Die Reise nach Dresden
1
Dresden selbst: Gelbe Blätter, ganze Kanarienvogelschwärme, fliegen durch die Luft. Blaue Herbstsonne explodierend. Gelbe, rote, grüne Parkanlagen in Frost gepackt. Ein Zeltlager von Meßbuden und Jahrmarktsplunder. Ein Geknatter grünroter Fahnen im Munizipalviertel: Jahrhundertfeier der Befreiungskriege. Abgesprungene Hosenknöpfe in der Elektrischen (o Lebenslust und Daseinsfreude!) Im Cafe de Paris spielen sie »Wer will unter die Soldaten?« (o Sachsenvolk, Knopfmacher und Lebkuchenhändler!). Grazilbarock steigt das Antlitz der Stadt schwarz und phantastisch mit Türmen, Glocken und Brücken in den mondstrahlenen Abendhimmel.
2
Eine Depesche ist angeschlagen: »Möge das Denkmal ihm erzählen, wie in dieser Stunde Deutsche und Russen, Oesterreicher, Ungarn und Schweden ihre Kniee beugen vor Gott dem allmächtigen Lenker der Weltgeschichte und zu ihm beten, daß er uns den Frieden erhalte zum Wohle unseres deutschen Volkes, zum Wohle der Staaten und Fürsten, die mir die große Freude bereiten, meiner Einladung zu folgen.«
(König Friedrich August von Sachsen.)
Darunter ein Wetterbericht:
»Erhaltung des bestehenden Wetters nur auf etwa 24 Stunden noch wahrscheinlich«.
Auch hat der Geheime Hofrat Thieme (Vorsitzender des deutschen Patriotenbundes) eine Rede geschwungen folgenden initii:
»Eure königliche Majestät,
deutsche Brüder, deutsche Schwestern;
Wir treten in Beten vor Gott den Gerechten!«
Sie müssen nämlich wissen: man hat in Leipzig ein Befreiungsfeierleierundschwertdenkmal aufgereckt. Aere perennius für die Jahrhunderte. »Man«, d. h.: Die Teutschen, die Napoliumstöter, Schwitzer, Volksbeschäler und Traktätchenmacher. »Man«, das heißt: Die Jahrhundertfeirer des panischen Schrecks vor dem Ingenium. Die Biedermeier des in Masse auftretenden Sitzfleischs. — Wohinein treten sie? Sie treten in Beten. Vor Gott den Gerechten.
3
Im Richterschen Kunstsalon haben ein paar Futuristen ausgestellt: Umberto Boccioni, Carlo D., Carra, Luigi Russolo, Gino Severini. Wenige Bilder in kleinem Raum. Explosionen, Erdbeben, Anarchistenschlacht, Wahnsinn, tellurische Mystik. Wo Häuser gemalt werden, stürzen sie über- und durcheinander, schießen sie senkrecht in den Abgrund. Wo der Auswurf der roten Lyriker seinen Janitscharentumult gegen »Wohlstand« und Schlendrian richtet (wie in Russolos »Revolution«) oder eine Kavallerieattacke über Anarchisten hinwegtobt (wie in Carras »Beerdigung des Anarchisten Galli«), sausen, brennen und schwirren Kraftlinien durch das Bild, die das Gehirn anspringen, die das Blut aufpeitschen zu Fisteltönen. Man versteht diese Bilder nicht. Gott sei Dank! Alles wollen sie verstehen; um es loszuwerden. Diese Bilder zwingen das absolut Verrückte in Erscheinung. Man schreit vor Angst und Entsetzen. Diese Bilder sind das Innerste, Erschütterndste, Grandioseste, Unfaßbarste, das seit Menschengedenken gemacht worden ist. Daß sie zu Dutzenden zugleich auftreten, ist das erstaunlichste, fürchterlichste Phänomen, das sich denken läßt. Diese (Bilder) in ihrer losbrechenden ungeheuren Dynamik, ihrer Kraftstrahlenherrlichkeit, ihrer geheimen elektrischen Vibration und Radioaktivität verkünden die Revolution der Unterminierung, der ekstatischen Krankheit, die sich nach Ausbruch sehnt; die Nervenfächer und Rhythmusfelder des Todes, des Lichts, der Dynamos und der Uratome. Eingefangene psychische Telefunken zetern, schreien und kreisen in zinnobergrünem Getöse. Bewegung der Spermatozoen alles Seins ist festgehalten. Urkraft effulguriert in singenden Linien. Aktiv gewordene zerfetzte Körper tanzen, Lichtgranaten in platzender Wut, Sinfonien und Schwaden von Blut und Gold. Schwangere Himmel und ejakulierte Fixsterne. Rotglühende Männer und aufbrüllende Sklaven, Wahnsinn und Umsturz: atemberaubende heulende Dinge, die kommen werden, die kommen werden.
4
In Hellerau die Lichtwunder des Herrn von Salzmann. Und man fragt sich: Warum läßt man das Kino hier keine Landschaftsbilder werfen? Herrn von Salzmanns Lichtprinzip in allen Ehren (es ist eine Errungenschaft). — Aber das ist der Fehler in Hellerau: Man sieht nichts, vor lauter Licht. Was soll ich auf der Bühne mit dif- oder konfusem Licht anfangen, reinem bloßem filtriertem abstraktem Licht, wenn mir Verhältnisse, Milieus, Stuben, Wälder und Gärten vorgeredet werden? Zu Beginn ist eine Morgenstimmung. Klosterglocken und Ave Maria. Violäne verabschiedet einen aussätzigen Dombaumeister. Die Sonne kommt, ein Tor springt auf. Morgenfülle ein seliger Strom (ahnt man). Aber es ist kein Tau und kein Reif, kein Himmel und keine Lerche, kein Obstbaum und keine süß hinkniende Landschaft. Es ist eine Leinewand und Licht darauf. Und hinten oben (in der flüggen Festhalle möcht man sprechen) sitzt der Maschinenmeister und macht es. Oder: ein Trupp Wegbaugesellen in der Weihnacht. Sie haben ein Feuer mit Kienspänen angefacht. Schnee brandet an Tannenbäumen hinauf, die Aussatzklapper geht um. Da sieht man einen violetten Aufbau von Treppen und Podien, ein vierecketes Loch zu einer Grablegung Christi, und Säulen domhaft, die einen Wald symbolisieren (man könnte auch einen Wald aufstellen und sagen, er symbolisiere einen Dom). Oder: Jacobäus der Bauer, Peter von Ulm und Andreas Gradherz der Zurückgekehrte von Jerusalem, sitzen im herbstlichen Garten. Hinter ihnen die Feste Marienberg. Und pflegen der Melancholie. Wo ist das Goldfunkeln von Ast zu Ast und die Last niedersausender Äpfel? Wo ist die Lothringische Trauben- und Wingertglut über Mauern, Eidechsen und Felsen herunter? Nichts davon. Drei Männer von Dirk Bouts sitzen selbdritt auf dem Eselsrücken der Abstraktion und reiten dahin mit verzweifelten Gesten. (Herr Ebert reitet am schönsten.) Wäre der heilige Wille nicht fühlbar, sie sänken selbdritt ins Wasserloch der Lächerlichkeit. Man wird den Gedanken nicht los: Dilettantenverein blaue Tulpe. Alles schön und gut: aber die Illusion ist das Leben und die Lust und die Erotik in bezug auf das Ganze. Sie läßt sich nicht verabschieden zugunsten des platonischen »Lichts«. Irrtum: daß man glaubte, Rembrandt habe Licht — Finsternis gemalt. Aber er hat Bürgermeister, Türken, Juden und Kreuzabnahmen gemalt.
Reinhardt wird das Stück in Berlin inszenieren. Da wird die deutsche Schauspielkunst ihre ganze Ekstase zusammennehmen müssen. In Hellerau hatten die Köpfe ersten Ranges abgesagt. Schauspieler mit Taxe, Schwung und Rachen-Ch können das aber nicht machen; die einzige Mary Dietrich als Narzissenwunder »Violäne« entfaltete lieblichste, simpelste Emotion. Bewahre der Herr den Dichter und das wogende wellende gütige Stück vor mirakulöser Monstranzlichkeit in Berlin.