Wedekind als Schauspieler


(Juni 1914)

 

I

Es wird die Zeit kommen, wo es zur Bildung gehört, auch Schauspieler sein zu können. Wo die Schauspielerei gewissermaßen als Sport betrieben wird, so gut wie alle übrigen Bildungszweige: Wissenschaft, Religion, Gedichtemachen, Redenhalten. Ein Mann von Körper und Geist wird sich nicht mehr blamieren dürfen, wenn man ihn fragt, wo er zuletzt aufgetreten ist. Solche Zeiten werden lächeln, wenn sie hören, daß es für uns ein Thema war, ob Wedekind Schauspieler ist oder nicht. Schauspieler ist jeder, der öffentlich auf eine Bühne oder ein Podium tritt, um sich (coram publico) zum Besten zu geben. Verwandlungskunst ist belanglos, seit wir (geistig) allesamt Schauspieler wurden. Wir haben's selbst; wir suchen's nicht mehr auf der Bühne. Wir suchen im Theater keine Seelenwanderung mehr; wir suchen Personagen: Neue Körper. Neue Seelen. Wir kommen uns Schauspieler ansehen, wie Sokrates zur Herodote kommt: Neugierig. Nicht auf das Stück. Sondern auf den Kerl; sondern auf das Weib oder Weibchen. Wir wollen ein neues Stück Mensch wahrnehmen, eine terra nova incognita. Es ist uns piepe, ob jemand, der Herr Schulze ist, auch Herr Müller sein kann. Oder ob Frl. Schmidt sich in Frl. Huber verwandelt. Wir pfeifen drauf. Wir wollen neue Beine. Neue Hüften. Neue Köpfe. Neue Struktur Leibes und der Seele.

 

II

Als Frank Wedekind auf die Bretter trat: Donnerwetter! Die anderen sahen neben ihm aus wie ein Kegelspiel, das im Umfallen ist. Sie waren einfach nicht mehr da. Es gab uns einen Riß. Wir fühlten: Voilà! Das ist er! Seine Stücke waren bewiesen. Hatten auf einmal Existenz. Zwielebigkeit zwischen Dichter und Werk ward Einheit. Sein Atem glühte. Sein Tempo hackte. Fanatismus brachte ein Vibrieren auf die Bühne, wie nur noch der Tänzer Nijinski es bringt. Da standen drei Kerle in einer Person: ein Zelot, ein Dichter und ein Tribun. Seine Angelegenheit, die vorher eine solche der Theaterkanzleien und Verlagsbüros gewesen war, sprang in die Öffentlichkeit. Was vorher Schreibsal war, ward Lebsal. Fluchte, blutete, tobte, schrie: uns und der staatlichen, gesellschaftlichen, religiösen, moralischen Autorität ins Gesicht hinein. Schauspieler werden hieß für ihn: sich ein öffentliches Leben schaffen; Agitation für sich und die Sache, Auseinandersetzung deutlichste, Brust an Brust mit denen, denen es galt. Das gab ihm eine Unmittelbarkeit, die ein »Berufsschauspieler« nicht erreichen kann, weil er immer nur Mittler bleibt. Wedekinds Manco: Die Kunst (d.h. Beherrschung) der Invektiven. Bombenwerfen wird demnächst moderner sein und ihn verdrängen.

 

III

Ein Schauspiel, grausam wie Harakiri (wird man sagen): Es schlitzte sich einer die Seele auf. Zerstörte die Wand zwischen innen und außen. (»Scham« genannt.) Zwischen öffentlich und privat. Zerriß und zerfetzte sich selbst. Barbarismus. Flagellantentum. Und lud uns als Zuschauer ein. Fluchte sadistisch, spie Witze und Hohn. Und immer der Verstand, der hinrichtende Verstand. Gotische Berserkerei in diesem Sichselbst-Entblößen; unerhört. (Erinnert euch an »Zensur«, als er den Buridan spielte, eines Tages. »Der Clown Wedekind«. Das Lachen blieb euch in der Kehle stecken. Oder als er den Hetmann spielte: Donquichote im Reich der Idee ward jetzt erst Bild.)

 

IV

Nicht daß er immer ergriffen hätte. Er hypnotisiert. Er hat den Krampf im Gehirn. Den Krampf (im Körper). Den Krampf (in der Kehle), in den Beinen. Auch in den –. Holzschnitt ist alles: grob und eckig und ohne Übergang. Dachskulptur der Kathedralen von Reims und Amiens. Holzwerk von Riemenschneider. Es knarrt, wenn er schreitet. Er krächzt, wenn er spricht. Seine Nase ist steil und kühn. Wenn er auf der Straße der Elektrischen begegnet, zwingt er sie auszuweichen. Mißtrauisch, gereizt, verlegen. Oder taktlos, brutal, sarkastisch. Naiv wie ein Ponny und tobsüchtig wie ein Narr.

 

V

Was wird mit seinen Stücken geschehen, wenn er einmal seinen Posten quittiert? Wer soll den Hetmann spielen? Wer den Veit Kunz? Wer den Lindekuh? Die glatte Hälfte, die Agitation, der Trommelschlag, fällt weg. Es ist der Sinn dieser Dramen, daß er sie selbst vorbringt. Die Steinrücks und Kayßlers sind zuguterletzt Kayßlers und Steinrücks, aber keine Wedekinds. Warum? Weil sich Jaurès und Briand und Churchill vertreten, aber nicht ersetzen lassen. Weil seine dramatische Idee die der Dramatik des öffentlichen Lebens ist und ihre letzte Gestalt erst findet, wenn er selbst sie verficht. Er ist (immer vom Spezifischen gesprochen) nicht abzutrennen von seiner Idee. Er steht auf der Bühne: drei Worte, und all sein Verfolgungswahn ist plausibel: Unterdrückte Vitalität, gereizt, entlädt sich in aufreizendem Widerspruch.

 

VI

Andere können gar nicht genug von ihm lernen. Sein Zweck ist die Sache. Sein Mittel die Sachlichkeit. Logik (die man ihm merkwürdigerweise abgesprochen hat) seine Methode. So spielt er (seine) Stücke. Ohne viel Gestus. Ohne viel Mimik und Maske. Er macht nicht Theater. Er besetzt es, nimmt es in Beschlag. Dabei ist es ihm peinlich um Theatralik zu tun (als Regisseur). Es muß oben beständig etwas los sein. Er kennt die Gesetze, mit denen man fesselt, und wendet sie an mit großer Sorgfalt. Lernet von ihm, wie man Realitäten bringt. Wie man auf den Füßen steht. Wie man da ist. Neben ihm ist alles nur wackelndes Postament.

 

VII

Er ist Abschluß einer Epoche. Prägnanz im Superlativ. Rationalistisch-logisch kann man nur mit Prägnanz sein (und umgekehrt). Er steht da als das Ende der Moral, als die verkörperte Moralidiosynkrasie dieser letzten Epoche. Aus ist's. Moral (samt ihrer Negation: Amoral) wird binnen kurzem kein Gegenstand mehr sein. Nur mehr Farbfleck. Ihr (Dramatiker!), die ihr euch mit der Gesellschaft befaßt, hört auf! Der Schauspieler Wedekind, populär geworden, macht allem übrigen Gesellschaftsstück den Garaus. Drückt es an die Wand. Erledigt es. Ihr könnt keine Gesellschaftsstücke mehr schreiben, ohne in seine Stapfen zu treten. Neues, oder ihr seid seine Epigonen!

 

VIII

Reminiszenz: Wie er in Franziska hereinkommt als Sternenlenker Veit Kunz! Sackerment! Durchs Fenster und in die Knie knickt und im Halbkreis läuft! Phänomenal! Sein obligatorischer Satanismus (der Bürger verlangt das) – Kinderschreck. Wir amüsieren uns über das Ponny. Wir lächeln, wenn er Hinkefuß macht. Aber dieser schwarze spiritus rector, der durchs Fenster kommt und im Kreise läuft, das ist der Teufel im Kasten. Nicht unterzukriegen. Der Deckel springt auf: schon streckt er den Kopf hervor.

 

IX

Er ist voller Schalk und Schabernack, Arabeske und Schilderei. Das Akrobatentum hat er wiederentdeckt – für die Bühne der Zukunft. Er berührt die Japaner; das urtümliche Volksgaudi; die Schwertschlucker, Seiltänzer und Purzelbaumschläger. Man wird ihn ausarbeiten. Er fliegt und reitet, schwebt an den Kniekehlen in der Luft (meiner Treu). Es ist sein größter Vorteil, daß er (in jungen Jahren) mit dem Zirkus reiste.


 © textlog.de 2004 • 24.11.2024 05:38:06 •
Seite zuletzt aktualisiert: 01.05.2008 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright   Theater, Kunst und Philosophie  Geschichte und Politik