IV. Nietzsche als Immoralist
Neben den hohen ästhetischen Interessen Nietzsches läuft bei ihm von Jugend an das stärkste kritische Vergnügen an theologischen Fragen (theologisch im prinzipiellen Sinne, nicht im Sinne der Spezialwissenschaft). Mit 13 Jahren beschäftigt ihn »das Problem vom Ursprung des Bösen«. Er widmet ihm sein »erstes literarisches Kinderspiel« und löst das Problem, indem er Gott »die Ehre ... als Vater des Bösen« gibt [W. VII, S. 289-290]. Er erdenkt sich dazu [W. XIV, S. 347] eine wunderliche Dreieinigkeit: Gott-Vater, Gott-Sohn und Gott-Teufel und »mein Schluß war, daß Gott sich selber denkend, die zweite Person der Gottheit schafft, daß aber, um sich selber denken zu können, er seinen Gegensatz denken mußte, also schaffen mußte. Damit fing ich an zu philosophieren.«
Auf der Fürstenschule über der Lektüre von Schillers »Räubern« erscheinen ihm die Charaktere »fast übermenschlich, man glaubt einen Titanenkampf gegen Religion und Tugend zu sehen« [Biogr. I, S. 120]. Die Moral nennt er damals schon sehr richtig »die Summe aller Wahrheiten für unsere Welt« [Biogr. I, 315], und in einer mit zwei Freunden gegründeten wissenschaftlich-schöngeistigen Vereinigung »Germania« hält der Sekundaner einen Vortrag »über Fatum und Geschichte«, worin er sich vernehmen läßt: »Es ist vollends eine Vermessenheit, philosophische Probleme lösen zu wollen, über die ein Meinungskampf seit mehreren Jahrtausenden geführt ist: Ansichten umzustürzen, die den Menschen nach dem Glauben der geistreichsten Männer erst zum wahren Glauben erheben: Naturwissenschaft und Philosophie zu einigen, ohne auch nur die Hauptergebnisse beider zu kennen: endlich aus Naturwissenschaft und Geschichte ein System des Reellen aufzustellen, während die Einheit der Weltgeschichte und die prinzipiellen Grundlagen sich dem Geiste noch nicht geoffenbart haben. — Es stehen noch große Umwälzungen bevor, wenn die Menge erst begriffen hat, daß das ganze Christentum sich auf Annahmen gründet.« [Biogr. I, 313 f.] Schon in Bonn sind seine Studien [Biogr. I, S. 210] »mit Erfolg auf die philologische Seite der Evangelienkritik und der neutestamentlichen Quellenforschung gerichtet. Ich bildete mir nämlich damals noch ein, daß die Geschichte und ihre Erforschung imstande sei, auf gewisse religiöse und philosophische Fragen eine direkte Antwort geben zu können.« [Biogr. I, S. 314] In den »Gedanken über das Christentum« (Ende 1865 oder Anfang 1866) wird die Abtrennung der Moral vom Theismus durch Schopenhauer akzeptiert und eine Feststellung der Konsequenzen versucht: »der ungeheure Denkfehler, Theismus und Moralität zu identifizieren, wird in den Händen der Priester zum zweischneidigen Schwerte. — Anmaßliches Vordrängen in alle Verhältnisse, in Schule, Staat und Kunst, Machtsprüche, geschleudert gegen Gründe, ungemessenes Selbstgefühl der Priester als solcher an die die Seligkeit der Menschen geknüpft ist.« [Biogr. I, S. 329] etc. etc. Die Aufzeichnungen des Schülers und Studenten wimmeln von Notizen und Reflexionen über Theismus, Moral, Gott-, Priester- und Christentum. Er scheint das Nachdenken über diese Gegenstände schon als Sproß eines Pfarrhauses und »Abkömmling ganzer Geschlechter von Theologen« für seine Domäne zu halten. Als in der Bonner Zeit Straussens »Leben Jesu« neu erscheint, verwarnt er seinen Theologiekameraden Deussen [Deussen a. a. O., S. 20]: »Die Sache hat eine ernste Konsequenz; wenn du Christus aufgibst, wirst du auch Gott aufgeben müssen.« In Basel belobt er Schopenhauer dafür, daß dieser (durch seine Asketen-, Heiligen-, Leidens- und Erlösungsspekulationen) erstlich wieder den ganzen Umfang des mittelalterlichen Christentums zur Sprache gebracht hatte. (»Was die Religion war, ist vergessen gewesen« [über Schopenhauer W. X. S. 302]). Indessen vermochte Nietzsche doch mit seinen Negationsversuchen (»ich habe alles zu leugnen versucht«) nicht recht ins Große und Reine zu kommen, und auch das mag zu den Verstimmungen und Verzweiflungen beigetragen haben, die ihn in Leipzig bei Schopenhauer Zuflucht finden ließen. Da fällt ihm um die Wende von 1867 auf 1868 ein Buch in die Hände, dessen Bedeutung für ihn nur noch mit dem Einfluß Wagners verglichen werden kann. Es ist Friedrich Albert Langes »Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart«. Er berichtet an Gersdorff [Briefe I vom 16. 2. 1868]: »Wenn du Lust hast, dich vollständig über die materialistische Bewegung unserer Tage, über die Naturwissenschaften mit ihren Darwinschen Theorien, ihren kosmischen Systemen, ihrer belebten Camera obscura etc. zu unterrichten, sogleich auch über den ethischen Materialismus, über die Manchestertheorie etc. so weiß ich dir immer nichts Ausgezeichneteres zu empfehlen, als die ›Geschichte des Materialismus‹ von Friedrich Albert Lange, Iserlohn 1866, ein Buch, das unendlich mehr gibt, als der Titel verspricht, und das man als einen wahren Schatz wieder und wieder anschauen und durchlesen mag.« Was sich aus dieser Notiz entnehmen läßt, scheint zu nicht viel mehr zu berechtigen als zu der Feststellung, wie sie sich bei Möbius (dem einzigen, der außer dem material- und geistreichen, aber unsystematischen Bernoulli überhaupt den Einfluß von Langes Buch bemerkt hat) findet [»Das Pathologische bei Nietzsche«, S. 20], daß Nietzsche 1868 einen gewissen Abschluß der positivistischen Studien erreicht zu haben scheint." Ich glaube indessen beweisen zu können, daß Nietzsche hier 1.) jenes »Wissen« fand und jene »Einheit der Weltgeschichte«, die ihm zu einer Übersicht über seine antitheologischen Interessen fehlten und die er in jenem Germania-Vortrag so schmerzlich ersehnte; 2.) daß sich ihm hier der antitheologische Standpunkt zu einer Angelegenheit entfaltete von höchster historischer Tragweite und Modernität, zu einer Angelegenheit, die zugleich eine Befreiung der älteren griechischen Philosophie ins Gefolge bekam; 3.) daß Nietzsche hier seine philosophischen Vorgänger in Lehrer und in Widersacher zu scheiden Veranlassung nahm, sowie daß sich seine philosophiegeschichtliche Bedeutung und Rangierung nicht eher bestimmen läßt, als bis der Einfluß Langes in seinem ganzen Umfang untersucht und festgestellt ist.
Auch von der Beschäftigung mit Lange her sind Skizzen in Nietzsches Nachlaß enthalten. Besonders zwei gehören hierher. Die eine ist betitelt: »Über Demokrit« [Biogr. I, S. 338 ff.] und stammt aus der Zeit zwischen 1867 und 1868). Nietzsche betont darin: »Wir begnügen uns einstweilen mit dem reichen Nebenertrag dieser skeptischen Studien. Durch dieselben ist nämlich eine große Masse latentes Altertum aufgedeckt worden.« Die andere Skizze ist überschrieben: »Die Teleologie seit Kant« [Biogr. I, S. 352 ff.], stammt vom Frühjahr 1868 und sollte sich, wie bereits erwähnt, zu einer regelrechten Dissertation »Über den Begriff des Organischen seit Kant« auswachsen [Briefe II, vom 4. 5. 1868]. Aus dieser letzteren Aufzeichnung zitiere ich nur die folgenden zwei Stellen: 1.) »Die Beseitigung der Teleologie hat einen praktischen Wert, es kommt nur darauf an, den Begriff einer höheren Vernunft abzulehnen, so sind wir schon zufrieden.« 2.) »Die Voraussetzung ist, daß das Lebendige aus Mechanismus entstehen könne, das leugnet Kant.« Nietzsche lehnt also in den beiden Skizzen mit Demokrit, dem Vater des atomistischen Materialismus und gegen Kant, den Vertreter der modernen Philosophie, die Teleologie ab, als die Annahme einer Weltvernunft, und um dieses Problem dreht sich Nietzsches Interesse an Langes Buch. Das Entscheidende dabei ist nicht, daß Nietzsche bei Lange die Geschichte der Philosophie als eine solche des Materialismus und der Naturwissenschaften zu sehen bekam, das Entscheidende ist vielmehr, daß Materialismus und Naturwissenschaft zusammengefaßt als die Wissenschaft in weltgeschichtlichem Kampf mit einer teleologisch-theologischen Weltinterpretation als ihrem eigentlichen Gegner erschien. Bei Lange [4. Auflage 1882, S. 3] war der Satz zu lesen: »Mit Beginn des konsequenten Denkens ist aber auch ein Kampf gegeben gegen die traditionellen Annahmen der Religion.« Dieser Satz stand in demselben grundlegenden Kapitel, das von Demokrit (dem Nietzsches Skizze galt) und Empedokles handelte, Nietzsches späterem Lieblingsphilosophen und Tragödienhelden, der das Organisch-Zweckmäßige, den Stützpunkt der Teleologie, in der Gesamtunvernunft als Zufall geschaut und der als religiöser Reformator geendet hatte. Hier bei Lange fand Nietzsche die Theorien des Sokrates, Plato und Aristoteles als eine unwissenschaftliche Reaktion gegen die gott- und vernunftlose Weltauffassung des griechischen Materialismus und Sensualismus behandelt und nahm von diesem Standpunkt aus wohl jetzt schon, nicht erst unter Wagners Einfluß in Basel, Stellung zugunsten der Vorsokratiker. Von dieser sokratischen Reaktion aber hieß es bei Lange: »Die Reaktion kämpfte mit Fanatismus für eine Teleologie, welche auch in ihren glänzendsten Formen doch nur den platten Anthropomorphismus verhüllt und deren radikale Beseitigung die unerläßliche Bedingung alles wissenschaftlichen Fortschrittes ist.« [a. a. O., S. 38] Über Sokrates selbst stand zu lesen: [a. a. O., S. 48] »Das eigentliche Prinzip dieser (seiner) Weltanschauung aber ist das Theologische.«34) Von Lange datiert es sich her, wenn Nietzsche noch am 16. 11. 1887 an Freund Deussen schreibt: »Vielleicht ist dieser alte Plato mein eigentlicher großer Gegner?« [Deussen, a. a. O., S. 93]. Bei Lange orientierte er sich über Darwin, dessen 1863 deutsch erschienenes Buch »Entstehung der Arten durch geschlechtliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der bevorzugten Rassen im Kampf ums Dasein« das alte empedokleische Problem von der Entstehung des Organisch-Zweckmäßigen aus der Unvernunft in entschieden großartiger Weise wieder aufgenommen und zu bedenken gegeben hatte.
Die Beweisstücke befinden sich in den Basler Aufzeichnungen nach der »Geburt der Tragödie« (ins Jahr 1868 fällt die Lektüre Langes, 1869 siedelt Nietzsche nach Basel über). Als der Extrakt aus Demokrit erscheint jetzt: »Die Welt ist ganz ohne Vernunft und Trieb, zusammengeschüttelt. Alle Götter und Mythen unnütz.« [W.X, S. 224] Und Demokrit gilt ihm als »der freieste Mensch.« [X, S. 135] Von Empedokles heißt es [W. X, S. 99]: »Es genügt ihm der einfache Gedanke, daß unter zahllosen Mißformen und Unmöglichkeiten des Lebens auch einige zweckmäßige und zum Leben mögliche Formen entstehen: hier wird die Zweckmäßigkeit des Bestehenden auf den Bestand des Zweckmäßigen zurückgeführt. Diesen Gedanken haben die materialistischen Systeme nie wieder aufgegeben. Jetzt haben wir eine Spezialanwendung in der Darwinschen Theorie«. Was Darwin selbst betrifft, so schneit Nietzsche, als er 1869 nach Basel kommt, mitten in einen damals an der Basler Universität um Darwins ›Zuchtwahl‹ geführten Streit hinein, nimmt fast sämtliche einschlägige Streitschriften daraus in seine Bibliothek auf und schätzt Darwin als »Anstoß zu einer der bedeutendsten wissenschaftlichen Bewegungen.« [Biogr. II, S. 511]. Augenscheinlich zu der 1871 erschienenen »Abstammung des Menschen« und der darin enthaltenen Entwicklungstheorie notiert er sich [W. X, S. 159]: »Die entsetzliche Konsequenz des Darwinismus, den ich übrigens für wahr halte. Alle unsre Verehrung bezieht sich auf Qualitäten, die wir für ewig halten, moralisch, künstlerisch, religiös u.s.w.« Und wenn er [W. XIII, S. 322] sagt: »Früher suchte man Gottes Absichten in der Geschichte, dann eine unbewußte Zweckmäßigkeit, z. B. in der Geschichte eines Volkes, eine Ausgestaltung von Ideen u.s.w. Jetzt erst hat man durch Betrachtung der Tiergeschichte angefangen, den Blick für die Geschichte der Menschheit sich zu schaffen: und die erste Einsicht ist, daß es keinen Plan bisher gab, weder für den Menschen noch für ein Volk; die allergröblichsten Zufälle sind das Gebieterische im Großen gewesen — sie sind es noch«, so könnte auch dieser Aphorismus seiner Herkunft nach schon in Basel konzipiert sein. Die Ablehnung jeder idealistischen Moralphilosophie, die aus Vernunftprinzipien sich herleitet, geht mit Nietzsches Stellungnahme zugunsten der Empedokles, Demokrit und Darwin Hand in Hand. Die Begründer dieser idealistischen Philosophie, Anaxagoras, Sokrates, Plato, erklärt sich Nietzsche aus einem »Unsicherwerden am Gehörigen, am Tüchtigen, an der Pflicht« [W. X, S. 104]; jedenfalls lehnt er sie ab. Den Satz Hegels, »daß überhaupt Vernunft in der Geschichte sei, muß für sich selbst philosophisch und damit als an und für sich notwendig ausgemacht werden«, notiert sich Nietzsche [W. X, S. 275] für die zweite »Unzeitgemäße Betrachtung«, wohl kaum aus einem anderen Grunde, als um ihn dort an den Pranger zu stellen. Die »Hartmannsche Philosophie« ist ihm vollends »die Fratze des Christentums mit ihrer absoluten Weisheit, ihrem jüngsten Tage, ihrer Erlösung usw.« [W. X, S. 283]. Diese ganze »Seins«-Philosophie, die mit Vernunftprinzip und Begriff die Welt festlegen will, sucht Nietzsche durch Gegenüberstellung der »Werdens«-Philosophie des Heraklit aufzuheben, von der er rühmt: »Die Welt braucht ewig die Wahrheit, also braucht sie ewig Heraklit« [W. X., S. 46], und [W. X, S. 47] hervorhebt: »das, was er schaute, die Lehre vom Gesetz im Werden und vom Spiel in der Notwendigkeit, muß von jetzt ab ewig geschaut werden: er hat von diesem größten Schauspiel den Vorhang aufgezogen.« Derselbe Heraklit ruft bei Nietzsche aber auch aus: »Die Welt ist ein Spiel, nehmts nicht zu pathetisch, und vor allem nicht moralisch.« [W. X, S. 43] Ich stelle nun die Frage: Wie, wenn Nietzsche in Basel unter Konvention der Innerlichkeit gegenüber neben dem dionysosfeindlichen Sokratismus (siehe »Die Geburt der Tragödie«) den gesamten theistisch-moralisch-christlichen Religionsbegriff verstanden hätte? Wenn er jede moralische Weltinterpretation, jeden Gottesbegriff als kosmisches Prinzip, das Gesetze vorschreibt, jede moralische Bändigung abgelehnt, und rücksichtslos einzig die ästhetische Weltauffassung, die es mit der freien Natur und deren Bändigung allein durch die Kunst zu tun hat, als seinen Ernst, seine vereinfachende Neuerung, seine Voraussetzung der »Einheit des deutschen Geistes« verstanden hätte? Historisch etwa so: Kant nimmt die Gottheit als Postulat und leitet die Moral davon ab. Schopenhauer, der Atheist, köpft Gott aus der Welt hinaus und nimmt die Moral als Postulat. Nietzsche, der Immoralist, beseitigt auch noch die Moral und postuliert ein freies Spiel der Natur zugunsten der Kunst und der Selbstbestimmung des Individuums? Dann müßten sich für Basel vor allem »Die Geburt der Tragödie« und das Verhältnis zu Wagner in diesen Zusammenhang heben und letztlich darin erklären lassen.
Nun, nur in bezug auf den heraufbeschworenen Gegensatz von ästhetischer und moralischer Weltauffassung konnte Nietzsche später [W. VIII, S. 174] »Die Geburt der Tragödie« als seine »erste Umwertung aller Werte« bezeichnen, und was Wagner betrifft, so steht er in antitheologischer, atheistischer Hinsicht damals für Nietzsche neben Lange wie die Praxis neben der Theorie. Dafür ist nicht nur die Äußerung Beleg, daß er gerade »in Wagners Kunst einen Weg zu einem deutschen Heldentum entdeckt zu haben« vermeinte. Wenn Nietzsche damals (W. IX, S. 128) sagte: »Ich glaube an das urgermanische Wort: alle Götter müssen sterben«, so sah er den am »Siegfried« und der »Götterdämmerung« schaffenden Tribschenen Meister den Wotansspeer zerschmettern. Und wenn er später den Verlust Wagners beklagte, so klagte er: »Ich habe ihn geliebt und niemanden sonst. Er war ein Mensch nach meinem Herzen, so un-moralisch, atheistisch, antinomistisch.« [W. XIV, S. 379] Die Belege für Wagners Immoralität bieten sich nicht nur aus »Tristan und Isolde« mit dem berühmten »Ehebruch«, oder aus der »Walküre« mit der »Blutschande« zwischen Siegmund und Sieglinde. Er war wohl in der Tat, wenn er auch später »fromm« wurde, kein moralischer Geist im Rousseau-Schiller-Hebbelschen Sinne. »Die Geburt der Tragödie« ist vollends amoralisch. Nietzsche selbst kommentiert sie 1878 [Biogr. II, S. 90]: »Wie wurmstichisch und durchlöchert das Menschenleben ist, wie ganz und gar auf Betrug und Vorstellung aufgebaut, wie alles Erhebende, wie die Illusionen, alle Lust am Leben dem Irrtum verdankt werden, — und wie insofern der Ursprung einer schlechten Welt nicht in einem moralischen Wesen, vielleicht aber in einem künstlerischen Schöpfer zu suchen sei; wobei ich meinte, daß einem solchen Wesen durchaus keine Verehrung im Sinne der christlichen (welche den Gott des Guten und der Liebe aufstellt) gebühre und sogar die Andeutung nicht scheute, ob dem deutschen Wesen diese Vorstellung, wie sie gewaltsam inokuliert ist, nicht auch gewaltsam wieder entrissen werden könne. Dabei meinte ich in Wagners Kunst einen Weg zu einem deutschen Heidentum entdeckt zu haben, mindestens eine Brücke zu einer spezifisch unchristlichen Welt- und Lebensbetrachtung. Damals glaubte ich, daß die Welt vom ästhetischen Standpunkt als ein Schauspiel von ihrem Dichter gemeint sei, daß sie aber als moralisches Phänomen ein Betrug sei: weshalb ich zu dem Schluß kam, daß nur als ästhetisches Phänomen die Welt sich rechtfertigen lasse.« Dieselbe Amoralität der »Geburt der Tragödie« ist es übrigens, die Nietzsche in Basel mit Schopenhauer in Konflikt bringt, bevor dieser moralistisch auch nur im geringsten auf ihn eingewirkt hatte. So, daß er [W. VII, S. 292] von seiner ersten Veröffentlichung nach Verlassen Basels, »Menschliches, Allzumenschliches«, erklären konnte: »Es handelt sich für mich um den Wert der Moral und darüber hatte ich mich fast allein mit meinem großen Lehrer Schopenhauer auseinanderzusetzen.« Dieser sein »Lehrer« Schopenhauer hatte sich [»Parerga und Paralipomena« Berlin 1862, 1. Bd. S. 144] geradezu angepriesen: »Die moralischen Resultate des Christentums bis zur höchsten Askese, findet man bei mir rationell und im Zusammenhang der Dinge begründet, während sie es im Christentum durch bloße Fabeln sind. Der Glaube an diese schwindet täglich mehr, daher wird man sich zu meiner Philosophie wenden müssen.« Und Nietzsche kann die Bemerkung nicht unterdrücken: »Die asketischen Richtungen sind aufs höchste wider die Natur und meistens nur die Folge der verkümmerten Natur.« [W. IX, S. 77] Bei Schopenhauer fand sich [»Parerga und Paralipomena« 2. Bd., S. 108] der bombenfeste Satz: »daß die Welt eine physische, keine moralische Bedeutung habe, ist der heilloseste Irrtum, entsprungen aus der größten Perversität des Geistes.« und Nietzsche schweigt dazu, notiert sich aber [Biogr. II, S. 193]: »Dühring als den Versuch einer Beseitigung Schopenhauers durchzustudieren, um zu sehen, was ich an Schopenhauer habe, was nicht. Hinterdrein noch einmal Schopenhauer zu lesen.« Wie gegen Theismus und Moral, so wendet sich der Ideenkomplex der »Geburt der Tragödie« auch gegen das Christentum. Im allgemeinen ist Nietzsche überzeugt: »Jetzt ist es geraten, die Reste des religiösen Lebens zu beseitigen, weil sie matt und unfruchtbar geworden sind und die Hingebung an ein eigentliches Ziel abschwächen. Tod dem Schwachen! Gerade weil wir den höchsten energischen Idealismus wollen, können wir die matten Religionsvelleitäten nicht brauchen. Die hindern jetzt, daß der Mensch ganz und gar fertig wird und daß sein Bildungs- oder Kunstziel rein herauskommt. So lange noch die höchste Weltbetrachtung von der religiösen Sphäre usurpiert ist, bleiben die größten Bemühungen und Ziele des Einzelnen unter ihrem Wert, mit Erdgeschmack behaftet.« [W. IX, S. 211] Im Besonderen heißt es Juli 1878 [Biogr. II, S. 311]: »Ich will es nur gestehen, ich hatte gehofft, durch die Kunst könne den Deutschen das abgestandene Christentum völlig verleidet werden, deutsche Mythologie als abschwächend gewöhnen an Polytheismus!« Werke X, S. 400 dekretiert er: »Mit dem Christentum erlangte eine Religion das Übergewicht, welche einem vorgriechischen Zustand des Menschen entsprach: Glaube an Zaubervorgänge in allem und jedem, blutige Opfer, abergläubische Angst vor dämonischen Strafgerichten, Verzagen an sich selbst, ekstatisches Brüten und Halluzinieren, der Mensch sich selber zum Tummelplatz guter und böser Geister und ihrer Kämpfe geworden.« Dann wieder nennt er das Christentum »die ungeheuerste Freveltat der Menschheit« [W. X, S. 403] und spricht »von unseren zerrissenen Zuständen mit einer künstlich eingeimpften Religion. Entweder sterben wir an dieser Religion, oder die Religion an uns.« [W. IX, S. 128]. —
Was Nietzsches Kulturideal einer »Einheit des deutschen Geistes und Lebens nach der Vernichtung des Gegensatzes von Form und Inhalt, von Innerlichkeit und Konvention«, demnach unter »Konvention« verstand, ist evident. Er verstand darunter die gesamte religiöse Kultur im Gegensatz zur ästhetischen, den ganzen Komplex des »Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit« im Gegensatz zur persönlichen Freiheit. Das nächste Ziel aber, das Nietzsche dem »Deutschtum« steckte, sah er nach »Überwindung der Religionsmischung, des Asiatischen« [W. X, S. 6] nach der Annullierung des »Sieges der jüdischen Welt über den geschwächten Willen der griechischen Kultur« [W. IX., S. 83] in seiner »nationalen« Geistesrichtung, zu der er selbst den ersten Anstoß in der »Geburt der Tragödie« durch seine ganze Auffassung der ästhetischen Griechenkultur als der eines Brudervolkes tat, wenn er sich [W. XIV, S. 372] äußerte: »In diesem Buch (›Die Geburt der Tragödie‹) gilt die Überpflanzung eines tief undeutschen Mythus, des christlichen, ins deutsche Herz, als das eigentlich deutsche Verhängnis«. —