wiewohl er von Stunde zu Stunde schwächer wurde), trat sie mit sehr entschlossener Miene zu ihm:

„Stepan Trofimowitsch, man muß auf alles vorher bedacht sein. Ich habe nach dem Geistlichen geschickt. Sie haben eine Pflicht zu erfüllen …“

Da sie seine Überzeugungen kannte, so fürchtete sie sehr eine Weigerung. Er sah sie erstaunt an.

„Unsinn, Unsinn!“ rief sie, da sie meinte, er weigere sich bereits. „Jetzt ist nicht die richtige Zeit für leichtfertige Streiche. Sie haben genug Torheiten getrieben.“

„Aber … bin ich etwa schon so krank?“

Er willigte nachdenklich ein. Und überhaupt erfuhr ich später von Warwara Petrowna mit großem Erstaunen, daß er sich vor dem Tode gar nicht gefürchtet habe. Vielleicht glaubte er einfach nicht an die Nähe desselben und hielt seine Krankheit immer noch für unbedeutend.

Er beichtete und kommunizierte sehr bereitwillig. Alle, auch Sofja Matwejewna und sogar die Diener, kamen, um ihm zum Empfange des heiligen Abendmahles Glück zu wünschen. Alle ohne Ausnahme weinten still beim Anblicke seines abgemagerten, welken Gesichtes und seiner blassen, zuckenden Lippen.

„Oui, mes amis, und ich wundere mich nur, daß Sie sich soviel Mühe und Sorge machen. Morgen werde ich wahrscheinlich aufstehen, und wir … werden wegfahren … Toute cette cérémonie … vor der ich natürlich alle gebührende Achtung habe … war …“

„Ich bitte Sie, Väterchen, jedenfalls bei dem Kranken zu bleiben,“ sagte Warwara Petrowna zu dem Geistlichen, der bereits seinen Ornat abgelegt hatte, um fortzugehen. „Sobald Tee gebracht wird, bitte ich Sie, jedenfalls ein religiöses Gespräch zu beginnen, um seinen Glauben zu stärken.“

Der Geistliche sagte zu; alle saßen oder standen um das Bett des Kranken herum.

„In unserer sündigen Zeit“, begann der Geistliche, mit der Teetasse in der Hand, in gleichmäßigem Tone, „ist der Glaube an den Allerhöchsten die einzige Zuflucht des Menschengeschlechtes in allen Leiden und Nöten des Lebens; und ebenso ist die zuversichtliche Hoffnung auf die den Gerechten verheißene ewige Seligkeit …“

Stepan Trofimowitsch schien wieder ganz lebhaft zu werden; ein feines Lächeln spielte auf seinen Lippen.

„Mon père, je vous remercie, et vous êtes bien bon, mais …“

„Gar kein mais, überhaupt kein mais!“ rief Warwara Petrowna, von ihrem Stuhle auffahrend. „Väterchen,“ wandte sie sich an den Geistlichen, „das, das ist ein solcher Mensch, das ist ein solcher Mensch … nach einer Stunde wird er noch einmal beichten müssen! Sehen Sie, so ein Mensch ist das!“

Stepan Trofimowitsch lächelte ruhig.

„Meine Freunde,“ sagte er, „Gott ist schon darum für mich notwendig, weil dies das einzige Wesen ist, das man lebenslänglich lieben kann …“

Ob er in Wirklichkeit gläubig geworden war, oder ob die erhabene Zeremonie der Vollziehung des Sakramentes ihn ergriffen und die künstlerische Empfänglichkeit seiner Natur angeregt hatte, mag dahingestellt bleiben; aber er sprach in festem Tone und, wie man sagt, mit vielem Gefühl einige Worte, die in direktem Widerspruch zu vielem standen, wovon er früher überzeugt gewesen war.

„Meine Unsterblichkeit ist schon deswegen mit Notwendigkeit anzunehmen, weil Gott nicht ein Unrecht begehen und das einmal in meinem Herzen entbrannte Feuer der Liebe zu Ihm nicht wird ganz auslöschen wollen. Und was ist kostbarer als die Liebe? Die Liebe steht höher als das Dasein; die Liebe ist die Krone des Daseins, und wie wäre es möglich, daß das Dasein ihr nicht untertan sein sollte? Wenn ich Ihn liebgewonnen und mich über meine Liebe gefreut habe, ist es da möglich, daß Er mich und meine Freude auslöschen und uns in ein Nichts verwandeln sollte? Wenn Gott existiert, so bin auch ich unsterblich! Voilà ma profession de foi.“

„Gott existiert, Stepan Trofimowitsch; ich versichere Ihnen, daß Er existiert,“ sagte Warwara Petrowna in flehendem Tone. „Wenn Sie doch wenigstens einmal im Leben all Ihre Dummheiten aufgeben und von sich werfen wollten!“ (Sie hatte, wie es scheint, seine profession de foi nicht ganz verstanden.)

„Meine Freundin,“ sagte er, immer lebhafter werdend, obgleich ihm die Stimme häufig versagte, „meine Freundin, da ich diese Geschichte von der darzubietenden Backe verstanden habe, so habe ich zugleich auch noch einiges verstanden. J'ai menti tonte ma vie, mein ganzes, ganzes Leben lang! Ich möchte gern … übrigens morgen … Morgen werden wir alle wegfahren.“

Warwara Petrowna fing an zu weinen. Er suchte jemand mit den Augen.

„Da ist sie, hier ist sie!“ sagte sie, indem sie Sofja Matwejewna an der Hand nahm und zu ihm führte. Er lächelte gerührt.

„Oh, ich möchte gern wieder leben!“ rief er mit einem starken Anschwellen der Energie. „Jede Minute, jeder Augenblick des Lebens muß dem Menschen Glückseligkeit sein … unfehlbar Glückseligkeit sein! Das so einzurichten, ist die eigene Pflicht des Menschen; das ist sein Gesetz, ein verborgenes, aber mit Sicherheit existierendes Gesetz … Oh, ich würde gern Peter noch einmal sehen … und sie alle … auch Schatow!“

Ich bemerke, daß über Schatow noch niemand etwas wußte, weder Darja Pawlowna noch Warwara Petrowna, nicht einmal Salzfisch, der zuletzt aus der Stadt gekommen war.

Stepan Trofimowitsch regte sich in krankhafter Weise immer mehr auf, mehr als ihm gut war.

„Schon der stete Gedanke daran, daß etwas unermeßlich viel Gerechteres und Glücklicheres existiert als ich, erfüllt mein ganzes Wesen mit unermeßlicher Rührung und — mit einem unermeßlichen Hochgefühl, oh, wer ich auch immer gewesen sein und was ich auch immer getan haben mag! Weit notwendiger als das eigene Glück ist es für den Menschen, zu wissen und jeden Augenblick daran zu glauben, daß es irgendwo bereits für alle und jeden ein vollkommenes, ruhiges Glück gibt … Das ganze Gesetz des menschlichen Daseins besteht nur darin, daß der Mensch sich immer vor etwas unermeßlich Hohem beugen kann. Wenn man die Menschen des unermeßlich Hohen beraubt, so werden sie nicht am Leben bleiben, sondern in Verzweiflung sterben. Das Unermeßliche und Unendliche ist dem Menschen ebenso notwendig wie der kleine Planet, auf dem er wohnt … O meine Freunde, Sie alle, alle: es lebe der Große Gedanke! Der ewige, unermeßliche Gedanke! Jeder Mensch, wer er auch sei, muß sich vor der Tatsache beugen, daß der Große Gedanke existiert. Sogar für den dümmsten Menschen ist wenigstens irgend etwas Großes ein notwendiges Lebensbedürfnis. Peter … Oh, wie gern möchte ich sie alle wiedersehen! Sie wissen nicht, sie wissen nicht, daß auch in ihnen derselbe ewige Große Gedanke verborgen liegt!“

Doktor Salzfisch war bei der heiligen Handlung nicht zugegen gewesen. Als er jetzt eintrat, bekam er einen Schreck und trieb die Versammlung auseinander, indem er darauf bestand, der Kranke müsse vor Aufregung bewahrt werden.

Stepan Trofimowitsch verschied drei Tage darauf, aber bereits in völliger Bewußtlosigkeit. Er erlosch still wie ein zu Ende gebranntes Licht. Warwara Petrowna ließ das Totenamt für ihn an Ort und Stelle halten und überführte dann den Körper ihres armen Freundes nach Skworeschniki. Sein Grab befindet sich auf dem die Kirche umgebenden Friedhöfe und ist bereits mit einer Marmorplatte bedeckt. Die Anbringung einer Inschrift und die Aufstellung eines Gitters sind bis zum Frühjahr verschoben.

Warwara Petrownas Abwesenheit aus der Stadt dauerte im ganzen acht Tage. Mit ihr zusammen, neben ihr im Wagen sitzend, kam auch Sofja Matwejewna an, um, wie es scheint, für immer bei ihr zu wohnen. Ich bemerke, daß, sowie Stepan Trofimowitsch das Bewußtsein verloren hatte (was noch an demselben Vormittage geschah), Warwara Petrowna sofort Sofja Matwejewna wieder entfernte, ganz aus dem Hause hinaus, und den Kranken persönlich und allein bis zu seinem Ende pflegte, daß sie sie aber, sowie er den Geist aufgegeben hatte, wieder herbeirief. Sofja Matwejewna war über den Vorschlag (richtiger: Befehl), für immer nach Skworeschniki überzusiedeln, sehr erschrocken; aber Warwara Petrowna wollte auf keine Einwendungen hören.

„Das ist lauter dummes Zeug! Ich werde selbst mit dir zusammen Neue Testamente verkaufen gehen. Ich habe jetzt niemand mehr auf der Welt.“

„Sie haben ja doch noch Ihren Sohn,“ bemerkte Salzfisch.

„Ich habe keinen Sohn!“ erwiderte Warwara Petrowna kurz, — und das war gewissermaßen eine Prophezeiung.