I. Nietzsche bei seiner Berufung nach Basel
Zwei Vorurteile sind es, die der klaren Erfassung von Nietzsches Basler Professorenzeit noch immer im Wege stehen: Die Ansicht, er sei nach Basel als überzeugter Schopenhauerianer, desgleichen als überzeugter klassischer Philologe gekommen. Beide diese Irrtümer wurden am nachdrücklichsten von Vaihinger »Nietzsche als Philosoph«, Berlin 1902, verbreitet. Dort heißt es einmal: »Nietzsches Lehre ist positiv gewendeter Schopenhauerianismus und diese Umwendung Schopenhauers geschah unter dem Einfluß des Darwinismus«, sodann als Folgerung, »Nietzsche gehörte zum Geschlecht jener Renaissancehumanisten, welche dem Christentum den Untergang der antiken Kultur nicht verzeihen können, die im Herzen noch die alten Götter verehrten«. Gegen beide Irrtümer muß mit aller Energie Front gemacht werden. Es ist unschwer zu beweisen, daß Nietzsche niemals eigentlich Schopenhauerianer gewesen ist, sondern sich den Schopenhauerianismus immer nur eingeredet hat; daß er auch niemals klassischer Philologe aus Überzeugung, und ganz und gar auch nicht die Konsequenz davon, Humanist, gewesen ist. Der »Humanismus«, mit dem man Nietzsches Antichristentum entschuldigen und abschwächen möchte (auch Schlaf: »Der Fall Nietzsche. Eine Überwindung« Leipzig 1907, nennt Nietzsche einen Humanisten, den »letzten Humanisten«), setzt, um das gleich vorwegzunehmen, einen unbedingten, um nicht zu sagen bornierten Glauben an die Autorität jener Alten voraus, Nietzsche selbst aber wendet sich gelegentlich gegen Altertum und Christentum zugleich mit den Worten [W. X, S. 403]: »Es müssen philosophische Köpfe darüber kommen und einmal die Gesamtabrechnung des Altertums vorlegen. Sobald diese vorliegt, so wird es überwunden sein. Man ist viel zu sehr mit allem Fehlerhaften, das uns quält, vom Altertum abhängig, als daß man es noch lange mild behandeln wird. Die ungeheuerste Frevel tat der Menschheit, daß das Christentum möglich werden konnte, ist Schuld des Altertums. Mit dem Christentum wird auch das Altertum abgeräumt werden.«
Bleibt: Der »Schopenhauerianer« und der »klassische Philologe«.
Zunächst: Wie kam Nietzsche dazu, Philologe zu werden? Es gab dafür einen äußeren und einen inneren Grund. Der erstere bestand darin, daß Nietzsche nach dem Wunsche der Familie die Theologie studieren sollte, daß es aber dieserhalb von Bonn aus, seiner ersten Universität, mit den Seinen zu Auseinandersetzungen kam [Briefe an Mutter und Schwester, V 1, S. 93]. Da fiel, wenn überhaupt ein Brotstudium ergriffen werden sollte, der klassisch-philologische Charakter der Pfortenser Fürstenschule, der Nietzsche angehört hatte, und die dort bewiesene »konjekturale« Begabung Nietzsches ausschlaggebend ins Gewicht. Zum zweiten verlangte Nietzsche damals, wie er in seinem Lebenslauf von 1869 [Biogr. 1, S. 211] mitteilt, »nach einem Gegengewicht« gegen gewisse »wechselvolle und unruhige bisherige Neigungen, nach einer Wissenschaft, die mit kühler Besonnenheit, mit logischer Kälte, mit gleichförmiger Arbeit gefördert werden könnte, ohne mit ihren Resultaten gleich ans Herz zu greifen. Dies alles aber glaubte ich damals in der Philologie zu finden.« An derselben Stelle bekennt er: »Erst in der letzten Zeit meines Pförtnerlebens gab ich, in richtiger Selbsterkenntnis alle künstlerischen Lebenspläne auf, in die so entstandene Lücke trat von jetzt ab die Philologie.« Und später [Biogr. I, S. 303]: »Der Weg, auf dem ich zur Philologie gekommen bin, liegt gleichweit ab von dem der praktischen Klugheit und des niedrigen Egoismus als von dem, auf welchem die begeisterte Liebe zum Altertum die Fackel voranträgt. Dies Letztere auszusprechen, ist nicht leicht, aber es ist ehrlich.« Daß jene »künstlerischen Lebenspläne« bestanden, gegen die er sich die Disziplin der Philologie verschrieb, ist gewiß. Daß die Philologie sie nicht gänzlich zu unterdrücken vermochte, steht für die nächsten Jahre ebenso fest. Noch im Oktober 1864 schreibt er auf der Reise nach Bonn an Mutter und Schwester [Briefe V 1, S. 62]: »Meine Anschauungen über Volksleben und Sitten bereichern sich täglich. Ich merke auf alles, auf Eigentümlichkeit des Essens, der Beschäftigung, der Feldwirtschaft u.s.w.« Das ist ein spezifisch poetisches Interesse. Als er mit seinem Lehrer Ritschi von Bonn nach Leipzig übersiedelt, schreibt er an Freund Gersdorff [4. 8. 1865, Biogr. I, S. 222]: »Ich gehe nun zwar nicht nach Leipzig, um dort nur Philologie zu treiben, sondern ich will mich wesentlich in der Musik ausbilden. Dazu habe ich in Bonn schlechterdings keine Gelegenheit.« Für seine ganze Universitätszeit (Bonn und Leipzig, 1864-1869) bezeichnend sind die Berufszweifel und Verstimmungen. Er ist Theologe (»Meine Studien waren mit Energie auf die philologische Seite der Evangelienkritik und der neutestamentlichen Quellenforschung gerichtet.« [Biogr. L, S. 209]. Er ist verzweifelter Dichter und Komponist (sein Bonner Burschenschaftsvers:
»Tragödien und Romanzen, dran er sich sehr ergötzt,
Hat Gluck [sein Frankonia-Name] viel komponieret und in Musik gesetzt.«)
Er studiert Politik und Nationalökonomie (in Bonn Kolleg bei dem Abgeordneten Sybel [Briefe V i. S. 72], in Leipzig Lektüre der Bismarckschen Reden [Briefe I, an Gersdorff vom 16. 2. 1868], Kolleg bei Röscher »Grundlagen der praktischen Politik als Einleitung in die gesamte Staats- und Rechtswissenschaft« [Biogr. I, S. 276] und Studium von I. E. Jörgs »Geschichte der sozialpolitischen Parteien in Deutschland« [Briefe I, an Gersdorff, vom 16. 2. 1868]. Im Geheimsten empfindet er sich zugleich als Philosophen. Wenigstens vernünftelt er in seinen zahlreichen damaligen Aufzeichnungen über alle möglichen Gegenstände, schreibt an Rohde [Briefe II, 3. 4. 1868] von dem Einfall, »auch einmal philosophisch zu promovieren und so meiner Studentenkarte in Bonn und Leipzig noch nachträglich zu ihrem Rechte zu verhelfen; ich bin nämlich immer als stud. philos. spazieren gegangen.«, plant eine Dissertation »Über den Begriff des Organischen seit Kant« [Briefe II, an Rohde, 4. 5. 1868], und ist unterm Einfluß von F. A. Langes »Geschichte des Materialismus« eben im Begriff, mit Freund Rohde »gemeinsam Chemie zu studieren und Philologie dorthin zu werfen, wohin sie gehört, zum Urväterhausrat« [Biogr. I, S. 298], als auf die Empfehlung seines philologischen Lehrers Ritschi der Ruf zur Professur kommt. Berufszweifel und Enttäuschungen sind es, die ihn der Philologie in die Arme treiben.
Wie kommt er zu Schopenhauer? Auf dem selben Wege. Bereits 1862 [Biogr. I, S. 320] versucht er, sich mit einem »Vorwurf über verfehlte Lebensbestimmung« abzufinden. In den Notizbüchern Herbst 1867 bis 1868 [Biogr. I, S. 282] lautet ein Aphorismus ›Philologie und Sittlichkeit‹: »In der Methode: Aufgeben des Egoismus, der subjektiven Launen und Neigungen etc. gemeinsam mit jeder wissenschaftlichen Beschäftigung.« Im »Rückblick auf meine zwei Leipziger Jahre 17. Okt. 65 bis 10. Aug. 67.« [Biogr. I, S. 231 f.] resümiert er: »Verstimmungen und Verdrießlichkeiten persönlicher Art pflegen bei jungen Leuten leicht einen allgemeineren Charakter anzunehmen. Ich hing gerade damals mit einigen schmerzlichen Erfahrungen und Enttäuschungen [es sind keine anderen als die erwähnten bekannt] ohne Beihilfe einsam in der Luft, ohne Grundsätze, ohne Hoffnungen, und ohne eine freundliche Erinnerung. . . . Nun vergegenwärtige man sich, wie in einem solchen Zustande die Lektüre von Schopenhauers Hauptwerk wirken mußte. — Hier war jede Zeile, die Entsagung, Verneinung, Resignation schrie, hier sah ich einen Spiegel, in dem ich Welt, Leben und eigen Gemüt in entsetzlicher Großartigkeit erblickte.«
Man überzeuge sich danach, was es mit diesem Schopenhauerianismus auf sich hatte. Er konnte weggeworfen werden, sobald Nietzsche nur zu dem Gefühl seiner persönlichen Lebensbestimmung und zu den Mitteln zu deren Realisierung gelangt war. Nietzsche hat sich damals mit der »Welt als Wille und Vorstellung« in verschiedenen Skizzen und Studien [»Fragment einer Kritik der Schopenhauerschen Philosophie«, »Gedanken zu Schopenhauer als Schriftsteller«, »Über Ethik« etc., Biogr. I, S. 328-355] auseinandergesetzt.
Das Wichtigste daraus ist, daß gerade die Schopenhauersche Hauptlehre von der erlösenden Kraft der Leiden kräftig ad absurdum geführt wird. In der Skizze »Über Ethik« heißt es: »Zugegeben z. B. daß die Lehre Schopenhauers, doch auch wohl des Christentums, von der erlösenden Kraft der Leiden wahr ist, so wäre es eine Sorge für das ›allgemeine Wohl‹, die Leiden nicht zu mindern, ja vielmehr zu mehren, nicht für sich, sondern für andere. An dieser Grenze wird die praktische Ethik häßlich, ja konsequente Menschenquälerei.« Er lehnt also gerade die Schopenhauersche Leidensspekulation ab, und mit ihr schon damals also eigentlich auch den Pessimismus und die Moral Schopenhauers. Was ihn anzog, war, wie er ein andermal äußerte, »die ethische Luft, der faustische Duft«, Schopenhauers Pathos, nicht sein Glaube (»unsere Jugend warf sich auf den Kultus . . . der schwärzesten, herbsten Auffassung der Welt«, W. IX, S. 119). Er hat dann auch in seinem Erstlingswerk (»Geburt der Tragödie«) seinen wirklichen Lehrern Burckhardt und Wagner mit jeder Zeile, seinem vermeintlichen Lehrer Schopenhauer mit keiner ein Denkmal gesetzt.
Es kann also weder von einer überzeugten Philologie noch von einem dezidierten Schopenhauerianismus die Rede sein. Was Nietzsche nach Basel mitbrachte, war vielmehr ein gerade aus dem freiesten Studium der heterogensten Kunst- und Wissenszweige hervorgegangenes Kulturwissen. Dieselbe Vielseitigkeit, dieselbe Zerfahrenheit, derselbe Dilettantismus (wie man will), die er als ein Streben nach »Universalwissen« schon als Knabe bekämpfte; die ihn verhinderten, mit sich ins Klare zu kommen; die ihn zur Zwangsjacke der Philologie als nach einer bewußten Einseitigkeit greifen ließen, werden nun zur Voraussetzung dessen, was ihn in Basel erwartete: Die Kultur, als die Einheit aller künstlerischen und wissenschaftlichen Bestrebungen; die Kultur als seine Aufgabe, sein Beruf, seine Muse und Lebensbestimmung. Wie Nietzsche auf Basels altem Kulturboden unterm Einfluß Jacob Burckhardts, unterm ganz besondern Einfluß Richard Wagners sich rasch in großartigster Weise zum Kulturdenker entwickelte und seinen Begriff des Philosophen als eines Reformators konzipierte, sei das Thema der nächsten Abschnitte. —